Vertrauen und das Risiko, enttäuscht zu werden
Was hat Sie als Philosoph am Thema „Vertrauen“ interessiert?
Ich fand in der Philosophie immer Ansätze besonders interessant, die nicht so rationalistisch vorgehen wie z.B. manche Formen der Spieltheorie oder der Multiple-Choice-Theorien, in denen das Vertrauen etwas Kalkulierbares darstellt. Ich habe mich eher für nicht kalkulierbare, eher informelle Phänomene in Beziehungen interessiert, z.B. für die feministische Philosophie, die Vertrauen als Bestandteil von Beziehungen zwischen Männern und Frauen, Eltern und Kindern sowie erwachsenen Menschen thematisiert hat. Und das habe ich dann in meinem letzten Buch erweitert und mir verschiedene Felder angesehen. Auch Medien spielen da in Bezug auf Vertrauen eine Rolle, aber auch die Politik oder das Internet.
Gibt es gegenwärtig eine Vertrauenskrise oder erwarten wir einfach mehr Vertrauenswürdigkeit?
Für mich ist beides der Fall. Es gibt eine Vertrauenskrise, die ist aber in meinem Sinne eminent eine Krise unserer Bereitschaft, anderen zu vertrauen:
Wir wollen nicht vertrauen, weil unsere Erwartung an Sicherheit so gewachsen ist.
Die Bereitschaft, mit Enttäuschung oder gebrochenem, enttäuschtem Vertrauen klarzukommen, scheint gesunken zu sein. Die Krise des Vertrauens ist also weniger eine Krise der Vertrauenswürdigkeit, es herrscht vielmehr eine große Skepsis und wir befürchten, dass alle lügen, korrupt, parteiisch oder Lobbyisten sind, man kann ihnen jedenfalls nicht glauben. Mich interessiert die Krise des Vertrauens im Sinne einer Bereitschaft, hinreichend vielen Menschen in verschiedenen beruflichen und privaten Zusammenhängen überhaupt noch zu vertrauen. Das ist ein paradoxes Phänomen: Wir scheinen das Vertrauen zu vermissen und wir reden die ganze Zeit über eine Vertrauenskrise. Dabei sollten wir auch darüber nachdenken, ob nicht oft das Problem in unseren zu hohen Erwartungen liegt.
Vertrauen fängt schon in Liebesbeziehungen an. Eine wichtige Frage ist die nach der Treue.
Das ist typisch für alle Vertrauensbeziehungen: Sie beruhen darauf, dass sie dem anderen auch Spielräume und Freiheiten lassen, die ich nicht kontrolliere oder überwache. Ich vertraue dem anderen etwas an, was mir wichtig ist. Das kann auch meine Intimität, mein Körper, meine Sexualität oder ein Geheimnis sein. Das kann in Liebes- und Freundschaftsbeziehungen verletzt werden, aber auch z.B. in beruflichen Projekten, in denen ein Kollege meine Idee, die ich ihm anvertraut habe, für seine Zwecke einsetzt. Bei privaten Beziehungen ist allerdings die Verletzlichkeit potenziert, weil in Intimbeziehungen oder in Liebesbeziehungen tiefe Gefühle verletzt werden. Das trifft uns also im Kern der Persönlichkeit, sowohl in Bezug auf unsere Gedanken als auch im Hinblick auf unsere ganz privaten Meinungen und Einstellungen, aber auch in der Hinsicht, was unseren Leib, unsere Körperlichkeit, unsere Sexualität angeht. Diese Dimension des Exponiertseins wollen wir in der öffentlichen Welt eher vermeiden. Hier gibt es schon eine gewisse Dramatik des Vertrauensbruchs, die Reaktion ist heftiger als etwa in beruflichen Kontexten, wir sind hier schutzloser. In meinem Buch geht es auch um das sehr schmerzvolle Beispiel von sexuellem Missbrauch von Kindern, von jungen Sportlern oder Turnerinnen durch Trainer oder medizinisches Personal. Diese Kinder hatten alle Gründe, diesen Personen zu vertrauen, weil sie sich als sehr vertrauenswürdig inszeniert hatten. Das Vertrauen wurde dann missbraucht. Wir sagen oft, man solle nicht blind vertrauen, aber das ist manchmal schwer zu vermeiden – schon allein, weil es niemals eine absolute Gewissheit gibt. Das ist ein strukturelles Merkmal meines Vertrauensbegriffs.
Was hat das Vertrauen gegenüber anderen mit Selbstvertrauen zu tun?
Selbstvertrauen ist eine Voraussetzung dafür, anderen zu vertrauen, weil ich die potenzielle Verletzlichkeit, die mit Vertrauen einhergeht, besser aushalte, sowohl in der Prognose, was passieren kann, als auch damit, mit einem möglichen Vertrauensbruch zurechtzukommen. Je mehr ich mir selbst vertraue, desto leichter wird es mir fallen, anderen zu vertrauen. Das ist so eine Art von psychologischer Gesetzmäßigkeit:
Wer sich selbst nicht zutraut, mit Enttäuschungen des Vertrauens umgehen zu können, wird anderen wahrscheinlich in seinem Leben weniger vertrauen, er wird vorsichtiger und kontrollierender sein.
Eine entscheidende Voraussetzung für das Vertrauen zu anderen liegt in der Selbsteinschätzung, inwieweit ich mit einem Vertrauensbruch leben kann. Andererseits kann auch das Vertrauen, das mir jemand schenkt, helfen, selbstbewusster zu werden. Wenn mir jemand etwas Wichtiges anvertraut, dann wachse ich als jemand, der offensichtlich als ein Mensch anerkannt wird, dem man vertrauen kann – und das hat einen hohen Wert.
In der Psychologie wird in letzter Zeit über Helikoptereltern debattiert, die ihren Kindern keine Freiräume mehr lassen. Geht es hier um einen Mangel an Vertrauen oder um die Angst, dass den Kindern etwas passieren könnte? Und was hat Vertrauen mit Angst zu tun?
Ich glaube, das hängt zusammen. Die Neigung, seine Kinder eng zu begleiten, hängt mit vielen Aspekten des Alltags zusammen, einer Angst vor Unglück, eigenen Fehlern oder vor Schmerzen und Enttäuschungen. Man hat Angst um die Kinder. So wird es auch meistens beschrieben, wenn man fragt: „Warum lässt du dein Kind nicht mal ganz alleine irgendwo hingehen oder irgendetwas unternehmen?“ Die Antwort ist meistens: „Ich möchte nicht, dass meinem Kind etwas passiert.“ Das Risikobewusstsein ist intensiver geworden – und das entwickelt sich gegenläufig zur Statistik. Unser Empfindungsapparat oder unsere Intuition traut der Statistik nicht.
Wir leben faktisch in einer relativ sicheren Umgebung, es sterben immer weniger Menschen im Straßenverkehr oder durch Verbrechen. Aber das zählt nicht. Und vielleicht hat gerade die gewachsene Sicherheit die Ängste gegenüber einem potenziellen Unglück des Kindes intensiviert. So ein Paradox hat man in der Sicherheitsforschung auch erkannt: Je sicherer eine Umgebung ist, desto ängstlicher reagieren die Eltern. Deshalb wollen die Eltern möglichst nahe am Kind sein, sie wollen wissen, wo es ist und was es macht. Die Smartphones erleichtern diese Kontrolle enorm. Das ist ein Zeichen für die Unfähigkeit, wirklich ernsthaft Vertrauen zu schenken.
In Krimis und den Nachrichten wird vor allem das thematisiert, was außergewöhnlich oder besonders brutal ist. So entsteht das Gefühl einer Scary World: Die Gefahr, zum Opfer zu werden, wird viel größer eingeschätzt, als sie tatsächlich ist.
Das trifft wohl zu, in der Kognitionspsychologie gibt es auch die Figur der Verfügbarkeitsheuristik: In meiner Bewertung von Situationen orientiere ich mich sehr häufig an den Beispielen, die mir gerade geläufig sind – und das sind medial eben die Fälle, in denen etwas schiefgegangen ist.
Die Medien produzieren diese Bilder verstärkt, dadurch sind sie etwas, was meine Weltsicht stark prägen wird, obwohl statistisch eher das Gegenteil angezeigt ist.
Das größere Sicherheitsempfinden scheint ein Zusammenspiel zwischen den Mechanismen der Medien und unserer Psyche zu sein, sodass wir viel ängstlicher sind, als vielleicht unsere Eltern es früher noch waren: Ich durfte als Kind beispielsweise noch tagelang mehr oder weniger unbeobachtet auf die Straße. Wir hatten natürlich damals kein Internet. Ein anderes Beispiel ist die Flugangst: Wir wissen ja aus allen Statistiken, dass es sehr viel sicherer ist, zu fliegen, als mit dem Auto oder auch mit dem Zug zu fahren. Die Wahrscheinlichkeit, beim Fliegen ums Leben zu kommen, ist auf dem Weg zum Flughafen mit dem Auto am größten. Doch unser Angstempfinden traut den Statistiken offensichtlich nicht besonders. Beim Fliegen kommt allerdings ein Gefühl hinzu, das tatsächlich ein anderes ist als beim Autofahren: Wir haben beim Autofahren den Eindruck, wir könnten schneller aussteigen, weil wir nicht in diesem geschlossenen Raum in 10.000 Meter Höhe sitzen. Ich gebe jede Kontrolle über mich an die Technik und den Piloten ab. Und während starker Turbulenzen einfach nur an die Statistiken zu denken, hilft meistens nicht.
In diesem Moment steuert uns dieses affektiv-intuitive System – so nennen das die Kognitionspsychologen wie Daniel Kahneman – offensichtlich viel mehr als das rational-analytische Denken, das uns Auskunft über das gibt, was wahrscheinlich geschehen wird. Beim Vertrauen ist das ähnlich: Manchmal kann es sinnvoll sein zu vertrauen, obwohl man gerade nicht sehr viele Anhaltspunkte für die Vertrauenswürdigkeit einer Person oder einer Maschine hat. Allein durch den Akt des Vertrauens signalisiert man der Person, dass man sie für vertrauenswürdig hält. Allein dadurch also, dass man jemandem vertraut, lässt sich auch die Situation verändern. So kann geschenktes Vertrauen Gründe für zukünftige Vertrauenswürdigkeit schaffen, die vorher gar nicht da waren. Das finde ich interessant an Vertrauen: Es kann auch sinnvoll sein, die Situation nicht rational genau zu betrachten, sondern einfach zu vertrauen – bei Turbulenzen in der Luft bleibt mir ohnehin keine andere Wahl. Ein gewisser Vertrauensvorschuss kann also auch positive Effekte haben.
Wir vertrauen Menschen, die wir gut kennen, andere, beispielsweise Ärzte, Bankberater, Versicherungsvertreter, kennen wir durch gelegentliche Treffen. Viele Politiker, Sportler, Wissenschaftler kennen wir nur aus den Medien. Gibt es eine Art Hierarchie von Vertrauen?
Natürlich sind wir auf Ärzte angewiesen, ein Arztbesuch hat meistens einen Grund. Und dann lassen wir uns schon auf vieles ein, aber es gibt im Rahmen der einzelnen Beziehungen auch Spielräume. Beim Vertrauen in die Medien spielen unsere Vorannahmen oder unsere Neigungen eine wichtige Rolle. Heute scheinen diese Echokammern, über die oft diskutiert wird, stärker zu steuern, wem wir vertrauen und wem nicht. In den USA war das extrem, als die Trump-Anhänger CNN überhaupt nicht vertrauten, egal, was der Sender sagte und ob es stimmte oder nicht.
Generell scheint die Glaubwürdigkeit der Medien für uns weniger durch die Medien selbst hergestellt zu werden als eher durch die Einstellungen, mit denen wir an sie herangehen. Das entscheidet dann darüber, welchen Nachrichten ich eher vertraue als anderen. In dem einmal etablierten Rahmen scheint unsere Bereitschaft, diesen Medien zu glauben, sogar ziemlich groß zu sein. Wir beide halten wahrscheinlich Trump für hochgradig verlogen und unehrlich, aber es gibt offenbar viele Menschen, die ihm vertrauen. Manche scheinen seine Lügen als geschickte Strategie im Umgang mit dem politischen Gegner zu deuten. So lassen sich die Lügen mit eigenen Vorannahmen, Voreinstellungen und Vorurteilen verbinden. Das sind vage Begriffe dafür, dass wir unser Vertrauen oft sehr selektiv vergeben. Daraus entsteht die fatale Neigung, dass wir dann sogar den Medien, die wirklich die Wahrheiten einigermaßen adäquat repräsentieren, keinen Glauben mehr schenken. Das ist ein bisschen so wie mit der Transparenz: Sie wird manchmal als die große Lösung betrachtet, aber das kann sie nicht sein.
Wenn wir der Quelle nicht vertrauen, kann die Quelle noch so transparent sein – wir glauben ihr trotzdem nicht.
Das Vertrauen ist der Transparenzforderung vorgelagert; sie kann nur funktionieren, wenn wir der Quelle vertrauen, die uns irgendetwas transparent macht. Manche Medien scheinen darauf schon zu reagieren, indem sie z.B. offen und schneller Fehler einräumen oder Gegenartikel zulassen. Ob das erfolgreich ist, weiß ich, ehrlich gesagt, nicht.
Wir entwickeln auch Vertrauen zu Maschinen oder zur Natur. Ist das etwas anderes als das Vertrauen zu Menschen?
Auf jeden Fall von der phänomenalen Dimension her: Maschinen haben keinen Körper, keinen Geruch, keine Haut, keine Stimme – und wenn, dann eine künstliche. Aber unsere Vertrauenspraxis ist dabei, sich zu verändern. Wir verleihen Maschinen immer mehr personale Eigenschaften, manchmal geben wir den Geräten auch Namen. Es gibt auch die Tendenz, dass immer mehr Hunde Menschennamen bekommen. Das sind alles Phänomene, die zeigen, dass sich die Bereitschaft, uns intensiv emotional an Maschinen oder Tiere zu binden, verändert. Es gibt auch diesen Film Her, in der sich ein Mensch total in eine Computerstimme verliebt. Unsere Neigung wäre, zu sagen: Das ist ja Quatsch, das ist ja kein echtes Vertrauen, das sind keine echten Gefühle, aber die Filmfigur empfindet und lebt das so.
Zum Kapitel „Technik“ sollten wir zwischen warmem und kaltem Vertrauen unterscheiden. Das technische Vertrauen bleibt auf eine Art kalt; manchmal wird versucht, die Wärme über die Schaffung von Sicherheitserwartung und zwischenmenschlichen Vertrauensbeziehungen als Ersatz zur Verfügung zu stellen. Aber ich glaube, das wird scheitern. Ich habe mit einem Programmierer gesprochen, der Verschlüsselungstechnologien anbietet. Er meinte, da gehe es um Vertrauen. Ich dagegen denke, dass es nicht um Vertrauen geht, sondern darum, Sicherheit zu schaffen. Und das ist nicht das Gleiche wie Vertrauen:
Vertrauen kann nie auf absoluter Sicherheit beruhen, das wäre ein ganz falscher Begriff.
Einerseits scheinen wir uns auf die Technik und auf die Eigenschaften der Vertrauenswürdigkeit der Technik zuzubewegen und diese auch anzuerkennen – je intelligenter die Technik ist, desto mehr scheint diese Bereitschaft zu steigen. Andererseits gibt es aber immer noch eine Grenze, die nicht überschritten werden kann.
Bei manchen Jugendlichen hat man das Gefühl, es sei für sie ein größeres Problem, auf das iPhone statt auf einen Freund zu verzichten.
Das meine ich. Die Philosophie hat früher immer gesagt: Vertrauen kann man nur zu einem „wollenden Wesen“ haben, also einem Wesen, das einen Willen im philosophischen Sinne hat, das auch Verantwortung übernehmen kann für eigene Entscheidungen, das intentional handeln kann. Das wird kategorisch behauptet, dementsprechend kommt für diese Philosophie absolutes Technikvertrauen nicht infrage. Das scheint heute aber nicht mehr die gesellschaftliche Praxis zu sein. Gerade Jugendliche entwickeln ein intimes Verhältnis zu ihren Geräten.
Der Soziologe Norbert Elias hat in seinem Buch Über den Prozess der Zivilisation von 1939 prognostiziert, dass wir durch die Zunahme des Welthandels lernen, ethisch zu handeln und Verabredungen einzuhalten, weil jeder davon profitiert. Dadurch können wir dem anderen mehr vertrauen. Er nennt das die Zunahme der Selbstkontrolle.
Ich glaube, er hat recht. Besonders wirkmächtig war lange der theologische Vertrauensbegriff, der das Gottvertrauen in den Mittelpunkt stellte. Es war ein großer Schritt, von dort zum zwischenmenschlichen Vertrauen zu gelangen, noch Luther verdammt das zwischenmenschliche Vertrauen eher. Der Handel – das sehen auch die Historiker so – war einer der ersten Orte, an dem zwischenmenschliches Vertrauen gedacht werden musste. Man musste dem Fremden vertrauen, dass er auf bestimmten Schiffen aus fernen Ländern für erbrachte Leistungen eine bestimmte Gegenleistung lieferte. Ohne Vertrauen wäre der Handel nicht möglich. Man kann auch bei Adam Smith, dem Begründer der klassischen Nationalökonomie, nachlesen, dass eine „commercial society“ auf bestimmten reziproken Erwartungen beruht, die eingehalten werden müssen, damit es überhaupt friedlichen Handel gibt.
In der Weiterführung hat dann noch eine Entwicklung stattgefunden, durch die der Vertrauensbegriff heute auch im Privaten, Persönlichen und im Freundschaftlichen stärker angesiedelt ist, weil man dort nicht mehr nur ums Überleben kämpft. Die Dimension dieses persönlichen Vertrauens entwickelte sich zusammen mit dem Marktvertrauen. Also beide Formen haben sich im 17. und 18. Jahrhundert herausgebildet und wurden auch als solche theoretisch formuliert. Der schottische Aufklärer David Hume hat ebenfalls erkannt, dass das Vertrauen auf Märkten immer wichtiger wurde, und dann folgte das Vertrauen im Privatbereich. Das wurde als Praxis erst möglich und damit auch begrifflich fassbar, als die Fokussierung auf das Gottvertrauen etwas relativiert wurde. Auch die berühmte Hirschman-These vermutet, dass der Handel einen zivilisierenden Effekt nach sich zog: Den Handelspartner betrachte ich nicht mehr als Feind, sondern ich will mit ihm kooperieren. Antike Vertrauensmodelle beziehen sich eher auf einige wenige Menschen, die ich in den engeren Kreis meiner Verbündeten aufnehme; die vertrauen mir dann, wenn ich z.B. der Machthaber bin. Und alle anderen sind Feinde. Genau das bricht die Marktgesellschaft auf, da werden aus den Feinden Kooperationspartner.
Die EU-Sanktionen, die gegenwärtig z.B. gegenüber Russland wegen der Besetzung der Krim gelten, reduzieren die Kontaktmöglichkeiten zwischen den beiden Ländern. Ist das nicht eher kontraproduktiv?
Ich kann diese Entscheidung nicht politisch kommentieren. Da wir aber schon bei Adam Smith waren: Sein berühmter Begriff der „unsichtbaren Hand“ taucht im Kontext des internationalen Handels auf. Smith war gegen Zollschranken, weil er der Meinung war, man solle private Unternehmer in ihren Investitionsentscheidungen nicht gängeln. Interessanterweise spielt hier ein Vertrauensargument eine gewichtige Rolle; für Smith war klar, dass man als Unternehmer schon selbst entscheiden kann, wem man vertraut und wem nicht, das muss nicht forciert werden durch hohe Zollgebühren auf ausländische Güter. Handelsschranken etablieren dann eine künstliche Misstrauensgrenze. Und das ist aus vertrauensphilosophischer Sicht ein gutes Argument gegen Handelsschranken, die für das Vertrauen eher kontraproduktiv sind, weil man sich sowieso solche Partner sucht, denen man vertrauen kann.
Wenn wir Fehler machen, gerade auch im öffentlichen Bereich, tendieren wir dazu, diese zu verschleiern. Brauchen wir eine offenere Fehlerkultur, weil wir alle aus Fehlern lernen könnten?
Eigentlich schon, allerdings muss jemand, der Fehler einräumt, auch auf eine Öffentlichkeit treffen, die die Fehler dann auch verzeiht. Wenn der Innenminister Mecklenburg-Vorpommerns zurücktritt, weil er als Jäger eine Waffe von einem Rechtsradikalen gekauft hat, was ihm aber zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt war, warum macht er sich dann schuldig, obwohl der Kauf selbst legal war? Er hat selbst betont, dass er sich nicht den Kauf zum Vorwurf macht, sondern seine Art der Kommunikation sei ein Fehler gewesen.
Wir müssen auch eine Bereitschaft entwickeln, Fehler in bestimmtem Umfang zuzulassen.
Das ist nicht sehr verbreitet. Wenn in der Wissenschaftsdiagnostik oder in der Prognose Fehler gemacht werden, ist die Reaktion der Politik oft ziemlich hart: Das darf nicht wieder passieren! Aber Wissenschaft lebt von Fehlern, Wissenschaft macht immer Fehler. Das Grundprinzip ist Trial and Error. Wir lernen vor allem aus Fehlern. Ich plädiere für eine lebendigere Fehlerkultur, mich beeindrucken immer Menschen, die ihre Fehler offen anerkennen.
Der Soziologe Niklas Luhmann meinte, Vertrauen sei notwendig, um die unvorstellbare Komplexität der Wirklichkeit zu reduzieren. Ist da etwas dran?
Intaktes Vertrauen kann das. Andererseits schafft Vertrauen auch eine eigene Komplexität. Da bin ich nicht seiner Meinung, weil er suggeriert, dass Vertrauen automatisch entsteht, wenn wir es aus funktionalen Gründen brauchen. Das ist der Kern seiner Systemtheorie. Er suggeriert, moderne Gesellschaften würden immer komplexer und bräuchten Mechanismen, um diese Komplexität zu reduzieren. Dann bildeten sich automatisch auch diese Mechanismen aus. Das teile ich nicht. Ich glaube vielmehr, dass wir die Mechanismen herstellen müssen. Und wir müssen die Bedingungen schaffen, damit sie funktionieren. Luhmann verkennt, wie viel Komplexität Vertrauen an sich mit sich bringt. Vertrauen schafft eine eigene Komplexität. Luhmann neigt manchmal dazu, das Vertrauen zu sehr auf der Seite der Reduzierung anzusetzen – und vergisst dabei deren eigene Komplexität.
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