Die vierte Wand

Gerd Hallenberger

Dr. habil. Gerd Hallenberger ist freiberuflicher Medienwissenschaftler.

In dieser Folge des Medienlexikons geht es um die „vierte Wand“.

Printausgabe mediendiskurs: 28. Jg., 2/2024 (Ausgabe 108), S. 72-73

Vollständiger Beitrag als:

Das Verhältnis von Medienrealität zu Realität, von medialer Inszenierung zu außermedialem Sein, ist zwar ein sehr modernes Thema, hat aber tatsächlich eine Jahrhunderte umspannende Geschichte. Die „vierte Wand“ ist ein Stichwort, anhand dessen sich zahlreiche damit verbundene Probleme veranschaulichen lassen. Als Urheber des Konzepts gilt der französische Schriftsteller und Philosoph Denis Diderot (1713–1784), der im 18. Jahrhundert für ein neues Theater plädierte, das dem Geschehen auf der Bühne erstmals einen autonomen Wert zugestand.

Das war bis dahin unüblich. Im griechischen Theater der Antike gab es die vermittelnde Instanz des „Chors“, der eine Verbindung zwischen Schauspielern und Publikum herstellte, auch später war die Trennung zwischen Bühne und Publikum keineswegs absolut. Das lag u. a. daran, dass der Besuch eines Theaters bisweilen nicht nur dem Kunstgenuss, sondern auch Gesprächen mit anderen Besucher:innen oder dem Verzehr von Speisen und Getränken diente. Als Folge traten Schauspieler gelegentlich aus ihrer Rolle und sprachen zum Publikum, um es in das Bühnengeschehen einzubeziehen oder um auf lautstarke Kommentare zu reagieren.

Nach den Vorstellungen Diderots sollten die Schauspieler so agieren, als ob es eine unsichtbare Wand zwischen Bühne und Publikum gäbe. Damit änderte sich auch die Raumvorstellung. Egal was auf der Theaterbühne geschah, bislang war allen Anwesenden klar, dass sie Teil einer Aufführungssituation waren, wenn auch in unterschiedlichen Rollen. Die „vierte Wand“ machte aus dem einen gemeinsamen Raum zwei getrennte.
 

 

Einerseits war da der Bühnenraum, in dem Schauspieler:innen ein Stück aufführten, andererseits der Publikumsbereich. Dort ließ sich beobachten, was auf der Bühne geschah, aber es konnte nicht eingegriffen werden. Auf der Bühne vollzog sich darüber hinaus eine Handlung, die das Publikum nicht nur ignorierte, sondern überhaupt nichts von einem Publikum wusste. So entstanden zwei Welten – da war die erzählte Welt, die erst im Schauspiel entstand, und zusätzlich die Welt des Erzählens, in der dieses Spiel vor einem Publikum aufgeführt wurde.

Ein solches Illusionstheater hat u. a. technische Voraussetzungen. Damit das Publikum für den Augenblick der Rezeption darüber hinwegsehen kann, dass das Gesehene nur Aufführung ist, muss die Illusion materiell fundiert sein. Zwar kannte bereits die griechische Antike raffinierte Maschinen zur Erzeugung verblüffender Effekte, aber die Möglichkeiten waren doch noch sehr beschränkt. Der bekannteste dieser Effekte ist der „Deus ex Machina“, eine Gottheit, die mithilfe einer kranartigen Konstruktion in die Szene hineinschwebte. Auch zu Diderots Zeiten konnten Bühnenbild und Requisite nur auf bescheidene Optionen zurückgreifen, Wanderbühnen sogar auf noch weniger.
 


Mit Film und Fernsehen erlangte die „vierte Wand“ eine völlig andere Qualität. War sie im Theater noch eine Illusion, die sich gegen die Realität der Präsenz von Publikum und Schauspieler:innen am gleichen Ort zur gleichen Zeit behaupten musste, war sie nun unübersehbare Tatsache.“



Mit Film und Fernsehen erlangte die „vierte Wand“ eine völlig andere Qualität. War sie im Theater noch eine Illusion, die sich gegen die Realität der Präsenz von Publikum und Schauspieler:innen am gleichen Ort zur gleichen Zeit behaupten musste, war sie nun unübersehbare Tatsache. Sie hatte sogar einen eigenen Namen: Leinwand oder Bildschirm. Die Welt des Erzählens und die erzählte Welt waren zumindest räumlich getrennt, außer bei Livesendungen des Fernsehens auch zeitlich.

Wo Wände trennen, entsteht der Impuls, sie einzureißen. Für Bertolt Brechts „episches Theater“ war das sogar eine Grundlage: Es sollte keine Illusion zum Genuss bieten, sondern durch Brüche und dem Spiel mit der Spielsituation das Publikum zum Denken provozieren. Didaktischen Ambitionen bei Brecht und vielen anderen Theatermacher:innen entsprach bereits beim frühen Kinofilm die Absicht, mit dem Durchbrechen der „vierten Wand“ spektakuläre Effekte zu erzielen. Und das mit großem Erfolg. Bis heute ist die Schlussszene von The Great Train Robbery (1903) fester Bestandteil der Filmgeschichte: Der von Justus D. Barnes gespielte Räuber zieht seinen Revolver, richtet ihn auf die Kamera, also auf das Publikum, und schießt.

The Great Train Robbery (1903) (Old Films and Stuff, 14.10.2026)



Viele Filme benutzen die direkte Adressierung des Publikums als Stilmittel, um die „vierte Wand“ zu durchbrechen, es kann aber auch auf andere Weise geschehen – etwa durch Selbstreflexion handelnder Figuren, dass sie ja nur fiktionale Charaktere seien, oder das Vorführen alternativer Versionen einer Handlungssequenz. Weitaus häufiger geschieht dies jedoch beim Fernsehen. Der Fernsehapparat in der Wohnung wurde – vor allem in seiner Anfangszeit – nicht als eine Art „Wand“ wahrgenommen, sondern im Gegenteil als ein „Fenster“, nämlich ein Fenster zur Welt. Und aus einem Fenster kann man nicht nur hinausblicken, andere Personen können durch das Fenster auch in die eigene Welt hineinblicken.

Vor allem in nonfiktionalen Genres wird das Publikum oft direkt adressiert: Nachrichtensprecher:innen, Moderator:innen und in den ersten Jahrzehnten des Mediums Ansager:innen tun so, als ob sie jede einzelne Zuschauerin und jeden einzelnen Zuschauer persönlich ansprächen. Neben dieser bloßen Simulation lässt sich schon seit Langem die „vierte Wand“ tatsächlich durchbrechen, indem Handlungen auf der Publikumsseite Auswirkungen auf das Bildschirmgeschehen haben. Die ZDF-Spielshow Der goldene Schuss (1964–1970) führte interaktives Fernsehen gleich als Spiel über drei mediale Banden vor: Zuschauer:innen bewarben sich per Postkarte um die Teilnahme; wurden sie ausgewählt, steuerten sie per Telefon eine mit einer Fernsehkamera verbundene Armbrust.
 

Sendeschluss Folge 11: „Der goldene Schuss“ (FKTV Sendeschluss, 24.11.2014)



Neuere Technologien machen die „vierte Wand“ in gewisser Weise vollkommen durchlässig, wenn etwa beim Gaming Repräsentant:innen der Spielenden an Konsole oder Monitor das Geschehen in der gespielten Welt bestimmen. Bald werden dank Virtual-Reality-Technologien auch noch solche zwischengeschalteten Avatare überflüssig: Dann kann man scheinbar tatsächlich auf der anderen Seite der medialen Wand „leben“. Aber egal, welche wunderbare Heldenreise man virtuell erlebt, die profane Realität fordert weiterhin ihren Tribut. An der Befriedigung körperlicher Bedürfnisse führt kein Weg vorbei, und auch die Miete muss noch bezahlt werden.