20 Jahre TV DISKURS

Impressionen im Schnelldurchlauf

Gerd Hallenberger

Dr. habil. Gerd Hallenberger ist freiberuflicher Medienwissenschaftler.

20 Jahre tv diskurs stellen eine bemerkenswerte Leistung dar, und das Jubiläum reizt natürlich zum Nachfragen: Was hat sich in diesen 20 Jahren eigentlich verändert? Was ist gleich geblieben? Wenn man sich anhand des Online-Archivs einen Überblick verschafft, stellen sich unweigerlich drei Eindrücke ein. Erstens: Es gibt tatsächlich das Phänomen des rasenden Stillstands. Zweitens: Nichts und niemand ist eine Insel, und das anzuerkennen bedeutet Fortschritt. Klingt vielleicht rätselhaft, ist es aber nicht. Drittens: Abgesehen von diesen beiden Konstanten gibt es in tv diskurs aber auch thematische Moden und Trends.

Online seit 21.04.2017: https://mediendiskurs.online/beitrag/20-jahre-tv-diskurs/

Vollständiger Beitrag als:

 

Jugendmedienschutz und rasender Stillstand

Dieser Eindruck kommt dadurch zustande, dass sich in bestimmten Bereichen in kürzester Zeit sehr viel verändert hat, in anderen vollziehen sich Entwicklungen allenfalls in Zeitlupe. Blöd ist nur, wenn beide Bereiche eng miteinander verbunden sind. Für den zweiten Fall stehen vor allem die juristischen Rahmenbedingungen des Jugendmedienschutzes in Deutschland, die von Ausgabe 1 an eine wichtige Rolle in tv diskurs gespielt haben. Lang war der Weg von der Gründung der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) im Jahr 1993 bis zu ihrer offiziellen Anerkennung im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag, der 2003 in Kraft trat, noch länger der Weg bis zu dessen Novellierung im Jahr 2015 nach einem gescheiterten ersten Versuch 2010. Zudem fällt es einem Nicht-Juristen wie dem Autor dieses Textes schwer, Kolleginnen und Kollegen aus anderen Ländern zu erklären, warum in Deutschland öffentlich-rechtliche und private Sender unterschiedlichen Regelungen unterliegen und am Jugendmedienschutz weiterhin vier verschiedene Selbstkontrollen sowie 14 Landesmedienanstalten beteiligt sind.

Mindestens ebenso oft findet man in tv diskurs Texte, die sich mit dem ersten Bereich beschäftigen, nämlich der realen Medienentwicklung und ihren Konsequenzen. Und die war äußerst rasant: Als die erste Ausgabe erschien, gab es laut Angaben der Fachzeitschrift Media Perspektiven gerade einmal 4 Millionen Internetnutzer in Deutschland (6,5 % der Bevölkerung), 2016 waren 58 Millionen (83,8 %). Mit anderen Worten: Es hat eine veritable Medienrevolution stattgefunden.
 

Nichts und niemand ist eine Insel

Diese Zwischenüberschrift verdient geradezu ein Ausrufezeichen am Ende, denn hierbei handelt es sich um so etwas wie ein Leitmotiv der Fachzeitschrift tv diskurs.

Dass es erstens nicht so etwas wie einen rein deutschen Jugendmedienschutz geben kann, veranschaulichten von Anfang an Blicke über den geografischen Tellerrand, verbunden mit der Frage, ob es irgendwann zu einem gemeinsamen europäischen Jugendmedienschutz kommen wird. Überall stellen sich die gleichen Fragen, mit denen überall unterschiedlich umgegangen wird. Aber daraus lässt sich vielleicht etwas lernen, was zu zukünftigen Gemeinsamkeiten führt.

Zweitens ist kein einzelnes Medium eine Insel. Jugendmedienschutz im Fernsehbereich kann nur dann zu sinnvollen Ergebnissen führen, wenn alle anderen Medien, die zur Medienumgebung von Kindern und Jugendlichen gehören, immer mitgedacht werden. Als logische Konsequenz lassen sich in tv diskurs zahlreiche Beiträge finden, die sich zum Teil mit dem Vorläufermedium Film beschäftigen, zum Teil mit Computerspiel und Internet. Und das schon sehr früh: Schon im ersten Jahr, 1997, als nur eine kleine Minderheit Netzzugang hatte, fragte ein Beitrag in Ausgabe 3: „Wie ‚gefährlich’ ist das Internet?“

Drittens schließlich ist auch keine einzelne Fachwissenschaft eine Insel. Von Anfang an war tv diskurs offen für Beiträge aus vielen unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen, sofern sie denn etwas Wichtiges zum Diskurs beizutragen haben.
 

Moden

Moden haben generell die Eigenschaft, nur begrenzte Zeit aktuell zu sein – und danach irgendwie komisch auszusehen. Das gilt nicht nur für die immer wieder gern belächelte Herrenmode der 1980er-Jahre, sondern auch für Aufregerthemen in tv diskurs. In den ersten Jahren wurden beispielsweise immer wieder die Talkshows im Nachmittagsprogramm des Privatfernsehens diskutiert, später dann Gerichts- und Castingshows. Singuläre Phänomene werden besonders schnell vergessen: Wer erinnert sich noch an die vermeintlich blasphemische MTV-Produktion Popetown oder die Diskussion um die Altersfreigabe für den Film Keinohrhasen, die auch in tv diskurs dokumentiert wurde? Wer es nicht tut, leidet vielleicht schon an „digitaler Demenz“, einer Schreckensvision von 2012 (siehe tv diskurs 63 und 64) – falls wir die als Folge intensiver Mediennutzung nicht ebenfalls schon vergessen haben.
 

Trends

Eine Durchsicht der Inhaltsverzeichnisse lässt vor allem einen langfristigen Trend erkennen: tv diskurs hat sich thematisch geöffnet. Zu Beginn ging es hauptsächlich um drei Schwerpunkte: erstens um aktuelle Fernsehangebote, die konkrete Jugendschutzprobleme mit sich brachten, zweitens die klassischen Jugendschutzthemen (Gewalt, Sex, Angsterzeugung, sozial­ethische Desorientierung) und drittens die Diskussion der Grundsatzfragen, was Jugendmedienschutz heute leisten kann, soll und müsste? Diese Schwerpunktsetzung war naheliegend, denn die FSF war ja auch noch sehr neu und tv diskurs ein wichtiges Hilfsmittel der (Selbst‑)Verständigung.

In neuerer Zeit werden die Heftthemen deutlich breiter und greifen oft allgemeine gesellschaftliche Themen mit Medienbezug auf. Wo die Gesellschaft insgesamt, vor allem aber Kinder und Jugendliche, Probleme mit oder durch Medien haben oder Medien eine wichtige Rolle bei der Problemlösung spielen oder spielen sollten, da liegen Themen für tv diskurs.

Frühe Ausgaben erschienen mit Titeln wie „Angst. Warum schauen wir uns Gewaltdarstellungen an?“ (Ausgabe 2) oder „Gespräche ohne Grenzen? Talkshows in der Diskussion“ (Ausgabe 5). Heute lauten sie eher „Vorbilder. Unsere Suche nach Idealen“ (Ausgabe 65) oder „Im globalen Dorf. Wie Medien unser Leben neu organisieren“ (Ausgabe 75). Besonders deutlich wird der Wandel bei verwandten Themen – ging es in Ausgabe 3 um „Lust statt Liebe? Probleme der Darstellung von Sexualität in den Medien“, war es in Ausgabe 57 „Der Lustfaktor. Sexualisierte Medien – sexualisierter Alltag?“.

Wenn man es genau nimmt, ist aus tv diskurs schon längst ein medien diskurs geworden. Und das ist auch gut so.