Urteil/Beschluss

Redaktion Recht

Printausgabe mediendiskurs: 26. Jg., 2/2022 (Ausgabe 100), S. 87-87

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Nach sechsjähriger gerichtlicher Auseinandersetzung hat Jan Böhmermann vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) eine Niederlage erlitten. 2019 hatte der Satiriker Verfassungsbeschwerde gegen zwei Urteile Hamburger Gerichte eingelegt. Mit diesen Urteilen waren weite Teile seines Schmähgedichts über den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan verboten worden. Die bis jetzt ungeklärte Rechtsfrage zielte darauf ab, ob der Kontext des Gedichts, der Fingerzeig auf den Umgang des autoritären Staatsmannes mit der Meinungsfreiheit, geeignet ist, den Beitrag als noch zulässige Satire einzuordnen.

Weder die Öffentlichkeit noch Böhmermann selbst erhalten eine Antwort auf die Frage, denn das BVerfG gibt der Verfassungsbeschwerde nicht statt. Und dies mit lediglich 14 Wörtern: „Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil sie keine Aussicht auf Erfolg hat.“ Dazu ist das BVerfG gesetzlich legitimiert, so bestimmt § 93d Abs. 1, S. 3 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) schlicht: „Die Ablehnung der Annahme der Verfassungsbeschwerde bedarf keiner Begründung.“ Es sei verwunderlich, dass das BVerfG die Beschwerde nicht angenommen habe, so Rechtsanwalt Dr. Felix W. Zimmermann, Verfasser des Beitrags (LTO, 10.02.2022). So habe die damit befasste 2. Kammer des Senats die Sache an den „gesamten“ 1. Senat abgegeben. Dieser habe extra Stellungnahmen von Fachgesellschaften und Institutionen eingeholt, u. a. vom Deutschen Journalisten-Verband, dem ZDF und von der Bundesrechtsanwaltskammer. Überwiegend hätten sich die Befragten für die Stattgabe der Beschwerde ausgesprochen. Doch ohne selbst zu entscheiden, habe der 1. Senat den Fall an die 2. Kammer zurückgegeben, die sich schließlich für eine Nichtannahme entschieden habe.

Der weitgehend begründungslose BVerfG-Beschluss stößt auf deutliche Kritik. So führt der 1993 implementierte § 93d BVerfGG bei juristischen Laien, aber auch bei Fachleuten zu Unverständnis. Angedachtes Ziel der Bestimmung: Entlastung des mit „Bürgerbeschwerden“ überladenen BVerfG. Die Bremische Justizsenatorin Claudia Schilling hat nach der Entscheidung des BVerfG im Fall Böhmermann eine Begründungspflicht auch bei Nichtannahme-Beschlüssen vorgeschlagen. Wesentlich sei, das BVerfG als Bürgerrecht zu stärken. Gleichermaßen könne dies nicht ohne eine personelle und organisatorische Förderung des Gerichts erfolgen, so Schilling.

Die Rufe nach einer Begründungspflicht sind nicht neu. Die Verfechter einer entsprechenden Verpflichtung führen u. a. an, dass eine begründungslose Entscheidung rechtsstaatsfeindlich sowie europarechtswidrig sei. Auch, dass bei der Bürgerin/beim Bürger der Eindruck einer willkürlichen Machtausübung entstehen könnte. Befürworter des § 93d fürchten hingegen eine Überlastung des Gerichts. Ohne die Begründungspflicht habe das Gericht die Kapazität, sich ausführlich mit denjenigen Beschwerden auseinanderzusetzen, die verfassungsrechtlich relevant seien und deren Bearbeitung dazu dienen könne, das Verfassungsrecht weiterzuentwickeln.

Da diese Diskussion schon seit Jahren ausführlich geführt werde, glaubt Journalist Eckhard Stengel (LTO, 14.02.2022) nicht an ein erfolgreiches Unterfangen der Bremischen Justizsenatorin. Diese hat jedoch erklärt, ihren Vorschlag auf den kommenden Konferenzen der Justizministerinnen/der Justizminister zu debattieren.
 

Quellen:

Stengel, E.: BVerfG-Beschluss zu Böhmermann: Justizsenatorin fordert Begründungspflicht für das BVerfG. In: LTO online, 14.02.2022. Abrufbar unter: https://www.lto.de

SZ/saul/kast: Kunst- und Pressefreiheit: Böhmermann verliert vor Bundesverfassungsgericht. In: Süddeutsche Zeitung, 10.02.2022. Abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de

Zimmermann, F. W.: Verfassungsbeschwerde nicht angenommen. Böhmermann scheitert vor BVerfG. In: LTO online, 10.02.2022. Abrufbar unter: https://www.lto.de
 

Passend dazu:

„Das wird man doch noch sagen dürfen.“ Die Verfasserin des Artikels, Maya El-Auwad, nimmt gemeinsam mit Prof. Dr. Per Christiansen, Rechtsanwalt und Hochschullehrer für Wirtschaftsrecht an der FOM Hochschule für Oekonomie & Management in Hamburg, eine rechtliche Einordnung von Hate Speech auf sozialen Medien vor. Klar wird dabei der Unterschied zwischen Meinungsäußerung und Tatsachenbehauptung erörtert; auch werden die Grenzen der Meinungsfreiheit benannt. Da nicht jeder Hass-Post die strafrechtlich relevante Grenze erreiche, sei eine gut funktionierende Content-Moderation der Plattformen unerlässlich, so Christiansen.


Quelle:

El-Auwad, M.: Per Christiansen über die Grenzen der Meinungsfreiheit: „Auf den Kontext kommt es an“. In: irights.info, 19.01.2022. Abrufbar unter: https://irights.info