Bundesverfassungsgericht stärkt Meinungsfreiheit

Vor 65 Jahren fällt das Gericht das sogenannte Lüth Urteil

Artikel 5 des Grundgesetzes garantiert eine sehr weit gehende Meinungsfreiheit. Aber gilt die auch für das Verhältnis der Menschen untereinander oder bezieht sie sich nur auf das Verhältnis des Einzelnen gegenüber dem Staat? Im Lüth-Urteil vom 15. Januar 1958 weitet das Bundesverfassungsgericht die Meinungsfreiheit auch auf die private Rechtsordnung aus.

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Veit Harlan ist heute vor allem als NS-Regisseur bekannt. Sein antisemitischer Film Jud Süß von 1940 gilt als Blockbuster der Nazizeit und darf auch heute nur noch unter strengen Auflagen, zum Beispiel für wissenschaftliche oder pädagogische Zwecke, gezeigt werden. Die Nationalsozialisten haben den Propagandafilm in Auftrag gegeben, er war sehr erfolgreich und erreichte mehr als 20 Mio. Zuschauer.

Harlan war der einzige Regisseur, der sich nach dem Krieg vor Gericht für seine „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ während der NS-Zeit verantworten musste: Harlan habe mit diesem Film indirekt zum millionenfachen Mord an europäischen Juden beigetragen, der Film habe „zu einer Enthemmung der Täter“ beigetragen. Allerdings wurde Harlan 1949 von diesem Vorwurf freigesprochen. (Arp 2023)

Danach drehte er wieder Filme. Anfang der 1950er-Jahre erschien der Film Unsterbliche Geliebte, die Verfilmung einer Novelle von Theodor Storm, und wieder war der Film erfolgreich. Dass allerdings ein Nazi-Regisseur auch in der Bundesrepublik wieder arbeiten kann, führte zu zahlreichen Protesten, sodass der Film vor allem in kleineren Städten gezeigt wurde, um große Proteste zu vermeiden. Der sozialistische Jugendverband Die Falken forderte ein Aufführungsverbot des Films.

Das Comeback Harlans erboste auch den Publizisten Erich Lüth, damals Pressesprecher des Hamburger Senats, und er rief öffentlich zum Boykott des Films auf. Für ihn war Harlan der „Nazi Film-Regisseur Nummer 1”. Lüths Position: „Das moralische Ansehen Deutschlands in der Welt darf aber nicht von robusten Geldverdienern erneut ruiniert werden. Denn Harlans Wiederauftreten muß kaum vernarbte Wunden wieder aufreißen und abklingendes Mißtrauen zum Schaden des deutschen Wiederaufbaues furchtbar erneuern. Es ist aus allen diesen Gründen nicht nur das Recht anständiger Deutscher, sondern sogar ihre Pflicht, sich im Kampf gegen diesen unwürdigen Repräsentanten des deutschen Films über diesen Protest hinaus auch zum Boykott bereitzuhalten.“ (Lüth, zitiert nach Reissenberger 1999)

Das gefiel Harlans Produzenten Hans Domnick und dem Verleiher, der Herzog-Film GmbH, nicht und beide verklagten Lüth auf Unterlassung: Der Boykottaufruf sei sittenwidrig. Das Landgericht Hamburg folgte der Klage und verhängte eine einstweilige Verfügung gegen Lüth: Für den Fall der Wiederholung dieses Boykottaufrufs drohten ihm 110.000 DM Geldstrafe. (Reissenberger 1999)

Lüth ging den Weg durch die Instanzen und blieb zunächst erfolglos. Aber er wollte diese Niederlage nicht hinnehmen und wählte den Weg zum Bundesverfassungsgericht. Dort blieb seine Klage zwar sieben Jahre lang liegen, war dann aber letztlich erfolgreich: „Ich wurde in allen Instanzen verurteilt und dann nach sieben Jahren, nachdem alle mir schon den Rücken gekehrt hatten, erhielt ich vor dem Verfassungsgericht das obsiegende Urteil.“ (Lüth 1958, zitiert nach Reissenberger 1999)

Und das hatte weitreichende Folgen: Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15.01.1958 ging als „Lüth-Urteil“ in die Rechtsgeschichte ein und wird insgesamt als Stärkung des Grundrechts auf Meinungsfreiheit bewertet. Andreas Voßkuhle, von 2010 bis 2020 Präsident des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe, erläutert die Bedeutung des Urteils: „Das Besondere war, dass zum ersten Mal das Bundesverfassungsgericht sich in einen Zivilstreit einschaltete und etwas feststellte, was sich als bahnbrechend erweisen sollte. Nämlich, dass die gesamte Rechtsordnung und auch die Zivilrechtsordnung, wo es um die private Rechtsordnung untereinander geht, dass die gesamte Zivilrechtsordnung geprägt wird durch die Grundrechte.“ (Voßkuhle in Arp 2023). Zahlreiche weitere Rechte der Meinungsfreiheit wurden durch dieses Urteil begründet, so die Pressefreiheit, die Rundfunkfreiheit und die Versammlungsfreiheit, so Voßkuhle weiter.

Vollkommen unbegrenzt ist die Meinungsfreiheit allerdings nicht, denn sie muss im Einzelfall immer mit dem Recht auf die persönliche Ehre abgewogen werden. Das musste auch der Satiriker Jan Böhmermann mit seinem Gedicht über den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan erfahren, das er in seiner Show Neo Magazin Royale mit der Einleitung vortrug, er wolle damit die Grenzen der Meinungsfreiheit demonstrieren. Zwar muss man in einem Meinungskampf einiges aushalten, allerdings gibt es Grenzen – eine eindeutige Schmähkritik ist von Art. 5 Grundgesetz nicht geschützt (Voßkuhle in Arp 2023). Das Landgericht Hamburg hat wesentliche Teile des Böhmermann-Gedichts gestrichen, eine Verfassungsbeschwerde dagegen wurde vom Bundesverfassungsgericht nicht angenommen. (Süddeutsche Zeitung 2022).

Eine ähnliche Abwägung zwischen dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit und der Frage, wie weit man mit der Art des Protests, etwa mit der Behinderung des Straßenverkehrs oder Flugbetriebs, die Zivilgesellschaft behindern darf, findet gegenwärtig mit Blick auf die Protestmaßnahmen der Klimaaktivisten Letzte Generation statt. Möglicherweise wird auch hier das Bundesverfassungsgericht das letzte Wort haben – dabei wird das Lüth-Urteil wieder eine Rolle spielen.

Quellen:

Arp, A.: 15. Januar 1958 – Das „Lüth-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts zur Meinungsfreiheit. In: WDR-Zeitzeichen, 15.01.2023. Abrufbar unter: www1.wdr.de

Reissenberger, M.: Der Fall Lüth. In: Deutschlandfunk, 11.05.1999. Abrufbar unter: www.deutschlandfunk.de

Süddeutsche Zeitung: Kunst- und Pressefreiheit. Böhmermann verliert vor Bundesverfassungsgericht. In: Süddeutsche Zeitung, 10.02.2022. Abrufbar unter: www.sueddeutsche.de

Wikipedia: Lüth-Urteil. In: Wikipedia, 15.01.2023. Abrufbar unter: de.wikipedia.org

 

Weitere Informationen:
BVerfG-Beschluss zu Böhmermanns Schmähgedicht – ohne Begründung
Redaktion Recht: mediendiskurs 102, 2/22, S. 87

> Gutes im Schlechten: Jan Böhmermanns Schmähgedicht und die unkalkulierbaren Folgen
Joachim von Gottberg: tv diskurs 76, 2/2016, S. 1