Wahrheit aus zweiter Hand

Wie viel Vertrauen verdienen die Medien?

Joachim von Gottberg im Gespräch mit Kai Sassenberg

Das Angebot an Informationen über die Welt ist so reichhaltig wie nie zuvor, wir werden durch eine Vielzahl klassischer und digitaler Medienangebote mit einer überwältigenden Informationsfülle zu Politik, Katastrophen, Wirtschaftsproblemen oder Kriegen konfrontiert. Dabei werden komplexe Systeme und die selbst für Insider unüberschaubare Masse an vorhandenen Informationen so herunter gebrochen, dass sie in die meist kurzen Formate passen. Kann man dem Weltbild, das sich die Menschen aus den Medien konstruieren, vertrauen? tv diskurs sprach darüber mit dem Sozialpsychologen Dr. Kai Sassenberg, der seit 2007 als Leiter der Arbeitsgruppe „Soziale Prozesse“ am Leibniz-Institut für Wissensmedien (IWM) und als Professor an der Eberhard Karls Universität Tübingen arbeitet.

Printausgabe tv diskurs: 25. Jg., 1/2021 (Ausgabe 95), S. 29-34

Vollständiger Beitrag als:

 

Welche Rolle spielt Vertrauen in unserem realen Leben und was hat sich durch das Internet, insbesondere durch die sozialen Medien, verändert?

Von prinzipiellen Veränderungen im Vertrauen kann man wohl nicht sprechen. Vertrauen ist traditionell und auch gegenüber sozialen Medien unter den Rahmenbedingungen des Internets dadurch getragen, dass wir eine positive Grundeinstellung des Gegenübers erwarten. Wichtig ist daneben die authentische Kommunikation, sie sollte in erkennbar guter Absicht erfolgen. Schließlich spielt die wahrgenommene Kompetenz des Gegenübers für Vertrauen eine zentrale Rolle; also die Frage, ob die kommunizierten Informationen als korrekt wahrgenommen werden. Das sind die drei zentralen Komponenten des Vertrauens – und die gelten von der privaten Alltagssituation über die professionelle Kommunikation bis ins Internet.

Was sich verändert hat: Über das Internet kann jeder kommunizieren, und verbreitete Informationen sind nicht von der Presse oder Medienunternehmen aufbereitet und durch Redaktionen geprüft. Natürlich spielt die Wahrnehmung der Person in diesen drei Dimensionen eine Rolle. Es geht um die Absichten und die Kompetenz, aber auch um die Sichtbarkeit der kommunizierenden Person, die im Internet oft nicht gegeben ist, denn man weiß oft nicht, ob es sich um eine reale Identität oder um eine Maschine, einen Bot handelt. Neben den Eigenschaften, die man Kommunikatoren zuschreibt, spielen natürlich auch die unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Kontexte eine große Rolle.
 


Gibt es eine Hierarchie des Vertrauens? Vertrauen wir beispielsweise dem Vater, dem Lehrer oder der „FAZ“ mehr als der „Bild-Zeitung“, YouTube-Videos oder Posts in sozialen Netzwerken?

Das auf jeden Fall. Natürlich nutzen wir, wie in allen anderen Lebensbereichen auch, beim Vertrauen Informationen über Gruppenmitgliedschaften und Rollen, die Menschen einnehmen. Auch unsere Erfahrungen, wie sich Kommunikatoren in der Vergangenheit verhalten haben, beeinflussen unser Vertrauen. Der Mutter oder dem Vater, die beide im Normalfall unter Beweis gestellt haben, dass sie eine positive Absicht verfolgen, vertraut man eher, ebenso Ärzten, mit denen man gute Erfahrungen gemacht hat. Bei unbekannten Immobilienmaklern oder Versicherungsvertretern vermutet man vielleicht kommerzielle Absichten und ist deshalb schon vorsichtiger. Es gibt da eine Hierarchie, je nachdem, welche Absichten man dem Gegenüber unterstellt: Sind es eher egoistische Absichten, vertraut man weniger, als wenn wir eine positive Absicht vermuten. Es gibt also Erfahrungen, von denen wir uns leiten lassen. Und es gibt Gruppenzugehörigkeiten, bei denen man per se eher davon ausgeht, dass eine positive Absicht vorhanden ist.

Oft nutzen wir Medien, um unsere Neugier zu bedienen. Warum sind die einen neugierig auf Politik, Zeitgeschehen oder Wissenschaft, während andere nur an Unterhaltung oder absurden Verschwörungserzählungen interessiert sind?

Neugier entsteht – sehr allgemein gesagt – aus Langeweile. Wenn ich von Informationen abgeschirmt bin, kann Neugier als ein generelles Bestreben nach Information oder nach einem Input entstehen, der dann wieder anregt und fordert. Die spezifischen Interessen hängen häufig auch damit zusammen, dass man über lange Zeit an einem Thema dranbleibt, an das man z.B. durch Begegnungen oder Medienberichte geraten ist. Wenn man einmal auf ein Thema zugegangen ist, entwickelt man die Lust, sich weiter darüber zu informieren. Das kann etwas mit Kompetenzerleben zu tun haben, man interessiert sich für Musik, weil man vielleicht ein Instrument spielen kann oder eine positive Erfahrung damit gemacht hat.

Wenn wir uns mit den Medien beschäftigen, dann haben wir es in der Regel mit Informationen und Erzählungen zu tun, deren Wahrheitsgehalte wir gar nicht einschätzen können. Das setzt großes Vertrauen voraus.

Ja, Vertrauen in Fakten wie in Personen setzt immer voraus, dass es irgendwo eine Stelle gibt, ab der man keine Kontrolle mehr hat. Bei Journalisten muss man darauf vertrauen, dass das, worüber sie berichten, auch faktisch stimmt. Ich kann es nicht überprüfen, ich muss vertrauen, weil ich eben genau diese Sicherheit in die Faktenlage nicht herstellen kann. Das gilt für jeden anderen Bereich des Vertrauens auch. Und das ist eben im Nachrichten- und Medienbereich international genauso der Fall wie in der aktuellen Coronasituation, in der wir den Virologen vertrauen müssen, weil wir selbst im Normalfall nicht über das notwendige Fachwissen verfügen und nicht verstehen, wie sich Viren verhalten oder sich Epidemien entwickeln.
 


Nach Niklas Luhmann stammt alles, was wir über die Welt wissen, aus den Medien, obwohl uns bewusst ist, dass wir den Medien nicht trauen können: Unser Wissen entsteht aus zweiter Hand; wir müssen uns daraus ein Bild konstruieren, obwohl wir den Wahrheitsgehalt nicht überprüfen können.

Einiges weiß man schon aus eigener Erfahrung. In persönlichen Arbeitszusammenhängen weiß ich, ob ein Kunde etwas bei mir gekauft hat oder ob ich ein brauchbares Produkt hergestellt habe. Bezüglich der Politik und allen Themen, die sich meinem persönlichen Erfahrungsbereich entziehen, wird dagegen tatsächlich sehr viel medial transportiert. Wenn man sich fragt, was in einem politischen Zusammenhang die Wahrheit ist, erkennt man oft, dass es eher mehrere unterschiedlich konstruierte Realitäten als die eine tatsächliche Wahrheit gibt. Damit wird das Ganze noch einmal komplexer und schwieriger. Ich kann anhand einer Quelle nicht exakt wissen, in welche Richtung von faktischen Zuständen abgewichen wird; ich kann es aber erahnen – aufgrund meiner Erfahrung hinsichtlich der Nähe dieser Quelle zu einer politischen Position.

Die Menge an Informationen und deren fast kostenlose Präsentation durch die Medien sind durch die Digitalisierung enorm explodiert. Eigentlich müsste sich dadurch die Bildung erheblich vermehren und verbessern.

Es gibt gewisse Vorteile, wenn man aber das Gesamtbild betrachtet, muss man auch die Kosten für die Informationsbeschaffung und die Aufarbeitung betrachten: Der Brockhaus hatte bezahlte Autoren, Wikipedia hat unbezahlte Autoren, trotzdem steckt da jemand Arbeit rein – und das sind Kosten. Auch wenn Wikipedia Regeln aufgestellt hat, wie Aussagen überprüft werden, bedeutet dies nicht, dass die Unabhängigkeit jedes einzelnen Beitrags garantiert ist. Viele Studien belegen, dass auch Wikipedia-Artikel verfälscht sind, weil Menschen darin Inhalte unterbringen, die ihren eigenen Interessen entsprechen.

Das Thema „Objektivität“ muss man dabei immer in Anführungsstriche setzen, sie ist bei den frei verfügbaren Inhalten schwer überprüfbar.

Und natürlich hinterlassen wir, wenn wir viele Angebote im Internet nutzen, unsere Daten. Damit wird Geld verdient – und dadurch entstehen natürlich für uns auch Kosten. Gleichzeitig: Die Schwelle des Zugangs zu Information ist geringer, auf jeden Fall. Und wenn man die Kompetenz besitzt, sich diese Quellen zu erschließen, dann wird das den Menschen erst einmal einen Vorteil bringen, wenn die Medien richtig genutzt werden. Trotzdem gibt es die zuvor angesprochenen Kosten. Das Gesamtbild ist also nicht eindeutig positiv.

Gibt es da eine Neuauflage der Theorie des Knowledge Gaps, die besagt, dass die Klugen das Netz zu Wissenserweiterung nutzen und immer klüger werden, während die anderen, die nur Unterhaltung suchen, an Bildung verlieren?

Ja, um vom Netz zu profitieren, braucht es in jedem Fall einen Zugang zum Internet, die Motivation und gewisse Kompetenzen. Nur wer diese Hürden überwindet, wird sich im Internet bilden können und auch davon profitieren. Wenn das die Menschen sind, die ohnehin schon klüger sind, wird der Wissensabstand vermutlich noch größer. Darüber, wie groß die Vorteile durch digitale Technologien für besser Ausgebildete letztlich sind, gibt es unterschiedliche Prognosen. Die einen sagen: Die Technologie und im nächsten Schritt die künstliche Intelligenz führen dazu, dass immer weniger Arbeitsplätze für Personen mit geringem Bildungsniveau zur Verfügung stehen. Andere sagen: Es entstehen im Rahmen der Digitalisierung auch neue Arbeitsplätze für Personen mit niedrigerer Qualifikation. Auch wenn die erste Vorhersage plausibler erscheint, sind solche Prognosen immer unsicher.

Auch im Netz machen wir die Erfahrung, dass man manchen Quellen nicht trauen kann. Lernen wir nicht bald, dass man vielleicht den klassischen Medien eher glauben kann als z.B. einem Post bei Facebook?

Zwei Dinge machen mich da etwas weniger optimistisch bezüglich solcher Lerneffekte. Zum einen gibt es bestimmte Aussagen, die wir einfach gerne hören, Meinungen, die der unsrigen eher entsprechen und unsere Sicht auf die Welt bestätigen. Insofern wird die konservative Gruppe, wenn denn diese Kategorien heute noch so gelten, eher der konservativen Tageszeitung vertrauen und die progressivere eher einer ihrer politischen Position entsprechenden. Ein Lerneffekt wird sich sicher nach besonders negativen Erfahrungen einstellen, aber wir sind eben auch geneigt, uns – bewusst oder unbewusst – unsere Filterblase zu basteln, die unsere Einstellungen bestätigt. Wir verfügen über ein gewisses Konsistenzstreben, sodass wir gerne am Gewohnten festhalten. Außerdem weiß man aus neuerer Forschung zu Fake News, dass es sehr schwierig ist, die ersten Spuren einer Falschmeldung wieder aus dem Gedächtnis herauszubekommen, es sei denn, wir haben vorher die Warnung erhalten: Das könnte jetzt eine Falschmeldung sein.

Die erste wahrgenommene Position bestimmt unsere Haltung zu einem Thema.


Meine persönliche Haltung entwickelt sich auf der Grundlage von ersten Informationen zu einem Thema, die möglicherweise falsch sind?

Das trägt dazu bei. Wenn die erste Meinung, die ich zu einem bestimmten Themenbereich gehört habe, aus einer konservativen oder aus einer sehr progressiven Perspektive kam, dann ist zunächst entscheidend, ob ich der Quelle vertraue oder nicht. Wenn eine Information einmal als faktisch akzeptiert worden ist, dann ist es – nach allem, was wir aus der Forschung wissen – sehr schwierig, diese Position wieder zu verändern. Hilfreich sind die Warnmeldungen bei sozialen Netzwerken zu dem vermeintlichen Wahrheitsgehalt mancher Posts, wie sie in letzter Zeit von den Betreibern geschaltet werden. Diese reduzieren das Vertrauen in die Nachricht und führen dazu, dass sie nicht als faktisch aufgenommen wird. Wenn wir Menschen davon abhalten können, eine präsentierte Information tatsächlich ernst zu nehmen, dann durch eine Vorwarnung, wie es beispielsweise bei Twitter gemacht wird.
 


Kann man mit Aufklärung oder Faktencheck etwas gegen Verschwörungstheorien erreichen?

Hier sollte man unterscheiden zwischen den Menschen, die diese Theorien in die Welt setzen, und jenen, die beginnen, an solch vermeintliche Theorien zu glauben. Bei denen, die solche Geschichten propagieren, habe ich große Zweifel, dass man durch die Konfrontation mit Fakten viel erreicht, weil solche Gedankengebäude lange aufgebaut wurden und deshalb nicht einfach aufzulösen sind. Aber bei denjenigen, die das erste Mal mit einer solchen Darstellung konfrontiert wurden und dann Überlegungen anstellen, ob an Verschwörungsgedanken etwas Wahres dran sein könnte, kann die Argumentation mit Fakten hilfreich sein.

Die Konfrontation mit Verschwörungstheorien lässt viele Menschen zumindest ein wenig an Mainstreamerklärungen zweifeln – nach dem Motto, es könnte ja schon etwas dran sein.

Je nachdem, wie tief man sich damit auseinandergesetzt hat, und je klarer nachgewiesen wird, dass in diesen Gedankengebäuden Darstellungen faktisch falsch sind, kann man den Glauben daran oft noch aufhalten. Man muss also Menschen, die Verschwörungserzählungen in die Welt setzen, von jenen unterscheiden, die in der Coronasituation einfach nur wollen, dass die Beschränkungen aufhören – und deshalb lieber glauben, dass es das Virus gar nicht gibt. Verschwörungserzählungen liefern einfache Antworten. Wenn man genau darüber nachdenkt, dann mag man sagen: Wie kann jemand an so etwas glauben! Aber diese Narrative erfüllen den Wunsch, ein gutes Gefühl zu haben und endlich eine Antwort zu bekommen. Wenn eine Verschwörungserzählung einer Person oder weniger Personen klar die Schuld an einem Problem zuweist, bedeutet das auch, dass nur diese Person bzw. nur diese Personen kontrolliert werden müssen, um das Problem zu lösen. Es wäre nicht unattraktiv, wenn die Situation so wäre – und deshalb wird es geglaubt. Zentrale Ursache des Verschwörungsglaubens ist eine Verunsicherung über das Coronavirus, weil die Ursachen und die beste Reaktion nicht eindeutig zu identifizieren sind.

Der Wahrheitsgehalt ist weniger entscheidend als die Hilfe für die Lebensbewältigung.

Ja, absolut, so funktioniert das. Das gilt aber auch für andere Wege aus der Bewältigung. Auch die Psychotherapie sollte dazu führen, dass man sich besser fühlt, auch der Glaube an eine etablierte Religion kann das leisten. Problematisch sind die Nebeneffekte des Verschwörungsglaubens, die gesellschaftlich weniger akzeptabel und ethisch fragwürdig sind. Unsere Emotionen sind stark und handlungsleitend, und wenn es jemand schafft, sie anzusprechen, dann gibt es auch eine gute Chance, dass diese Person Einfluss auf uns ausüben kann. So können Personen, die Verschwörungstheorien propagieren, Widerstand gegen staatliche Autoritäten initiieren.

Für mich haben Nachrichten der klassischen Medien einen hohen Glaubwürdigkeitsgehalt. Andere sagen: Das ist die Lügenpresse. Damit behaupten sie indirekt, die Wahrheit zu kennen. Was kann man dem entgegnen?

Man muss sich fragen, was man mit dem Entgegnen erreichen möchte. Wenn man der gesellschaftlichen Polarisierung entgegenwirken will, dann sollte man Gemeinsamkeiten betonen und nicht Menschen, die extreme Positionen vertreten, ausgrenzen. Insofern sollte man niemanden als „Spinner“ oder als „Verrückte“ bezeichnen. Dann fehlt die Basis für eine Verständigung. Man sollte sachlich mit diesen Gruppen umgehen und vielleicht auch darüber nachdenken, welche Gedanken sie haben und wie sie zustande kommen. An diese Gedanken muss man dann in der Diskussion anknüpfen, Inkonsistenzen aufzeigen und Fakten entgegenhalten. Gleichzeitig wissen wir aus unseren eigenen Studien, dass allein die Konfrontation mit Verschwörungstheorien dazu führt, dass im Kontext von Corona die Menschen eine geringere Bereitschaft hatten, den staatlichen Maßnahmen zu vertrauen und sie zu befolgen. Da muss man sich fragen – was natürlich nur theoretisch geht –, ob es richtig ist, in den Medien überhaupt über diese Phänomene zu berichten.

Durch die Berichterstattung werden Verschwörungsideen Teil des Mainstreamdiskurses. Das ist ein Problem, das sich aber in pluralistischen Gesellschaften natürlich nicht umgehen lässt.

Man kommt also in einem sachlichen Diskurs um eine Auseinandersetzung mit verschwörerischem Gedankengut nicht herum, will man nicht Personen, die an so etwas glauben, ausschließen. Diese Auseinandersetzung können wir nicht Politikerinnen und Politikern überlassen, denn diese werden von Personen, die an Verschwörungserzählungen glauben, ja gerade als nicht vertrauenswürdig angesehen. Deshalb werden sie Probleme haben, Einfluss auszuüben. Stattdessen ist jeder Einzelne gefordert, gegenüber Freunden oder Verwandten, die solches Gedankengut verbreiten, zu sagen: „Ich finde das schwierig, was du da vertrittst.“ Man sollte aber natürlich nicht sagen: „Du bist verrückt!“

Der US-Soziologe David P. Phillips hat 1974 in seiner Suggestionstheorie nachgewiesen, dass z.B. Medienberichte über Selbstmorde von Prominenten zu einem signifikanten Anstieg der Selbstmorde führen. Er nannte das damals den „Werther-Effekt“. Auf dieser Grundidee gibt es eine Vereinbarung zwischen den Verkehrsbetrieben und der Presse, dass man über Selbstmorde beispielsweise in U-Bahnhöfen nicht berichtet, was tatsächlich zu einem Rückgang der Selbstmordrate geführt hat.

Ja, absolut. Natürlich macht die Berichterstattung über Demonstrationen von Verschwörungstheoretikern dem Einzelnen erst bewusst, dass es viele Menschen gibt, die ähnlich denken wie er. Am Beispiel der Selbstmordfälle ist der Effekt der Medienberichterstattung gut dokumentiert. Solche Effekte wird es in anderen Bereichen auch geben. Die zugespitzte Berichterstattung im Internet trägt auf jeden Fall dazu bei, dass sich Menschen mit Positionen, die moralisch-ethisch fragwürdig sind und sich im Kern gegen konsensfähige gesellschaftliche Einstellungen richten, darin bestätigt fühlen.

Trotz nachweisbarer Lügen wurde Donald Trump von mehr als 70 Mio. US-Bürgern gewählt. Wie kann unter solchen Bedingungen bei so vielen Menschen noch Vertrauen vorhanden sein?

Da geht es vermutlich nicht um Vertrauen, ich glaube, es ist die Hoffnung. Es gibt in den USA ein Benachteiligungsgefühl bei ehemaligen Stahl- und Industriearbeitern, aber auch im Mittelstand. Diese Gruppen hoffen, dass Trump etwas anders macht, weil er sich von der politischen Elite abgrenzt. Es war weniger entscheidend, ob er das Richtige getan hat; wichtiger war, dass er versprochen hat, etwas anderes zu tun – und dies auch umgesetzt hat. Da wird ein Staatspräsident nicht anhand seiner Tauglichkeit und seines seriösen Verhaltens bewertet, sondern in Bezug auf die Hoffnung, dass er die eigene Situation vielleicht verbessern kann.

Die heutigen Jugendlichen werden als Digital Natives bezeichnet. Sind die Digital Natives weniger gefährdet als die Eltern, an Fake News zu glauben?

Natürlich sind die Digital Natives ihren Eltern überlegen, wenn es um bestimmte Funktionen ihrer Geräte geht. Auch die Schwelle, neue Geräte in die Hand zu nehmen und etwas damit zu machen, ist viel geringer. Die jüngere Generation hatte aber immer schon weniger Angst und weniger Berührungsängste vor neuer Technik. Ob das auch zu einem kritischen Nachrichtenkonsum führt, bezweifle ich. Unter 35-Jährige nutzen als Hauptnachrichtenquelle meist Social Media, wogegen die Gruppe der über 50-Jährigen dann doch eher den Hauptnachrichtensendungen in ARD, ZDF oder RTL vertraut. Selbst wenn auf Facebook oder Instagram Ausschnitte aus Nachrichten dieser Sender auftauchen, sind sie häufig so kontextfrei, dass eine angemessene Interpretation nicht mehr möglich ist. Ob ein komplexeres Bild entstehen kann, hängt nicht so sehr davon ab, ob man Facebook, YouTube und Twitter und in der nächsten Generation dann TikTok bedienen und konsumieren kann, sondern davon, wie intensiv man sich mit den Inhalten auseinandersetzt und ob komplexe Rahmenbedingungen mit berücksichtigt werden.

Dr. Kai Sassenberg ist Professor an der Eberhard Karls Universität Tübingen und leitet die Arbeitsgruppe „Soziale Prozesse“ am Leibniz-Institut für Wissensmedien (IWM).

Prof. Joachim von Gottberg ist Chefredakteur von tv diskurs.