Vertrauen in Dokumentationen auf der Streaming-Plattform Netflix

Lotta Krüger

Marburg 2023: Tectum Verlag
Rezensent/-in: Lothar Mikos

Buchbesprechung

Printausgabe mediendiskurs: 28. Jg., 1/2024 (Ausgabe 107), S. 91-91

Vollständiger Beitrag als:

Vertrauen in Netflix-Dokumentationen

Zwar ist Netflix vor allem für Dramaserien wie Bridgerton oder The Crown bekannt, doch haben Dokumentationen ebenfalls einen großen Anteil am Gesamtangebot der Streamingplattform. Einige von ihnen haben öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen wie The Last Dance über die letzte Saison von Michael Jordan, The Accountant of Auschwitz über den Prozess gegen den SS-Offizier Oskar Gröning, die Dokumentationen über Marilyn Monroe und Whitney Houston und nicht zuletzt Harry & Meghan, die von ihnen selbst produziert und Teil ihrer PR-Aktivitäten war.

Die Kommunikationswissenschaftlerin Lotta Krüger setzt sich in ihrer Studie nicht nur mit den Dokumentationen an sich auseinander, sondern hat in einer qualitativen Studie auch Nutzer befragt. Dabei war sie vor allem daran interessiert, herauszufinden, ob die Rezipierenden den Dokumentationen vertrauen oder sie auch kritisch sehen. Die Interviews führte sie mit fünf Frauen und drei Männern, die zwischen 25 und 32 Jahren alt waren und sich zumindest gelegentlich Dokumentationen auf Netflix ansahen (vgl. S. 50). Krüger stellt fest, dass die Netflix-Dokus „stark meinungsgeladen“ sind und „das entsprechende Thema […] aus einer bestimmten Perspektive heraus betrachtet und in ein spezifisches Narrativ eingebettet“ ist (S. 1). Dabei wird es mit den Fakten oft nicht so genau genommen, da eine unterhaltsame Inszenierung im Vordergrund steht. So können manche Dokumentationen eher als Fiktion gesehen werden, wie die Autorin am Beispiel von The Social Dilemma zeigt, einer „Dokumentation“, die einen Zusammenhang zwischen der Verbreitung von sozialen Medien und zunehmenden Suizidraten bei jungen Mädchen herstellt, wobei das u. a. durch die Einbeziehung fiktiver Elemente geschieht. Zudem verbreiten manche Dokumentationen Verschwörungstheorien oder decken scheinbar Vertuschungen von großen Unternehmen oder anderen Institutionen auf. Bei den Dokumentationen auf Netflix zeigt sich deutlich, dass „Grenzen zwischen Information und Unterhaltung verschwimmen“ (S. 3). Die Produzierenden dieser Dokumentationen versuchen jedoch, den Eindruck von Sachlichkeit zu erzeugen, indem sie Studien zum Thema zitieren und die Meinungen von Experten darstellen. Diese Inszenierungsmittel sollen bei den Rezipierenden Vertrauen in die Darstellung erzeugen. Vertrauen im Journalismus ist nach Auffassung der Autorin ein hohes Gut, denn es geht von der Faktengenauigkeit der mitgeteilten Informationen aus. Krüger unterscheidet zwischen dem Vertrauenssubjekt (den Zuschauenden) und dem Vertrauensobjekt (in diesem Fall den Netflix-Dokumentationen). Auf beiden Seiten gibt es Faktoren, die einen Einfluss auf das Vertrauen haben, z. B. Erfahrungen und Meinungen aufseiten der Subjekte und Absichten und Integrität aufseiten der Objekte. Wie sieht es nun mit dem Vertrauen in Netflix-Dokumentationen aus?

Krüger stellt bei ihren Interviews fest, dass das Vertrauen in die Streamingplattform gering ist, weil die Zuschauenden meinen, dass bei Netflix die wirtschaftlichen Interessen im Vordergrund stehen. In Bezug auf die Dokumentationen zeigt sich dann, „dass Netflix mit seinen Dokus die Erwartungen an das Genre – wie etwa Sachlichkeit und Ausgewogenheit – weniger erfülle als die Öffentlich-Rechtlichen“, und das führt zu einem geringen Vertrauen (S. 98 f.). So kritisieren die Befragten „die starke Einseitigkeit und Meinungsgeladenheit“ (S. 85 f.) sowie die starke Fokussierung auf die unterhaltenden Aspekte. Mit Letzterem geht nach Auffassung der Befragten auch eine Unsachlichkeit einher. Sie beobachten bei den Netflix-Dokus „stark normative Narrative und Botschaften, die aus einer bestimmten Perspektive erzählt werden. Andere Sichtweisen auf die entsprechenden Sachverhalte kommen nicht vor oder werden sofort negiert, wodurch die Dokus stark einseitig und meinungsgeladen erscheinen“ (ebd.). Daher zeigen die Befragten eine gewisse Skepsis gegenüber der Auswahl der Fakten und der „Einordnung und Bewertung der gezeigten Informationen“ (S. 100). Der Grund liegt für einige der Befragten auch in der fehlenden Transparenz der Quellen (vgl. S. 87 f.). Krüger bescheinigt den Teilnehmenden ihrer Studie einen hohen Grad an Reflexion, allerdings:

Der Reflexionsprozess setzt also vor allem dann ein, wenn es Grund zur Skepsis und die Vertrauenswürdigkeit der Dokumentation infrage gestellt wird“ (S. 101).

Diese Reflexion findet vor allem statt, wenn die Zuschauenden nicht allein schauen oder sich nach der Rezeption mit anderen über das Gesehene austauschen. Aufgrund ihrer Ergebnisse ordnet die Autorin die Netflix-Dokus „eindeutig dem Phänomen des Infotainments“ zu (S. 106).

Die Studie von Lotta Krüger greift einen wichtigen Aspekt auf: das Vertrauen in Dokumentationen. Da in der Regel Inszenierungsweisen, die in einem Medium, hier Netflix, erfolgreich sind, oft auf andere Medien übertragen werden, werden ihre Ergebnisse zunehmend relevant. Die Frage, inwieweit die einseitigen, meinungsstarken Darstellungen in den Netflix-Dokus möglicherweise auch dazu führen, dass einseitige, polarisierende Meinungen gesellschaftsfähig werden, hätte den Fokus der Arbeit überschritten. Eine gelungene kleine Studie, die auf einen wesentlichen Aspekt der Streamingplattformen aufmerksam macht.

Prof. i. R. Dr. Lothar Mikos