Das Porträt: Jessica Heesen

Alexander Grau

PD Dr. Jessica Heesen ist Medienethikerin. In Köln und Tübingen studierte sie Philosophie, Germanistik, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft und katholische Theologie. Noch während ihres Studiums begann sie, sich für technik- und medienethische Fragen zu interessieren. Nach ihrer Promotion in Stuttgart wurde sie am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) habilitiert. Nach Lehraufträgen an verschiedenen Universitäten, u.a. in Freiburg, Karlsruhe und Luzern, leitet sie den Forschungsschwerpunkt „Medienethik und Informationstechnik“ an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Jessica Heesen ist Mitglied des vom Bundesforschungsministerium geförderten Forums Privatheit und selbstbestimmtes Leben in der digitalen Welt.

Printausgabe tv diskurs: 23. Jg., 2/2019 (Ausgabe 88), S. 60-63

Vollständiger Beitrag als:

Ethik befasst sich mit der rationalen Begründung moralischer Urteile und Normen. Und Medien sind Kommunikationskanäle zum Übertragen, Speichern und Verarbeiten von Daten und Informationen. Medienethik wäre demnach die Suche nach rationalen begründeten Regeln im Umgang mit Kommunikationskanälen. Klingt einfach, ist es aber nicht.

Denn anders als andere Bereichsethiken, wie etwa die Medizinethik, Wirtschaftsethik oder Bioethik, umfasst die Medienethik nicht einen klar abgrenzbaren Problembereich in einem mehr oder minder umrissenen Handlungsfeld, sondern die gesamte Lebenswirklichkeit. Hinzu kommt: Wir alle sind nicht nur Mediennutzer, sondern auch Medienobjekt und zumeist auch Produzenten von Medieninhalten. Das bedeutet, dass wir Medien nicht nur aktiv oder passiv nutzen und Teil des medialen Verwertungsprozesses werden, sondern dass Medien zugleich unser Bild von der Welt, das Bild, das andere von uns haben, und letztlich unser Selbstbild bestimmen.

In der Diktion der Kritischen Theorie droht hier die Versachlichung des Menschen und die Vermenschlichung der Sache, mithin Entfremdung und Verblendung. Und selbst, wenn man weniger kulturkritische Töne anschlägt, ist dennoch klar, dass die technologische Entwicklung der letzten Jahre und die mediale Praxis unser Konzept vom Menschen und seinen Rechten erheblich tangieren.

Mit den grundlegenden ethischen Fragen, die sich im Zusammenhang mit diesen Technologien stellen, ihren Chancen, Perspektiven, aber auch Herausforderungen, beschäftigt sich intensiv Jessica Heesen, seit zwei Jahren Leiterin des Forschungsschwerpunktes „Medienethik und Informationstechnik“ an der Universität Tübingen.
 

Interaktivität, Öffentlichkeiten und das Gemeinwohl

Die gebürtige Krefelderin begann ihr Studium der Philosophie, Germanistik und der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft an der Universität Köln, später wechselte sie nach Tübingen. Dort arbeitete sie an dem damaligen Graduiertenkolleg „Ethik in den Wissenschaften“.

Das war damals die Verbindung aus Ethik, angewandter Technikphilosophie und Medien. Die leitende Frage dabei war, wie sich Öffentlichkeit durch das Internet ändert. Das war damals, 1998, noch eine sehr neue Fragestellung.“

Ausgangspunkt der damaligen Diskussion, man hat es fast schon wieder vergessen, war der Begriff der Interaktivität. Auch wenn diese medientechnische Innovation heute harmlos und fast schon ein bisschen gestrig erscheint, erwies sie sich als die entscheidende Grundlage für die dann kommende mediale Entwicklung – und deren ethische Herausforderungen. „Interaktivität“, betont daher auch Jessica Heesen, „war das Buzzword, der Schlüssel zu allem, ansetzend bei medientheoretischen Überlegungen, dass wir alle von reinen Empfängern zu Sendern werden, dass Öffentlichkeiten individualisiert werden und nicht mehr bestimmt durch die großen Medienanstalten.“

Dass die Frage, wie Öffentlichkeit das Internet verändert, von zentraler Bedeutung sein würde, wurde Heesen bei einem Praktikum in der damaligen Enquete-Kommission „Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft“ als Mitglied des Bundestages deutlich:

Damals war man ja ganz euphorisch, weil man dachte, im Internet kann jetzt jeder seine Meinung sagen, alle Meinungen werden gehört und die Gesellschaft demokratisiert sich, es gebe mehr Parität und Gleichberechtigung.“

Aufbauend auf diesen Debatten aus der Frühzeit des Internets, untersuchte Heesen in ihrer philosophischen Promotionsschrift, wie Öffentlichkeit Bewusstsein konstituiert. „Dahinter steht ein konstruktivistischer Ansatz: Nur dem, was wir öffentlich diskutieren, kommt demnach Wirklichkeit und Realität zu. Meine Fragestellung war nun, wie ungefilterte, individuelle Medien Realität konstruieren.“ Habe es früher nur redaktionell gefilterte Öffentlichkeiten gegeben, würden nun individuelle Weltzugänge veröffentlicht und in individualisierten Öffentlichkeiten geteilt. „Das war eine Frage, die damals neu aufkam und auch heute noch hochaktuell ist“, wie die Medienethikerin betont.

Eine weitere Frage sei gewesen, wie die Gemeinwohlorientierung der Medien weiter gewährleistet werden könne, wenn der Zugang zu Medienöffentlichkeiten und damit die Verantwortung individualisiert sei. In diesem Zusammenhang war auch zu fragen, wie Werte, die mit der herkömmlichen Sender-Empfänger-Kommunikation verbunden sind, sich transformieren oder in individualisierter Kommunikation überhaupt nutzbar gemacht werden.

In dieser Situation können wir uns ja nicht darauf verlassen, dass wir einen gemeinsamen Fundus an Orientierungswissen haben. Heute sprechen wir nicht von fragmentierter Kommunikation, sondern von Filterbubbles, Diskussionen um die sozialen Netzwerke und die Normen, der Leitgedanke dahinter ist aber der gleiche geblieben“.

Diskussionen um die sozialen Netzwerke und die Normen, die in ihnen gelten sollen, entstehen zumeist durch zwei konträre Bilder des Internets: Für die einen ist das Netz ein erweiterter Privatraum, in dem man das Recht haben sollte, sich entsprechend frei zu äußern. Für die anderen ist das Netz eine öffentliche Sphäre, in der die Normen und auch Gesetze des realen öffentlichen Raumes zu gelten haben. Jessica Heesen betont die Wirkung der öffentlichen Beobachtung von Kommunikation auf die Kommunikationsinhalte:

Wenn Sie in einem Restaurant sitzen und gepflegt oder ungepflegt über politische Fragen diskutieren und Dinge sagen, die Sie schon immer mal sagen wollten, Sie aber zugleich wissen, dass Ihr Restauranttisch auf einer Bühne steht und Ihnen 500 Leute zuschauen, dann würden Sie Ihre Rede auch anders kontrollieren. Das heißt: Wir können nicht so tun, als ob wir noch privat kommunizieren.“

Im Internet gebe es ebenfalls keine private Kommunikation im traditionellen Sinne. Vielmehr hätten wir es mit einer privaten Kommunikation zu tun, die öffentlich beobachtet werde, und einer öffentlichen Kommunikation, die durch private Themen kolonialisiert sei. „Wir haben einfach eine Neusortierung der Verhältnisbestimmung von ‚privat‘ und ‚öffentlich‘. Wir können nicht so tun, als ob nur irgendein Inhalt geteilt wird und es egal ist, welchen Kanal wir benutzen.“ Zur Illustration bringt die Wissenschaftlerin ein Beispiel: „Wenn man zu Hause in der Küche sitzt und etwa das Video von der Ermordung der beiden skandinavischen Studentinnen im Atlasgebirge posten möchte, dann muss man sich sehr wohl fragen, ob das nicht in der eigenen Verantwortung liegt, solche grausamen Inhalte weiterzuverbreiten. Und diese Verantwortung ist neu.“

Allerdings werde der öffentliche Charakter vieler Plattformen durch deren hybriden Charakter bewusst unterlaufen. Ein gutes Beispiel dafür sei Instagram:

Man tut da so, als ob das eigentlich privat wäre, und kokettiert damit, nimmt aber gerne in Kauf, dass die Öffentlichkeit daran teilhat oder richtet sich faktisch an sie – auch wenn man das nicht so deutlich sagen möchte.“

Zugleich werde die nicht mediale Welt zunehmend medial inszeniert und so verändert. Beispielsweise würden Realitäten nur für die mediale Verwertung geschaffen, also dafür, fotografiert und via Twitter oder Instagram weiterverbreitet zu werden. Hier werde ein Raum aufgemacht, der mit dem einfachen Dualismus von „privat“ und „öffentlich“ nicht mehr eingefangen werden könne. Gerade auch in den sozialen Netzwerken werde mit einer privaten Kommunikation gespielt, bei der jeder wisse, dass sie nicht privat sei. „Das sind Durchmischungen, Third Spaces, die für sich eine Intransparenz beanspruchen, damit sie sich organisieren können, zugleich aber in den öffentlichen Raum hineinwirken.“

Für Jessica Heesen hat die Öffentlichkeit aus medienethischer Sicht einen spezifischen Auftrag bezüglich Demokratie und Medienkommunikation.

Das Problem ist, ob wir als Gesellschaft in der Lage sind, uns weiterhin zu verständigen.“

Und in diesem Zusammenhang stelle sich die Frage, welche Form von Kommunikation, aber auch welche Formen von Technologien in der Lage seien, gesellschaftliche Selbstverständigung zu unterstützen. An diesem Punkt müsse man durchaus unterteilen zwischen dem, was privat und was öffentlich sein soll, welche Form von Kommunikation wichtig für die Öffentlichkeit ist:

Bei politischer Kommunikation geht es um die Gemeinwohlorientierung und die ist weder bei jeder Nachmittagsshow noch bei jedem Facebook-Kommentar gegeben. Wir brauchen Strukturen, die durch alle in einer Demokratie beobachtet werden können und der individuellen Meinungsbildung dienen.“

Gerhard Schröder habe noch behaupten können, er regiere mit „Bild“, „BamS“ und Glotze. Das sei aber nicht mehr so. Heutzutage hätten es Politiker deutlich schwerer, wenn sie Rückspiegelungen aus der öffentlichen Kommunikation haben wollen.

Zugleich betont Heesen, dass den traditionellen Leitmedien immer noch eine wichtige Funktion für das Orientierungswissen zukomme, auf die auch die alternativen Medien immer wieder zurückgriffen.

Der Vertrauensvorschuss für redaktionell bearbeitete Inhalte ist immer noch da. Deshalb ist die gesamte Medienlandschaft zwar nicht mehr so zentralisiert wie früher. Vollkommen dezentral ist sie aber auch nicht, im Gegenteil.“


Medienethische Herausforderung KI

Nach ihrer Promotion arbeitete Jessica Heesen am Stuttgarter Sonderforschungsbereich „Umgebungsmodelle für mobile, kontextbezogene Systeme“. Habilitiert wurde sie jedoch am Karlsruher Institut für Technologie. „In meiner Habilitationsschrift ging es vor allem um eine Metaperspektive, nämlich um die Frage, wie sich die Medienethik angesichts völlig veränderter Medientechnologien neu aufstellen muss.“ Ein Problem der Medienethik bestehe darin, dass ihr der Forschungsgegenstand durch die technische Entwicklung abhandenkomme. In der Technikphilosophie werde Technik an sich häufig als Medium begriffen, andere sprächen von der Medialisierung der Welt durch digitale Techniken und das Internet der Dinge. Zugleich gingen auch der Ethik die leitenden Kategorien verloren, Ethik werde mitunter relativistischer gedacht, gruppen- oder kulturabhängig. „Das alles habe ich versucht, theoretisch auszuarbeiten, und mich gefragt, mit was für einer Methode die Medienethik weiterkommen kann und mit welchen Disziplinen sie zusammenarbeiten muss.“

Bei der Anwendung vermeintlich etablierter Wertvorstellungen auf neue technische Gegebenheiten würden sich, so Heesen, ganz neue Probleme ergeben. Ein Beispiel dafür sei auch hier wieder die freie Rede, da unter den technischen Bedingungen digitaler Kommunikation andere Konzepte und Verständnisse freier Meinungsäußerungen auftauchten. Entsprechend müssten die ethischen Ansätze den jeweiligen Kontexten angepasst werden, um in entsprechenden Settings zu klugen Entscheidungen zu kommen.

Hinzu komme, dass das Internet inzwischen ein von Geschäftsinteressen dominierter Raum sei, in dem private Anbieter öffentliche Kommunikation organisierten und zu öffentlichen Institutionen geworden seien.

Wenn wir früher von den Funktionsaufträgen der Medien gesprochen haben, dann erfolgte das aus dem Impuls heraus, dass öffentliche Kommunikation nach Regeln funktionieren sollte, die allen nützen. Diese Regelungen müssten jetzt theoretisch von den privaten Plattformen übernommen werden. Das machen die aber nicht, da die Geschäftsinteressen haben und damit einen Zielkonflikt.“

Zwar sei es vollkommen richtig, dass die großen Plattformanbieter nur zu einem gewissen Teil für die bei ihnen veröffentlichten Inhalte verantwortlich seien, aber da, wo es um illegale Inhalte gehe, stünden sie in der Verantwortung.

Hinsichtlich internationaler Standards zeigt sich Heesen allerdings skeptisch. „Die USA sind trotz mancher Differenzen immer noch eine uns verwandte Demokratie. Global betrachtet haben wir dann aber auch China, wo ganz andere Vorstellungen herrschen. Afrika ist gerade dabei, sich digital aufzustellen, mit ganz anderen Impulsen und kulturellen Inhalten, und ich wäre auf keinen Fall dafür, das Internet zu vereinheitlichen. Es geht um echte Pluralität im Internet und dazu gehören echte Wertkonflikte.“

Mit den Ambivalenzen und Konflikten digitaler Technologien hat auch Jessica Heesens neues Forschungsvorhaben zu tun, dem von der EU finanzierten Projekt „WeNet“. Dabei geht es zunächst um die Nutzung künstlicher Intelligenz (KI) für gemeinwohlorientierte Kommunikation. In diesem Zusammenhang gehe es darum, lernfähige Apps zu kreieren, die nicht kommerziell seien und die sich an den Bedürfnissen der Nutzer orientierten. „Künstliche Intelligenz ist hier sehr hilfreich, weil die in der Lage ist, auf Kontexte zu reagieren“. Aber auch bei einem solchen nicht kommerziellen, gemeinwohlorientierten Projekt gebe es ethische Probleme: „Man braucht immer sehr, sehr viele Daten, sonst funktionieren solche Anwendungen nicht. Die Frage: ‚Was sind meine Bedürfnisse?‘ ist aber äußerst privat und zudem verbunden mit der Frage: ‚Wer bin ich?‘. Das, was mir hilft, und das, was mich einzigartig macht, das macht mich auch besonders verletzlich. Wenn man an solche Daten herankommt, hat man einen ganz wunden Punkt.“ Diese Probleme deutlich zu machen und interdisziplinär Lösungsvorschläge zu unterbreiten, darin liegen, so Jessica Heesen, die Herausforderungen zukünftiger Medienethik.

PD Dr. Jessica Heesen leitet den Forschungsschwerpunkt „Medienethik und Informationstechnik“ an der Eberhard Karls Universität Tübingen und ist Mitglied des „Forums Privatheit und selbstbestimmtes Leben in der digitalen Welt“.

Dr. Alexander Grau arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist u.a. für „Cicero“, „FAZ“ und den Deutschlandfunk.