Wir brauchen die Emotionen als Türöffner

Yves Bossart im Gespräch mit Maren Urner

Maren Urner ist Neurowissenschaftlerin, Professorin für Nachhaltige Transformation und eine Pionierin des Konstruktiven Journalismus. Sie ist der Meinung, dass die Politik und wir alle uns viel stärker mit unseren Emotionen auseinandersetzen sollten. Im Gespräch zu ihrem neuen Buch Radikal emotional: Wie Gefühle Politik machen erklärt sie warum.

Online seit 30.08.2024: https://mediendiskurs.online/beitrag/wir-brauchen-die-emotionen-als-tueroeffner-beitrag-772

 

 

In der Politik geht es gemeinhin um Interessen, um Fakten, um Werte wie Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und so weiter. Wo kommen da die Gefühle ins Spiel?

Werte und damit Überzeugungen sind natürlich nicht faktisch. Der Wert Freiheit z. B. ist nicht naturwissenschaftlich oder mathematisch gesetzt, weil wir uns darauf geeinigt haben, dass zwei und zwei vier ist. Freiheit ist ein Wert, eine Überzeugung oder ein Ziel, was wir gesellschaftlich verfolgen können und immer etwas mit Gefühlen und Emotionen zu tun hat. Und sehr wahrscheinlich ist Ihr Begriff oder Ihr Verständnis von Freiheit ein anderes als meines. Darüber können wir reden und uns austauschen. Dieser Austausch ist oft hochemotional, vor allem, wenn wir so tun, als ob es um reine Fakten gehen würde und damit ignorieren, dass es immer an unsere Grundfeste, unsere tiefsten Werte und Überzeugungen geht, wenn wir genau diese Begriffe diskutieren. Je lauter die Forderung nach rationalen Debatten ist, desto emotional aufgeladener wird es dann häufig.

Machen wir es konkret: Stichwort „Migration“ oder Stichwort „Klimawandel“. Wenn jemand für Nachhaltigkeit eintritt oder für Offenheit, inwiefern hat das mit Gefühlen zu tun?

Es hat etwas mit Gefühlen zu tun, weil es immer eine politische Frage ist. Was meine ich damit? Wenn ich mich für Nachhaltigkeit einsetze, spielt es eine große Rolle, wie Menschen gewichten, ob sie sich naturverbunden sehen, ob sie denken, verstanden zu haben, dass die Natur Teil unserer Lebensgrundlage ist und so weiter. Und jemand, der das nicht sieht, argumentiert dann dagegen und sagt, „na ja, aber es geht doch um Wohlstand. Es geht doch nicht darum, dass wir die Natur schützen müssen, sondern dass wir vor allem die Wirtschaft schützen müssen.“ Diese Welten prallen dann aufeinander und es wird nicht darüber geredet, was die zugrunde liegenden Werte sind.

Okay, das heißt also, wir reden aneinander vorbei, wenn wir nur über vermeintliche Fakten reden. Wir müssen vielmehr tiefer zu den Wurzeln unserer Überzeugungen und Werte gehen. Und das sind Emotionen. Das heißt, dann muss ich mir gar keine Mühe geben, andere mit Argumenten überzeugen zu wollen?

Nein, ein emotional reifer Umgang besteht nicht darin, aufzuhören, sich Mühe zu geben! Ich sage, die Emotionen sind immer der Türöffner, der es ermöglicht, überhaupt offen für Fakten zu sein, sie in unser Weltbild aufzunehmen und uns weiterzuentwickeln.
 


Je lauter die Forderung nach rationalen Debatten ist, desto emotional aufgeladener wird es dann häufig.“



Aber Sie werden jemanden, der die Rechtspopulisten gewählt hat, nicht mit Fakten zum Klimawandel oder Migration überzeugen können.

Das stimmt. Wir wissen seit Jahrzehnten, dass wir Menschen neben dem bekannten Immunsystem auch eine Art psychologisches Immunsystem haben. Wenn mir jemand etwas präsentiert, was nicht zu meinen Wertvorstellungen passt, was aber faktisch stimmt, dann werde ich noch vehementer dagegen argumentieren. Das heißt, nur wenn eine kommunikativ-emotionale Brücke, ich nenne es gern der kleinste gemeinsame Nenner, geschaffen ist, bin ich überhaupt bereit, mich auf etwas Neues einzulassen und zuzuhören.

Was sind überhaupt Gefühle? Sie sagen auch, eine Trennung zwischen Verstand und Gefühl gibt es nicht?

Nein, und das ist leider eine der faktisch falschen Geschichten, die wir uns über die Biologie und damit uns als Lebewesen erzählen. Denn Biologie und Psychologie sind untrennbar miteinander verbunden. Wir haben irgendwann in der Historie eine, aus meiner Sicht, absurde Trennung zwischen sowas wie Kopf und Bauch, Verstand und Emotion, oder Herz und Hirn, geschaffen. Das ist so fatal, weil wir aus den Neurowissenschaften längst wissen, dass wir nur Entscheidungen treffen können, wenn die emotionale und faktische Verarbeitung im Gehirn gut funktioniert.

Also ohne Emotion keine Entscheidung?

Richtig. Warum nicht? Weil wir keine Vorliebe haben. Wir können nicht – in der deutschen Sprache steckt es ja wunderbar drin – unter- oder entscheiden, weil keine Präferenz für das eine oder das andere besteht. Ich mache es ganz kurz greifbar anhand von einer Studie, die mit Patienten durchgeführt wurde, die eine Störung in dem Hirnbereich haben, wo dieses Zusammenspiel stattfindet. Ihnen wurde ein Vertrag vorlegt, neben dem ein blauer und ein grüner Stift lagen. Sie hatten die freie Wahl, entweder mit dem grünen oder dem blauen Stift zu unterschreiben. Für diese Patienten ist es unmöglich, hier eine Entscheidung zu treffen. Nur, weil wir Werte und Überzeugungen und die damit verbundenen Vorlieben und Emotionen haben, können wir überhaupt ent- und unterscheiden.

Gefühle sind ja oft sehr parteiisch. Ich würde mein Kind eher retten als ein fremdes Kind. Also oft korrigieren wir mithilfe des Verstandes oder der Vernunft auch unsere Gefühle, die oft irrational und unpassend sind.

Sind wir in einem Zustand von Angst und Unsicherheit und es geht darum, zu entscheiden, rette ich mein eigenes Kind oder eine mir nicht nahestehende Person, ist es wie in einer emotional aufgeladenen Debatte: Wir können uns nicht mehr reflektiert hinsetzen und eine Entscheidung für das Gemeinwohl treffen und Politik betreiben, die das fördert. Wenn das Wasser, und das ist jetzt kein blödes Wortspiel, bis zum Hals steht und einfach nicht mehr abgewogen werden kann, dann verfallen wir in den Zustand der Angst und Unsicherheit und treffen Entscheidungen, die noch mal kurzfristiger sind, als das Hirn ohnehin schon immer entscheidet.

Angst macht uns noch dümmer, sagen Sie. Wir streben nach Sicherheit und verlieren die große Perspektive. Und vor allem verwechseln wir manchmal unsere eigenen Gefühle. Denn Wut und Hass liegen oft Angst zugrunde.

Ja, und das nenne ich emotionale Unreife. Wir brauchen aber, und das ist meine Kernthese, mehr emotionale Reife, da wir eben aus diesem Unverständnis, was da eigentlich gerade in mir passiert, vermeintlich irrationale Entscheidungen treffen. Angst und Unsicherheit sind häufig das Samenkorn; der Anfang von eskalierenden Gefühlslagen.

Wir sollten eher auf das schauen, was uns verbindet, wenn wir politisch miteinander reden oder streiten, als auf das, was uns trennt – die gemeinsame Grundlage klären. Und das Zweite, was ich von Ihnen gelernt habe, ist, man sollte nicht schauen wogegen, sondern wofür ich eigentlich bin. Können Sie das verdeutlichen?

Was passiert im Kopf und damit auch im ganzen Körper, wenn ich gegen etwas bin? Dann kreiert das vor allem eine Abwehrhaltung. Ich schalte dann in einen Modus, der mit Angst einhergeht und im Körper dazu führt, dass die drei Fs an Verhaltensweisen zur Auswahl stehen: fight, flight or freeze, also kämpfen, flüchten oder erstarren. Ich bin dann nicht mehr in der Lage, das zu tun, was uns Menschen eigentlich von allen anderen Lebewesen unterscheidet, nämlich meine Vorstellungskraft zu nutzen und so aktiv die Zukunft mitzugestalten.
 


Sie gehen noch einen Schritt weiter und fordern ein Ministerium der Liebe. Man muss also nicht nur eine gemeinsame Grundlage finden, um über Lösungen zu sprechen, sondern Liebe? Was hat das mit Politik zu tun?

Was ist Liebe überhaupt? Gemeinhin haben wir die Vorstellung von etwas Romantischem. Liebe ist aber viel mehr. Im Kern ist es der Wunsch, den anderen oder die andere verstehen zu wollen. Und wenn wir das politisch nicht mitbringen, dann können wir auch nicht miteinander streiten. Wenn mein Bedürfnis darin besteht, vor allem den anderen zu deklassieren, fertig zu machen, meine Macht zu erhalten, wiedergewählt zu werden, was auch immer meine Motivation ist, dann wird Politik ad absurdum geführt. Denn Politik ist doch nichts anderes, als unser Zusammenleben zu gestalten. Und wenn wir das richtig machen wollen, muss es um ein gemeinsames Verstehen gehen.

Wie können Sie das auf Autokraten wie Putin oder Rechtspopulisten wie Trump anwenden?

Also ich persönlich allein natürlich nicht. Dafür brauchen wir viele Menschen, die genau das zulassen, die die emotionale Reife erlangen. Warum bekommen Personen wie Putin Macht? Wenn wir mit einer neuropsychologischen Brille auf die Geschichte der Menschheit schauen, können wir sehen, dass immer dann, wenn Unsicherheit und Angst besonders groß waren, Autokraten und Schlimmeres an die Macht gekommen sind – in dem Fall benutze ich bewusst keine weibliche Form, weil es tatsächlich immer Männer waren. Die vermeintlich einfachen Antworten fallen unter Angst und Unsicherheit auf noch mehr nahrhaften Boden in den Hirnen und Körpern von Menschen, weil sie sich noch stärker nach Sicherheit sehnen. Deshalb die Forderung nach dem Ministerium der Liebe. Menschen haben den Wunsch, einander verstehen zu wollen und damit gemeinsam ein gutes Leben zu haben. Nicht nur in einer Ehe, sondern eben auch in einem größeren Rahmen als Gesellschaft.
 


Wir brauchen aber, und das ist meine Kernthese, mehr emotionale Reife, da wir eben aus diesem Unverständnis, was da eigentlich gerade in mir passiert, vermeintlich irrationale Entscheidungen treffen.“



Sie haben 2016 ein Onlinemagazin gegründet mit dem Titel „Perspective Daily“. Das war das erste deutschsprachige Onlinemagazin für den sogenannten Konstruktiven Journalismus. Dabei geht es nicht darum, Negativschlagzeilen zu veröffentlichen, sondern positive Entwicklungen und vor allem Lösungen aufzuzeigen.

Ja, beim Konstruktiven Journalismus ist es nicht die Idee darüber zu berichten, was gut in der Welt läuft, sondern darüber nachzudenken, wie wir eigentlich weitermachen wollen.

Machen wir es konkret: Was heißt z. B. mit dem Blick auf den Krieg in Nahost Konstruktiver Journalismus?

Beim konstruktiven Kriegsberichterstattungsjournalismus geht es darum, zu fragen, was brauchen Menschen in den Kriegsgebieten gerade. Also welche Gefühle und damit körperlichen Voraussetzungen müssten stimuliert werden, damit Menschen mit derart schlimmen Situationen klarkommen, Stichwort Resilienz, und welche Ressourcen brauchen sie, um mit der Katastrophe besser umzugehen.

Aber da gehen die Meinungen auseinander! Die einen sagen: mehr Waffen, die anderen: keine Waffen.

Richtig, aber darüber konstruktiv zu streiten und nach dem Was-jetzt zu fragen ist dann wichtig. Es wird geklärt, was es bräuchte, und nicht, wogegen ich bin. Das kreiert eine andere Grundsituation.

Vor einigen Jahren wurde in einer geopolitisch hochexplosiven Lage der damalige US-Außenminister John Kerry gefragt, was passieren müsste, damit Massenvernichtungswaffen nicht eingesetzt werden. Das ist ein Beispiel für den konstruktiven Ansatz in der Kriegsberichterstattung par excellence! Es zeigt, wenn ich eine andere Frage stelle, kreiere ich eine andere mentale Welt, eine andere Möglichkeit und damit einen anderen Dialog.

Studien zeigen, dass viele Menschen regelmäßig aktiv den Nachrichtenkonsum meiden, weil er zu negativ ist. Kürzlich habe ich mit dem Psychiater Thomas Fuchs über Ängste und Ohnmachtsgefühle gesprochen.

Er hatte folgende Gedanken zur Nachrichtenvermeidung: „Zunächst einmal ist das eine verständliche Strategie. Die Geschwindigkeit und Verdichtung von Berichterstattung über Kriege erzeugen ein Gefühl von Ohnmacht. Ich bin konfrontiert mit einer Komplexität von Problemen, der ich kein eigenes Handeln gegenübersetzen kann. Das macht hilflos und ohnmächtig. Ohnmacht ist eine sehr ungute Verfassung für Menschen. Sie geht nämlich mit dem Gefühl von Handlungs- und Kontrollverlust einher und das führt zu Aggressionen, wenn es nicht nur um eine individuell empfundene Niederlage geht, sondern wenn ich den Eindruck bekomme, da stimmt insgesamt etwas nicht. Die Regierenden sind selbst nicht in der Lage, das Geschehen zu steuern. Der Kontrollverlust wird gewissermaßen an den politischen Eliten wahrgenommen. Das führt wiederum nicht zu Depressivität oder Angst, sondern zu einer Gegenreaktion; zu Groll, Verdruss, Feindseligkeit, Ressentiments. Das sind Gefühle, mit denen wir zunehmend zu tun haben.“ (Fuchs, 2024)

Frau Urner Sie sprechen von Medienhygiene, was nicht heißt, gar nichts zu lesen, sondern im Gegenteil.

Ja, genau, damit ist eher gemeint, sich, ähnlich wie bei der emotionalen Reife, bewusst zu machen und zu überlegen, was führe ich dem wahrscheinlich sensibelsten Organ, meinem Gehirn, da eigentlich zu. Wir reden alle über gesunde Ernährung, was gut und richtig ist. Das Gehirn wird, meiner Meinung nach, noch sehr vernachlässigt, wenn es darum geht: Was lassen wir da eigentlich rein?

Die Idee bei der Medienhygiene ist, dass meine Aufmerksamkeit in jedem Moment die wichtigste und einzigartigste Ressource ist, die wir haben und uns befähigt, bewusster zu entscheiden, was ich dort hineinlasse und was nicht. Wie möchte ich die Welt erfahren? Es ist im Übrigen mittlerweile nicht nur die wichtigste, sondern auch die wertvollste Ressource. Es wird mehr Geld mit der Ressource Aufmerksamkeit verdient als mit der zuvor wertvollsten Ressource Erdöl.

Sie sagen, wer ständig über die Probleme spricht, der generiert und verstärkt sie. Wer hingegen über Lösungen spricht, der schafft sie. Es braucht also einen Shift weg von dem, was uns vielleicht. auch evolutionsbiologisch anzieht – nämlich die Katastrophe – hin zu Medienhygiene, die viel Selbstkontrolle verlangt …

Aber damit auch die Freiheit. Echte Freiheit besteht darin, herauszufinden, was ich wirklich möchte. Das evolutionsbiologisch direktere sind negative Informationen, im Sinne von: Achtung, könnte das eine Gefahr und somit den Tod bedeuten. Es geht natürlich nicht darum, die Fakten zu ignorieren. Es geht um das bewusste Auswählen. Das ist der Kern von dem Freiheitsgedanken, den ich meine, sich bewusst zu machen, was mir hilft, die Welt besser zu verstehen, Fakten einzuordnen und dann, und das ist das Gegenmittel zur angesprochenen Hilflosigkeit, selbstwirksam etwas tun zu können.

Selbstwirksam ins Handeln zu kommen, fällt vielen von uns schwer. Zum Beispiel nachhaltig zu leben. Viele von uns würden wahrscheinlich unterschreiben, dass sie in Verhaltensmustern und Gewohnheiten gefangen sind und da nicht so einfach rauskommen. Was denken Sie, müssen wir tun?

Wir müssen erkennen, dass die schönere, (emotional) reifere und auch freiere Variante des Lebens darin besteht, sich das alles bewusst machen zu können. Zum Beispiel ehrlich zu sagen und zu hinterfragen, dass ich gerade Angst fühle. Ist es vielleicht, weil ich mich bedroht fühle, meinen Job zu verlieren? Dann können wir darüber sprechen – hier sind wir beim Thema Gewohnheiten –, wie wir die Strukturen ändern müssen, um eine möglichst angstfreie Gesellschaft zu bekommen.

Na ja, jetzt kommen natürlich rechte Politiker, die sagen, die Angst ist wegen der Ausländer:innen. Die Kriminalität ist da überproportional hoch. Es werden alle vermeintlichen Fakten aufgezählt und man zimmert sich eine Lösung zurecht.

Was natürlich totaler Quatsch ist.

Für Sie totaler Quatsch, aber man muss nun miteinander debattieren ….

Richtig. Aber es gibt jede Menge Studien, die belegen, dass eine Gesellschaft, die möglichst egalitär ist, die gesündere, zufriedenere und glücklichere Gesellschaft ist. Wenn Politiker Ängste und Unsicherheiten von Menschen bedienen, dann können sie vielleicht kurzzeitig die Macht übernehmen, aber es ist immer so, dass es der Mehrheit der Menschen dann nicht gut geht.

Greta Thunberg hat zum Beispiel den Satz gesagt: „I want you to panic!“ Da wird auch Angst instrumentalisiert. Man kann den Vorwurf also nicht nur rechten politischen Gruppierungen machen.

Deswegen ist es so wichtig, über die emotionale Reife dahin zu kommen. Also zu fragen, was sind die unterschiedlichen Gefühlslagen im Raum, die dann zu den unterschiedlichen Argumentationssträngen führen. Panik ist nicht gut, weil sie, genau wie die Angst und die Unsicherheit, ein schlechter Berater ist. Was aber wichtig ist, ist die Angst zu benennen, weil sie mir dann zeigt, was ich wichtig finde. Sie zeigt mir als Individuum und uns als Gesellschaft, was unsere Werte sind und nur dann kann ich auch etwas dagegen tun. Deshalb ist die Angst nicht negativ, sondern der Umgang damit kann negativ sein.
 


Echte Freiheit besteht darin, herauszufinden, was ich wirklich möchte.“



In Ihrem Buch sagen Sie an ihre Leser:innen gerichtet, Natur ist etwas, was euch wichtig sein sollte, denn sie ist ein Teil von euch und andersherum. Es ist letztlich selbstzerstörerisch, das zu ignorieren. Man muss also nicht nur langfristig denken, sondern auch langfristig fühlen und so ins Handeln kommen?

Absolut. Jeder Gedanke ist mit Gefühlen verbunden. Und es ist auch wichtig zu begreifen, wie meine Umwelt und Umgebung mich fühlen lassen. Bin ich gerade hungrig, bin ich durstig, habe ich gute oder schlechte Laune – all das beeinflusst, ob ich überhaupt in der Lage bin, egal ob in einer Prüfungssituation oder in einer politischen Frage, zu denken. Nur wenn wir das anerkennen, können wir begreifen, dass wir abhängig oder verbunden mit allem um uns herum sind, und können diesen schrägen Individualismus, der uns irgendwie eingebläut wird – politisch, bildungstechnisch, gesellschaftlich –, vergessen. Er ist einfach faktisch falsch. Wir sind immer abhängig und verbunden.

Emotionale Reife ist wichtig, das lösungsorientierte Nach-vorn-Schauen, dynamisch bleiben, ein angstfreies Denken ebenso. Aber wichtig sind auch bestimmte Gesetze und Verbote. Zum Beispiel wurde durch die KlimaSenorinnen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erwirkt, dass die Schweiz mehr machen muss für den Klimaschutz. Ist das die richtige Strategie über dieses Recht zu gehen?

Ich denke, es ist ein wichtiger Bestandteil davon. Das Feld der Klimaklagen ist extrem angestiegen. Auf der einen Seite geht es um die Frage, was wir richtig finden. Was bedeutet Menschenschutz? Was bedeutet „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ in diesem Zusammenhang? Das bedeutet, dass ich Luft zum Atmen und eine Lebensgrundlage haben muss. Um das erreichen zu können, brauchen wir verschiedene Bestandteile: eine Rechtsgrundlage, die das möglichst einfach macht, und auch Unternehmen, die aufgrund dieser Rechte Optionen anbieten, die möglichst nicht selbstzerstörerisch sind, sondern die langfristig dafür sorgen, dass Menschen auf diesem Planeten gut leben können. Deshalb ist die Rechtsfrage aus meiner Sicht eine ganz wichtige, weil sie nicht nur klärt, was erlaubt ist, sondern auch, was normal ist. Und da sind wir wieder bei den Gewohnheiten: Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, weil er sich immer nach einer gewissen Normalität sehnt. Warum? Weil das Energie spart. Gewohnheiten sind nichts anderes als ein Energiesparmodus.

Veränderung ist anstrengend …

Richtig. Gleichzeitig ist es das Schönste, was der Mensch machen kann, weil sich Veränderung, wenn sie selbstbestimmt ist, gut anfühlt.

Sie sagen, es gibt eine bestimmte kritische Masse für soziale Umwälzungen, die liegt bei ungefähr 25 % der Gesamtbevölkerung. Studien zeigen aber, dass wir einer kognitiven Verzerrung unterliegen, weil wir denken, die Leute sind konservativer, als sie eigentlich sind, und damit nicht bereit für Veränderungen. Da täuschen wir uns anscheinend systematisch?

Richtig. Das ist die sogenannte Pluralistische Ignoranz. Wir gehen davon aus, dass die Mehrheit konservativer ist, als es tatsächlich der Fall ist. Studienergebnisse aus den USA beispielsweise, die die Unterstützung einer progressiven Klimapolitik abfragen, zeigen, dass knapp 100 % der Befragten die Zustimmung in der US-amerikanischen Bevölkerung für entsprechende Maßnahmen unterschätzen! Ein dramatischeres Studienergebnis kann man sich gar nicht vorstellen.

Warum haben dann die Rechtspopulisten und Klimaleugner so einen großen Rückhalt?

Jetzt sind wir wieder bei der Medienhygiene. Die Informationen, die ich in den Medien bekomme, füttern genau das. Die mediale Verantwortung für alle Anbieter ist hier enorm, weil sie für Weltbilder sorgen und damit für das, was in Hirnen und Menschen passiert und was sie denken, fühlen und leben können.

Das klingt eigentlich gar nicht so düster. Das macht Hoffnung.

Ja, wir müssen nur viel mehr darüber reden und es weitertragen.

 

Anmerkung:

Die Inhalte des Interviews beruhen auf der Sendung Sternstunde Philosophie vom 16. Juni 2024.


Quellen:

Fuchs, T.: Macht uns die Gesellschaft krank? In: Sternstunde Philosophie vom 07.01.2024.

Maren Urner ist Neurowissenschaftlerin und Autorin sowie Professorin für Nachhaltige Transformation und Mitgründerin von PERSPECTIVE DAILY.

Yves Bossart ist Philosoph, Buchautor und Moderator der Sendung STERNSTUNDE PHILOSOPHIE und des SRF-Talk FOCUS.