Zwischen „Cyber Sickness“ und „Pfad der Erleuchtung“

medien impuls am 24. November 2016 in Berlin: Virtual Reality und die Illusion von Wirklichkeit

Stefan Förner

Stefan Förner ist Pressesprecher des Erzbistums Berlin.

„Ein gutes Geschenk eröffnet eine ganze Galaxie.“ Es war beinahe so, als würde die medien impuls-Veranstaltung gar nicht enden wollen. Die letzte Anmerkung zum Thema „Virtual Reality“ (VR) kommt auf dem Nachhauseweg vom Bauzaun am Stadtschloss. Überlebensgroß wirbt da ein namhafter Hersteller u.a. von Smartphones für seine 360-Grad-Kamera und die dazu passende VR-Brille. Schließlich steht Weihnachten vor der Tür.  

Online seit 08.12.2016: https://mediendiskurs.online/beitrag/zwischen-cyber-sickness-und-pfad-der-erleuchtung/

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Unter dem Titel In der Tiefe des Raumes – Virtual Reality und die Illusion von Wirklichkeit hatten die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) und die Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter (FSM) am 24. November 2016 nach Berlin eingeladen. Im Zentrum der Veranstaltung stand die Beschäftigung mit einem Phänomen, das viele bisher noch nicht selbst erlebt haben, und mit einem Markt, der noch wächst – oder jedenfalls wachsen soll, wenn man der Werbung folgt.

Für Jan-Keno Janssen vom Computermagazin „c’t“ ist der Markt für Hardware im Bereich „Virtual Reality“ noch überschaubar – die VR-Brille für Playstation sei rund zwei Mio. Mal verkauft worden, Oculus Rift bewege sich lediglich im sechsstelligen Bereich. Auch Marek Brunner, Leiter des Testbereichs bei der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK), schätzt die ökonomische Bedeutung von VR eher niedriger ein. Laut der Marktforscher von NPD-Group ist das wirtschaftliche Potenzial von ursprünglich acht auf zwei Mrd. US-Dollar reduziert worden.

Durchbruch oder für tot erklärt?

Für Robert Cibis (OVALmedia), selbst ernannter „Hersteller von Erzählwelten“ („Ich habe meinen Beruf gewechselt, früher war ich Filmemacher“), ist das aber kein Hinweis darauf, dass VR schon wieder – oder immer noch? – auf dem absteigenden Ast ist. Er verweist auf den „Hype-Zyklus“, wonach jede neue Technologie zunächst einen schwindelerregenden Anstieg erlebe, dann abstürze, um sich schließlich auf dem „Pfad der Erleuchtung“ zu konsolidieren. Sein historischer Vergleich: 2009 habe Avatar als der Durchbruch in der 3D-Technik gegolten, 2011 sei 3D für tot erklärt worden, mittlerweile gebe es – auch dank kostengünstiger digitaler Projektion – mehr und mehr 3D-Filme, die insbesondere beim jüngeren Publikum stark nachgefragt seien. Für VR heiße dies, dass man zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch keine verlässlichen Aussagen über den Erfolg oder das Scheitern treffen könne.

„… dass vieles mit einem geschieht, ohne dass man es weiß“

Professor Dr. Tilo Hartmann (Freie Universität Amsterdam) lenkte den Blick auf „medienpsychologische Implikationen und Effekte“ von VR: „Ich könnte mir vorstellen, dass vieles mit einem geschieht, ohne dass man es weiß“, so sein Fazit. Hartmann legte dar, dass VR viel stärker als andere Medien auf die Nutzer wirke. Auch wenn man wisse, dass VR nicht Realität nach herkömmlicher Definition sei, so fühle „es sich doch real an“.

Und auch, wenn Robert Cibis dies als das Ziel aller darstellenden Künste postulierte – „das wichtigste Ziel eines Filmemachers ist es, dass der Zuschauer vergisst, dass er einen Film sieht“ –, so beharrte Hartmann darauf, dass im Bereich von VR der „re-entry“, die Rückkehr in die wirkliche Wirklichkeit, schwieriger, die Möglichkeiten der Distanzierung geringer seien. Im Kino könne man weggucken, das Buch lasse sich zuklappen. Sich die VR-Brille vom Kopf zu reißen, sei schwieriger.

Anwendungsmöglichkeiten auch in der Therapie

Die positiven Implikationen der virtuellen Realität sind auch für Hartmann nicht von der Hand zu weisen: Neben Erholung und Unterhaltung spielt VR schon jetzt beim Training und der Ausbildung von Medizinern und Piloten eine große Rolle. Auch in der Konfrontationstherapie macht man sich die Möglichkeit zunutze, in fremde Welten allein durch eine Brille einzutauchen: Anwendungsmöglichkeiten gibt es sowohl bei der Konfrontation mit einer Spinnenphobie, mit Höhenangst oder mit erlittenen Traumatisierungen als Soldat.

Wenn der – vermutlich hartgesottene – „c’t“-Redakteur nach einem Besuch im „ersten virtuellen Freizeitpark“ („Die Zeit“) The Void und der Vorführung von noch nicht veröffentlichtem Material „mit Aliens und so“ ohne Not von echter Angst spricht, wenn er eingesteht, mit der VR-Brille auf dem Kopf keinen Schritt nach vorn zu wagen, weil da virtuell ein Loch im Boden sei, dann ist man geneigt, den von Hartmann geäußerten Bedenken ein wenig länger zu folgen. Ob sich die Bedenken gegenüber VR genauso auflösen wie gegenüber dem Kino, kann jedenfalls heute noch nicht sicher entschieden werden. 1895 rannten die Zuschauer angeblich bei einer Vorführung der Brüder Lumière aus einem Café – in der Angst, von dem Zug überrollt zu werden, der im Film auf dem Bahnhof in La Ciotat einfuhr. Mittlerweile wird diese Geschichte in den Bereich der modernen Sage verwiesen bzw. müde belächelt.

„Sich die Seele aus dem Leib kotzen“

Wird es sich mit der Zeit auch bei VR richten? Wird eine Gewöhnung eintreten? Janssen und Hartmann bleiben skeptisch und verweisen auf das Phänomen der „Simulator Sickness“ oder „Cyber Sickness“. Denn ungelöst ist, dass nach wie vor unterschiedliche und widersprüchliche Reize das Gehirn erreichen. Das, was die Augen sehen, was das Gleichgewicht wahrnimmt und was die Haut fühlt und wahrnimmt, ist im aktuellen Stand der VR nicht kongruent. Die Reaktion des menschlichen Körpers ist häufig recht eindeutig: „Sich die Seele aus dem Leib kotzen“, das zählt Marek Brunner zu einem der drei Argumente, warum Entwickler derzeit keine längeren Spiele für VR entwickeln; oder anders gesagt: Sensorik und Motorik sind gekoppelt. Wenn sie in VR getrennt werden, muss das gut funktionieren, damit dem Nutzer nicht tatsächlich übel wird.

Janssen ist optimistisch, dass es hier zu einer Verbesserung und Erweiterung der technischen Möglichkeiten kommen wird. Derzeit entstünden im Wochentakt neue Dinge, das gehe auch so weiter.

Darauf setzt auch Robert Cibis, Produzent und Regisseur von Dokumentar- und Spielfilmen. Für ihn ist VR letztlich eine technische Weiterentwicklung, die sich „Hersteller von Erzählwelten“ zunutze machen würden. Er ist davon überzeugt, dass man sich jede Darstellungsform aneignen kann, so auch VR. Die Technik stecke noch in den Anfängen. Ein und dieselbe Sequenz von bis zu acht Kameras gleichzeitig aufzuzeichnen, auch einen entsprechenden Ton zu erzeugen, sei das kleinere Problem. Schwierigkeiten bereite nach wie vor das sogenannte Stitching, das plausible Zusammennähen der einzelnen Kameraperspektiven zu einem einzigen Bild bzw. Film. Gerade bei Nahaufnahmen sei dies ein großes Problem, was sich aber durch die technische Entwicklung lösen werde.

„Ist Wirklichkeit nicht immer Konstruktion?“

Am Rande der Tagung bestand die Möglichkeit, VR in wirklicher Anwendung zu erleben. Um sich an den Anblick von Menschen mit VR-Brillen auf dem Kopf und einem dicken Kabel hintendran zu gewöhnen, wird es vermutlich noch eine ganze Weile brauchen. Sobald man sie dann aber selbst auf dem Kopf hat, sieht die Welt tatsächlich ganz anders aus. Gleichzeitig läuft man Gefahr, süchtig zu werden nach den virtuellen Realitäten. Und man stellt sich unwillkürlich die Frage, die Prof. Joachim von Gottberg schon zu Beginn der Veranstaltung aufwarf: „Was ist denn eigentlich die Wirklichkeit? Ist sie nicht immer schon Konstruktion?“

Am Ende werden wir alle über die Zukunft von VR entscheiden. VR wird es nur geben, wenn wir als Konsumenten es sinnvoll und unterhaltsam finden. Wenn nicht, dann können sich Entwickler ausdenken, was sie wollen.

Mehr zur Veranstaltung:
Veranstaltungsseite auf fsf.de
Pressemitteilung
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