Warum begehen Menschen Morde?

Über die Faszination des Bösen und die Unterschiede zwischen Fiktion und Realität

Tilmann P. Gangloff im Gespräch mit Joe Bausch

„Jedes Verbrechen beginnt im Kopf“: So lautet der Untertitel und damit auch die These eines neuen Buchs von Joe Bausch (69). Der Arzt war über 30 Jahre lang Leitender Regierungsmedizinaldirektor in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Werl. TV-Zuschauer kennen ihn als Dr. Joseph Roth aus dem Kölner Tatort. Seit 1997 verkörpert er an der Seite von Klaus J. Behrendt und Dietmar Bär den dienstältesten Rechtsmediziner im deutschen Fernsehen. Bausch, geboren und aufgewachsen im Westerwald, hat erst in Köln und Marburg Theaterwissenschaft, Politik, Germanistik und Rechtswissenschaften und anschließend in Bochum Medizin studiert.

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Sie waren über 30 Jahre Anstaltsarzt in einer JVA, Sie wirken im Tatort mit, Sie haben mit Maxima Culpa1 nun bereits Ihr drittes Buch über Kriminelle geschrieben. Was fasziniert Sie so am Verbrechen?

Es ist gar nicht das Verbrechen, das mich fasziniert, sondern die Frage: Was macht einen Menschen zum Verbrecher? Das hat mich schon als junger Mensch interessiert, also bereits viele Jahre, bevor ich als Arzt in den Knast gegangen bin. Ich habe damals auf der Bühne vor allem Kriminelle verkörpert und wollte wissen: Warum begehen Menschen Morde? Als Arzt hat mich diese Frage erst recht bewegt. Um einem Patienten helfen zu können, muss man wissen, was ihn krank macht.

Und was macht Menschen zu Mördern?

Ich habe mich Jahrzehnte lang intensiv mit dem Bösen beschäftigt und kann die Frage trotzdem nicht beantworten. Der Untertitel meines Buches lautet „Jedes Verbrechen beginnt im Kopf“, denn jedes Verbrechen wird zunächst in der Fantasie begangen. Anhänger des Determinismus behaupten sogar, es gebe keinen freien Willen, weil alles, was man tut, vorher festgelegt sei. Andererseits hat fast jeder Mensch schon mal in Gedanken einen Mord begangen; aber eben nur in Gedanken. 99 von 100 Männern hatten eine furchtbare Kindheit mit schrecklichen Erlebnissen, doch nur einer ist zum Verbrecher geworden. Ich habe aber auch Menschen erlebt, die eine denkbar schöne Kindheit hatten und trotzdem zu narzisstisch gestörten Serienmördern geworden sind. Ist es ein plötzlicher Furor, der sie überkommt, gibt es genetische Gründe? Ich weiß es nicht. Eins lässt sich jedoch mit Gewissheit sagen: Wenn schon das Fundament deutliche Risse hat, ist es nicht verwunderlich, wenn das Haus bei einer größeren Erschütterung einstürzt.

Sie schreiben, dass sich 2021 in deutschen Gefängnissen knapp 600 Männer in Sicherungsverwahrung befunden haben, also nach Verbüßen ihrer Haftstrafe nicht entlassen worden sind; aber nur zwei Frauen. Wie ist diese Diskrepanz zu erklären?

Das ist eine hoch spannende Frage, die noch niemand schlüssig beantwortet hat: Ist das Böse männlich? Auch die Verurteilungszahlen scheinen eine exorbitante Geschlechterdifferenz zu belegen. Vielleicht sind Frauen einfach nur cleverer und lassen sich nicht erwischen; womöglich werden sie auch von vornherein seltener verdächtigt. Trotzdem begehen sie eindeutig weniger Verbrechen.

Sind sie also auch die besseren Menschen?

Es gibt bislang noch keine Grundlagenforschung zu dieser Frage. Womöglich hat es mit der Erziehung zu tun, die Frauen früh beibringt, duldsamer zu sein, ihre Affekte stärker zu kontrollieren. Es wundert mich, dass dieser Aspekt bei der Gender-Diskussion überhaupt keine Rolle spielt. Es gibt heute hochgerechnet weniger Gewalt als zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, aber trotzdem haben wir das Gefühl, dass die Anzahl der Gewalttaten zunimmt. Und diese Gewalt wird von Männern begangen, die im Elternhaus, im Kindergarten und in der Grundschule größtenteils von Frauen erzogen worden sind.
 

Trailer The Silence of the Lambs (USA 1991, Movieclips Classic Trailers, 05.10.2012)



Sie befassen sich in Ihrem Buch vor allem mit Mehrfachtätern. Sind Serienmörder tatsächlich so charismatische Typen wie Hannibal Lecter aus dem Schweigen der Lämmer?

Nein, das ist eine Erfindung Hollywoods. So brillant, so eloquent, so infam ist so gut wie kein Krimineller. Krimiautoren siedeln ihre Geschichten zudem überwiegend in einer gesellschaftlichen Schicht an, in der de facto die wenigsten Verbrechen begangen werden. Die Hannibal Lecters dieser Welt sitzen nicht im Gefängnis, die tummeln sich in der Politik und in der Wirtschaft. Aber sie weisen oftmals den gleichen Mangel an Empathie auf wie die Serienmörder.

Warum machen die einen Karriere und die anderen landen im Knast?

Ganz einfach: Der eine ist clever, der andere ist ein Idiot. Psychopathie hat nichts mit Intelligenz zu tun. Deshalb ist die Mehrheit der Psychopathen dort, wo sie hingehört: im Gefängnis. 30 % der männlichen Insassen haben psychopathische Symptome. Ich will damit nicht sagen, dass erfolgreiche Menschen in der Wirtschaft potenzielle Kriminelle sind, aber ohne einen gewissen Mangel an Empathie könnte man nicht 15.000 Menschen entlassen und trotzdem gut schlafen. Bei bestimmten Jobs braucht man außerdem eine ziemliche Kaltblütigkeit, um zum Beispiel im Rahmen hochriskanter Geschäfte mit astronomisch hohen Summen zu jonglieren, um Bomben zu entschärfen oder mit einem Kampfjet in 400 Metern Höhe zu fliegen.

In Ihrem Buch schreiben Sie über Serienmörder wie die sogenannte „Bestie von Jersey“ oder den norddeutschen „Maskenmann“, der sich an Dutzenden Kindern vergangen und drei Morde begangen hat. Solche Täter führen lange Zeit ein Doppelleben als Wolf im Schafspelz. Setzt das nicht eine hohe Intelligenz voraus?

Diese Täter haben früh gelernt, dass niemand erfahren darf, was in ihrem Kopf vorgeht. Deshalb tun sie alles, damit man ihnen nicht anmerkt, was in ihnen schlummert. Diese Fähigkeit haben sie über Jahre hinweg ausgebildet; ein Zeichen für überdurchschnittlich hohe Intelligenz ist sie trotzdem nicht. Aber ich habe natürlich auch besondere Verbrechen ausgewählt, die einen großen Kitzel haben. Die meisten Taten sind viel zu banal, um Stoff für einen fesselnden Krimi zu ergeben. Die Verbrechen im Fernsehen sind deutlich komplexer und überraschender als die Wirklichkeit. Natürlich gibt es auch infame, perfide und skrupellose Taten, aber raffiniert sind die Täter nur im Film.

Sie selbst sind mal unfreiwillig zum Vorbild für ein Delikt geworden. Wie war das?

In einer Episode der Krimiserie Faust mit Heiner Lauterbach habe ich 1997 den fiesen Anführer einer Drückerkolonne gespielt, der einen seiner Mitarbeiter demütigt, indem er ihn zwingt, Regenwürmer zu essen; die Folge trug den treffenden Titel „Spaghetti Bolognese“. Bei der Recherche für mein Buch habe ich herausgefunden, dass die kriminelle Chefin einer echten Drückerkolonne das offenbar so reizvoll fand, dass sie es nachgemacht hat.
 

Faust (Staffel 4, Folge 5: „Spaghetti Bolognese“; KultKrimi, 29.03.2022)



Regen Krimis also doch zur Nachahmung an?

Wenn es so wäre, hätten wir eine ganz andere Gewaltstatistik. In Deutschland gibt es pro Jahr knapp 1.000 Morde, inklusive Totschlag reden wir von 2.500 bis 3.000 Tötungsdelikten. Im Fernsehen werden pro Jahr schätzungsweise 15.000 Morde begangen, und da sind Netflix und Sky noch nicht mal mitgezählt. Die Diskussion wird ja geführt, seit Verbrechen dargestellt werden, ganz egal, ob auf der Bühne oder im Film. Ich erinnere mich eine ähnliche Debatte Ende der Sechziger, damals ging’s um die Frage, ob Pornografie die Männer zu lüsternen Sextätern macht oder ob sie der Ersatzbefriedigung dient. Übermäßiger Konsum von Ballerspielen oder Hardcorepornografie sind zumindest immer auch ein Hinweis, dass in der Persönlichkeit etwas im Argen liegt. Sexualstraftäter zum Beispiel konsumieren Pornos am laufenden Band, und so gut wie alle Amokläufer hatten einen hohen Konsum an Ballerspielen. Aber auch hier gilt: Viele andere tun das ebenfalls, aber nur einer greift zur Waffe. Es gibt nie nur einen Auslöser für Gewalt.

Ließen sich solche Taten trotzdem verhindern?

Es fällt zumindest auf, dass die meisten Amokläufer prägnante Übereinstimmungen zeigen: Ballerspiele, Schützenverein, ein zurückgezogenes Leben, Mobbing-Erfahrungen wegen äußerlicher Merkmale wie etwa Korpulenz. Aber allein in Deutschland gibt es vermutlich Tausende von Jugendlichen, die diese Merkmale erfüllen. Soll man die alle überwachen?

Joseph Roth, der Arzt, den Sie seit 25 Jahren im Tatort aus Köln verkörpern, ist im Unterschied zu seinen TV-Kollegen ein erfrischend normaler Zeitgenosse. Warum sind Rechtsmediziner im Fernsehen oft so skurril?

Weil sich Autoren nicht vorstellen können, dass es Menschen gibt, die sich freiwillig tagtäglich mit Leichen umgeben. In einem der ersten Filme hat mich ein Regisseur gebeten, bei der Obduktion ein Mettbrötchen zu verzehren. Das habe ich sehr bestimmt abgelehnt. Anscheinend ist man in der Filmbranche der Meinung, dass Formaldehyd auf Dauer Schäden im Gehirn verursacht. Ich habe während meines Studiums als Hilfskraft in der Rechtsmedizin gearbeitet. Da gab es tatsächlich Personen, die einen ähnlichen Humor hatten wie Karl-Friedrich Boerne aus dem Tatort aus Münster, aber ansonsten waren sie durchaus gesellschaftsfähig. Ich plädiere trotzdem für mildernde Umstände bei den Schauspielkollegen: Die haben meist nur ganz kurze Szenen und wenig Zeit, um sich zu profilieren, da ist es naheliegend, dass sie ihre Rolle ein bisschen auf die Spitze treiben. Ich habe zum Glück so eine markante Visage, da muss ich keine Kapriolen machen.

Wie ist das Feedback der medizinischen Kollegen?

Echte Rechtsmediziner versichern mir, meine Darstellung von Joseph Roth sei nah an der Wirklichkeit. Allerdings bin ich dank meines Berufs gegenüber anderen Schauspielern klar im Vorteil: Ich erkenne sofort, wenn im Drehbuch Unfug steht, weil sich der Autor sein Wissen bei Wikipedia angelesen hat. Natürlich könnte ich auch mit wichtiger Miene verkünden, ein Opfer sei an einer Überdosis Smarties gestorben, und vermutlich würde das Publikum mir das auch glauben, aber in solchen Fällen ziehe ich es vor, Sätze zu sagen, die medizinisch Hand und Fuß haben.

Die meisten Tatort-Fans wissen, dass sie echter Arzt sind, aber Sie haben auch Theaterwissenschaft studiert. War die Schauspielerei jemals ein Berufsziel?

Nein, ich wollte Regisseur oder Dramaturg am Theater werden, die Schauspielerei kam erst später, weil ich dachte: Wenn ich den Mitwirkenden auf der Bühne Anweisungen gebe, wie sie agieren sollen, will ich auch wissen, wovon ich rede. Wie viel Spaß es mir bereitet, selbst zu spielen, habe ich erst gemerkt, als ich schon mitten im Medizinstudium war. Ich habe das Privileg, alle meine Interessen ausleben zu dürfen: als Mediziner, als Schauspieler und als Autor. Ich hatte immer große Lust, was Neues auszuprobieren, stets nach der Devise: Was soll schon groß passieren? Es geht ja nicht um Leben und Tod.
 

Anmerkung:

1) Bausch, Joe: Maxima Culpa. Jedes Verbrechen beginnt im Kopf. Berlin 2022

Joe Bausch arbeitete über 30 Jahre lang als Leitender Regierungsmedizinaldirektor in der Justizvollzugsanstalt Werl und ist bekannt als Rechtsmediziner Dr. Joseph Roth im Kölner „Tatort“.

Tilmann P. Gangloff ist freiberuflicher Medienfachjournalist.