Warum Nackte uns anziehen

Essayistische Erklärungsversuche

Jens Förster, Manfred Nussbaum

Nackte Menschen bevölkern derzeit zunehmend TV-Formate. Zudem posten Menschen Nacktbilder von sich in den sozialen Medien, darunter auch Prominente. Was sie wirklich damit bezwecken, ob das tatsächlich Aufmerksamkeit erregt und warum wir uns das anschauen, wurde bisher nicht überzeugend in der Psychologie untersucht. Hier bieten wir einige Erklärungsversuche an, die auf psychologischen Phänomenen basieren.

Printausgabe tv diskurs: 22. Jg., 2/2018 (Ausgabe 84), S. 57-61

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Vorbei die Zeiten, in denen man sich als Pubertierender auf die Unterwäscheseiten des nächsten „Otto-Katalogs“ oder auf den kurz entblößten Busen einer als Erdbeere verkleideten Tänzerin freute – in einigen TV-Formaten wird die Kamera inzwischen mit verblüffender Selbstverständlichkeit auf komplett Nackte gehalten. Dabei soll nicht die Rede von (soft-)pornografischen Formaten sein und auch nicht von Filmen, die explizite Geschlechtsakte oder Nackte zeigen, wie Der Fremde am See (2013) oder Antichrist (2009). Neue Formate wie Adam sucht Eva (RTL), Naked Attraction (RTL II) oder Naked and Afraid (DMAX) zeigen nackte Menschen in mehr oder weniger ungewöhnlichen Umgebungen und haben damit großen Erfolg. Adam sucht Eva, eine Datingshow, in der Prominente und Nichtprominente u.a. auch Wettkämpfe bestehen müssen, läuft seit 2014 mit steigenden Zuschauerzahlen (3. Staffel ca. zwei Mio.). Die 2. Staffel von Naked Attraction, einer Datingshow, in der ein zunächst angekleideter Kandidat oder eine Kandidatin einen Datingpartner aus einer Reihe nackter Bewerber wählt, lief in Deutschland so gut an wie die erste (ca. eine Mio.). Naked and Afraid, ein US-amerikanisches Format, zeigt ein nacktes Paar (Geschlechtsteile werden gepixelt), das, ohne sich vorher zu kennen, für 21 Tage in einer lebensfeindlichen Natur überleben muss. Die Sendung ist weltweit ein großer kommerzieller Erfolg (die 9. Staffel wird gerade gedreht).
 


Was ist neu an dieser Präsentation von Nacktheit? Zunächst werden hier, neben den im Fernsehen oft präsentierten prototypisch Schönen und ihren Karikaturen (den „plastic surgery nightmares“), auch die eher gewöhnlich gewachsenen Artgenossen nackt zur Schau gestellt. Im Prinzip bekommt man das zu sehen, was man aus der Sauna kennt: Männer mit viel Fett und Hamstern im Schritt, normal gewachsene Frauen mit Asymmetrien im Brustbereich – und allerorten verschwommene Tattoos. Körperformen oder primäre und sekundäre Geschlechtsteile sind in allen Ausprägungen und Größen zu sehen und würde man sie von Probanden bewerten lassen, ergäbe sich vermutlich eine Normalverteilung: Wenige sind sehr hässlich oder sehr schön; die meisten sind mittelmäßig.

Das klingt anfangs interessant – schließlich ist es noch immer nicht üblich, Nacktheit über so lange Strecken zu zeigen. Auf der anderen Seite sind doch Millionen Nackte im Netz nur einen Mausklick entfernt – mit vielen entscheidenden Vorteilen: Ich kann mir diejenigen anschauen, die ich persönlich attraktiv finde, ich bin nicht an Zeiten gebunden und die Präsentation wird nicht durch Werbung für Fußpilzsalbe und Dosensuppen unterbrochen. Spannend könnte sein, dass Nacktheit im Kontext einer Fernsehshow präsentiert wird, ein Formatbereich, in dem sonst Harmloses wie Oliver Pochers Kindergeburtstagswitze präsentiert wird oder Väterchen Jauch Fragen abliest. Ungewohnt ist es sicherlich auch, Nacktheit mit anderen gemeinsam zu schauen, wenn man einmal davon ausgeht, dass User Nackte am Computer normalerweise allein konsumieren.

Natürlich ist Nacktheit an sich reizvoll, möglicherweise aus rein biologischem Interesse – warum aber schauen Zuschauer ausgerechnet diese Sendungen? Einige Hypothesen bieten sich an:
 

1. Die Formate dienen der sexuellen Erregung.

Man kann nicht ausschließen, dass Nacktheit allein manche erregt. Millionen Zuschauer brächte das jedoch sicherlich nicht, angesichts der Verfügbarkeit von pornografischem Material im Netz. Für sexuelle Befriedigung gibt es effizientere Alternativprodukte. Diese Medienkompetenz ist bei allen ab 12 vorauszusetzen.
 

2. Die Formate erlauben es, seinen Star nackt zu erleben.

Den Star, den man nicht von der Bettkante stoßen würde, einmal nackt zu sehen, wäre sicherlich ein Grund, die Formate zu schauen – allerdings konterkariert Adam sucht Eva genauso wie Ich bin ein Star – Holt mich hier raus! die Bedeutung von „Star“, werden dort doch vor allem sogenannte „Z-Stars“ präsentiert: Dementsprechend präsentierte Naked Attraction am 19. Februar 2018 zum ersten Mal eine „Star Edition“ mit Cathy Lugner („Cathy …? … who?“). „Z-Stars“ haben wenige Fans – ein Umstand, der die Menge an Zuschauern, die sich aus diesem Grund die Shows ansehen könnten, reduziert. Vermutlich erhoffen sich aber gerade „Z-Stars“ eine Verbesserung ihrer beruflichen Situation durch Nacktheit, wie auch ein deutlicher Trend von Entblößungen in den sozialen Medien widerspiegeln mag. Ob das funktioniert, mag bezweifelt werden, denn jeder kennt Gewöhnungseffekte: Nach spätestens einer halben Stunde FKK-Strand wird Nacktheit langweilig. Vielleicht liegt es auch daran, dass das bloße Draufhalten mit der Kamera auf den nackten Körper Schwächen offenlegt, die eine kunstvolle Aktfotografie verdecken kann. Auch der ideale Superbody wirkt aus manchen Perspektiven unerotisch (siehe z.B. Orlando Bloom beim Paddeln), manchmal sogar unattraktiv (man denke auch an die Seinfeld-Folge, wo George Elaine darüber aufklärt, was nackten Männern im kalten Pool blüht: „It shrinks!“). Nackt posten kann also nach hinten losgehen – wenn man die geltenden Regeln der Selbstpräsentation vernachlässigt. Nebenbei kann der Star auch uninteressant werden, wenn er zu viel zeigt – wenn ich schon „alles“ über ihn zu wissen glaube, was gibt es dann noch zu entdecken?
 

3. Die Formate dienen der Selbstregulation.

Eine Strategie, seine eigene Stimmung zu heben, ist der Blick nach unten, auch Downward Comparison genannt. Wenn ihr eigener Selbstwert infrage gestellt wird, vergleichen sich Menschen mit anderen, denen es schlechter geht. Bestimmte Formate wie Big Brother oder Ich bin ein Star – Holt mich hier raus! helfen der menschlichen Selbstregulation, indem sie Menschen bei erniedrigenden Aktivitäten zeigen. Selbst wenn es einem schlecht geht – Känguruhoden würde man dennoch nicht essen – und somit steht man immerhin über diesen „Promis“.

Zum Narrativ gehört auch die geringe Gage, die sie angeblich dafür erhalten, was ebenfalls selbstwertdienlich ist. Wer würde schon so tief sinken, dass er für 25.000,00 Euro nackt im Wald Schlangen erschlägt? Da Materialisten und Geltungshungrige von den Regeln der politischen Korrektheit ausgeschlossen sind, muss man sich zudem nicht schlecht bei solcherlei Abwertungen fühlen: Man darf sie diskriminieren. In Gesellschaften, die von einer protestantischen Arbeitsethik geprägt sind, sollte es auch umso verwerflicher sein, durch bloßes Nacktsein, also ohne Energieaufwand, Broterwerb zu betreiben. Man darf in diesem Kontext sogar einmal mit Herzenslust auf die weniger Schönen einprügeln: Wer nicht einmal etwas „in den Körper investiert hat“ (Fitness, gute Tattoos, Implantate, Intimhaar-Accessoires etc.), dem steht es nicht zu, Profit daraus zu schlagen. Auch insofern unterstützt die Entscheidung, mittelmäßig Attraktive zu zeigen, selbstregulatorische Prozesse.

In Naked and Afraid ist das Gegenteil der Fall – hier müssen die Protagonisten bis an die Schmerzgrenze schuften; sie müssen Schlangenbisse überleben, Ängste überwinden und laufen sich die Füße blutig. Auch auf diese Kämpfer kann man herunterschauen und stolz darauf sein, dass man einen vernünftigen Beruf erlernt hat.

Selbstwerterhaltung ist ein zentrales Motiv des Menschen und eine Basis für psychische und physische Gesundheit. Sie ist auch weitreichender als die sexuelle Befriedigung, für die zudem andere Medien zielführender wären.
 


4. Die Formate dienen der Selbstskalierung.

Ebenso selbstwertdienlich wäre die Erkenntnis, selbst nicht am Negativ-Ende der Normalverteilung zu stehen, kann man doch erleichtert feststellen, dass man so schlecht nun auch wieder nicht aussieht. Forschung an jungen Frauen zeigt, dass sie sich nach der Präsentation von Topmodels zu dick und hässlich fühlen. In typischen (Soft-)Pornoformaten sind wir vor allem idealisierten Körperformen ausgesetzt, die uns einschüchtern, vor allem weil wir nicht begreifen, dass diese nicht repräsentativ sind, wie Daniel Kahnemans Arbeiten zeigten. Die Schönen werden in den Medien überrepräsentiert und daher lassen wir uns dazu verleiten, das Ideal für die Norm zu halten. Insofern könnten die Formate, in denen sich mittelmäßig Schöne präsentieren, Wahrnehmungsverzerrungen gar entgegenwirken.
 

5. Die Formate reduzieren Ängste vor dem Daten.

Durch die Mischung aller Attraktivitätsklassen entstehen Überraschungseffekte, vor allem, wenn es um Dating geht. Die Idee, dass der Schönste mit der Schönsten das Rennen macht, wird häufig nicht bestätigt. Eigene Minderwertigkeitsgefühle – gerade bei Pubertierenden – werden reduziert, wenn eine Kandidatin bekundet, dass für sie Penislänge kein Hauptkriterium bei der Partnerwahl sei (in sexualpädagogischen Jungengruppen ist Penislänge bzw. vermutete -kürze die Hauptsorge). Und wenn eine sympathische Dicke dem dünnen Starlet vorgezogen wird, kann dies eine Dekonstruktion sorgenvoller Gedanken sein. Auch dies kann das Interesse an diesen Formaten erhöhen.
 

6. Die Formate laden zur Kommunikation über Körperliches ein.

Anders als der Solokonsum von Pornos im Internet, laden die besprochenen Formate zu gemeinsamem Schauen, Diskutieren und Lästern ein. Vielleicht ist das das eigentlich Neue – man spricht offen über Präferenzen, Vorlieben, Kriterien für Attraktivität und Sympathie. Kommunikation ist da, um zu kommunizieren, sagt Niklas Luhmann. Und da könnten neue Themen hilfreich sein, um Gespräche zwischen Freunden und Familienmitgliedern in Gang zu halten. Ist Nacktheit auf Bildebene vielleicht kein Tabubereich mehr, so ist auch 30 Jahre nach Erika Bergers Ruf: „Reden’s drüber!“ die Kommunikation über Körperliches noch schamerfüllt. Andere beim Sprechen darüber zu beobachten, ist daher immer noch spannend und wird häufig auch als witzig empfunden. Da erstaunt es, dass die Formate häufig bierernst inszeniert werden. Allein Naked Attraction hat eine gewisse Komik, und dies – sic! – vor allem durch die Versprachlichung des Gesehenen. Wenn sich eine Kandidatin sogar schämt zu sagen, ob sie gerne von Männern mit Bart geküsst wird, wo sie gerade vor sechs entblößten Unterleibern steht, dann hat das etwas Komisches.

Das Gegenteil, eine völlig enttabuisierte Sprache, ist zumindest verblüffend: Wenn etwa eine Kandidatin erklärt, warum sie lieber „beschnittene Schwänze im Mund“ hat, fragt man sich unmittelbar, ob man selbst so darüber reden könnte oder möchte, und wundert sich darüber, was das eigentlich für Leute sind.

Auf Bildebene ist der Kontrast von Aktivitäten und Nacktheit manchmal komisch. Wer zum ersten Mal in einem FKK-Supermarkt den Einkaufswagen an den Hintern des Vordermanns schiebt, weiß, wovon die Rede ist – man ist eben normalerweise nicht nackt, wenn man gerade Fischstäbchen auf’s Band legt. Bei Naked and Afraid soll das Narrativ die Spannung und jeden Humor aufheben, indem die im Raum stehende Frage: „Warum rennen die nackt durch den Dschungel?“ direkt beantwortet wird: Es soll an die „menschliche Stärke zu überleben“ erinnert und unsere „Vorfahren gewürdigt“ werden. Bei Adam sucht Eva sind die Challenges umso lustiger, je weiter entfernt sie von Nacktheit sind. In penetrant präsentierten Einspielern zu Naked Attraction wird uns die dahinter liegende sozialnormative Umkehrung immer wieder erklärt: Hier würde man einmal mit der Präsentation des Geschlechtsteils beginnen, mit der ein Dating ja sonst enden würde – was bei genauem Nachdenken eine absurde Interpunktion bedeutet: Seit wann hört Dating damit auf, dass man das Geschlechtsteil des anderen sieht? Hier setzt bereits UNdressed – Das Date im Bett (RTL II) an, bei dem Singles, halb nackt in einem Bett liegend, ihr erstes Date haben.

Die Kommunikation wird zudem durch die Rezeption und das Teilen von Kritiken und Glossen aufrechterhalten. Anja Rützel, die sich als Reich-Ranicki der Trashformate einen Namen gemacht hat, trägt mit ihren Kritiken dazu bei, dass die Themen auch am nächsten Tag noch Kantinengespräch sind.
 

Fazit ist, dass Nacktheit allein vermutlich weder abendfüllend noch nachhaltig interessant ist. Die Formate ziehen deshalb Aufmerksamkeit auf sich, weil sie nackte Körper sowohl in absurde als auch narrativ schlüssige Zusammenhänge stellen. Damit ist die Qualität der Drehbücher wichtiger als die gezeigte Haut. Man sollte, bei allem Erfolg, den die Formate haben, auch betonen, dass sie nicht besser funktionieren als vergleichbare, wie z.B. der biedere Bachelor (ca. drei Mio. in 2018). Die bloße Zurschaustellung von mittelmäßig attraktiven Körpern hätte vermutlich weniger Anziehungskraft – jedenfalls nicht für Menschen, die einen Computer haben –, wenn sie in keinerlei Kontext gestellt würden. Auch Self-Promoting im Netz mittels Nacktposen wird besser gelingen, wenn neben professionellen Fotos eine gute Story geliefert wird.

Allerdings ist die Tatsache, dass immer mehr mittelmäßig Schöne gezeigt werden, selbstwertdienlich. Wir Zuschauer erkennen, dass unser unperfektes Aussehen ein ganz normales Schicksal ist. Und wenn man durch die Formate ins Reden über bis dato Unausgesprochenes kommt, ist das ein Gewinn – vor allem, wenn man Freuds (noch unbewiesene) These vertritt, dass alles von Menschen verursachte Leid auf die Verdrängung des Sexualtriebes zurückzuführen ist.

Dr. habil. Jens Förster ist Diplom-Psychologe, Therapeut und Unternehmensberater. Er ist Direktor des neu gegründeten Systemischen Instituts für Positive Psychologie in Köln.

Manfred Nussbaum ist Diplomsozialarbeiter, Sexualpädagoge und Therapeut. Er ist Direktor des neu gegründeten Systemischen Instituts für Positive Psychologie in Köln.