Das Selbst im Blick

Interdisziplinäre Perspektiven zur Selfie-Forschung

A. Kristina Steimer, Claudia Paganini, Alexander Filipović (Hrsg.)

Baden-Baden 2023: Nomos Verlagsgesellschaft
Rezensent/-in: Jeffrey Wimmer

Buchbesprechung
Doppelrezension mit Ramón Reichert: Selfies – Selbstthematisierung in der digitalen Bilderkultur.

Printausgabe mediendiskurs: 28. Jg., 3/2024 (Ausgabe 109), S. 82

Vollständiger Beitrag als:

Die Selfie-Kultur

Wir leben im Zeitalter der Selfies. Diese Form von Selbstporträts ist zu einer universellen Form der Selbstdarstellung und Interaktion in digitalen sozialen Medien geworden. Selfies sind eine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit und gehören zum alltäglichen Medienhandeln in digitalen Lebenswelten. Sie sind nicht nur Ausdruck und Verstärker digitaler Aufmerksamkeitswellen, sondern auch prägend für zeitgenössische Bildkulturen im Internet. Sie bieten aber auch der Sozialwissenschaft eine außergewöhnliche Möglichkeit, die digitale Transformation von sozialer Interaktion und Subjektivierung in vivo zu beobachten.

Zwei neue deutschsprachige Bände dokumentieren gut und erstmalig für den deutschsprachigen Raum umfassend dieses Potenzial. Im Fokus des Tagungsbandes Das Selbst im Blick stehen vor allem medienethische Aspekte. Der erste Abschnitt widmet sich dem „Corpus“ Selfie. L. I. Korte fokussiert hier auf den Umstand, dass ein Selfie zugleich auch immer das Bild eines (digitalen) Selbstporträts darstellt. Im Anschluss an Jacques Lacan widmet sich J. Brunner dem Blick des „großen Anderen“, dessen „Begehren“ bzw. Aufmerksamkeit mit einem Selfie gesteuert wird und werden soll. W. Gerling skizziert das interessante Phänomen des Environmental Selfies, das durch technische Entwicklungen wie die populäre GoPro ermöglicht wird. Abschließend arbeitet K. Lobinger auf der Basis einer empirischen Fallstudie die an das Selfie attribuierten gesellschaftlichen Kritikpunkte heraus.

Der zweite Themenbereich fokussiert auf die mit dem Selfie verbundene Identitätsdimension. T. Wittchen postuliert, dass Nutzer:innen mit der Erstellung eines Selfies entweder den eigenen Selbstbezug im Sinne einer porträtierenden Funktion oder die Dokumentation eines an einen konkreten Ort gebundenen Erlebens zum Ziel haben. S. Weber gibt einen Überblick über empirische Studien, die zeigen, wie Selfies und Identität sich wechselseitig beeinflussen können. S. Birkel arbeitet heraus, wie Selfies ein geeignetes Mittel für die Identitätsarbeit von und mit Jugendlichen darstellen. Im Anschluss an Günther Pöltner beschreibt K. Kops den sogenannten Spannungscharakter des Selfies, der durch das Aufeinandertreffen von Subjekt und Objekt sowie Digitalem und Analogem entsteht.

Der dritte Themenbereich widmet sich der Ideengeschichte des Selfies. J. Kirschenmann und M. Hermens führen einen historischen Vergleich der als Masken gedeuteten Gesichter im Selfie-Porträt durch. H. Hufgard arbeitet nachvollziehbar das (post‑)koloniale Blickregime vergangener und gegenwärtiger Praktiken und Techniken des Selbstporträts heraus.

Der letzte Themenbereich fokussiert auf die transformatorischen Eigenschaften von Selfies. Für N. van Elk besitzen Selfies das Potenzial, als (post‑)moderne Formen von sogenannten Citizen Media z. B. zur Konfliktprävention und ‑lösung beizutragen. J. Kraemer widmet sich im Anschluss an Walter Benjamin der zeitgenössischen Aushandlung von Repräsentation, die dem Selfie inhärent ist. C. Frohnapfel u. a. beschreiben mithilfe einer quantitativen Inhaltsanalyse die mit Selfies durchgeführte Selbstinszenierung von deutschen Influencer:innen. W. Ullrich diskutiert abschließend Möglichkeitsräume von Selfies für Protest und Empowerment.

Wie skizziert, versammelt der Band vor allem kulturwissenschaftliche und philosophische Perspektiven. Etwas aus dem Blick gerät dabei, dass Selfies nicht nur prägend für die gegenwärtige Medienkultur, sondern auch Ausdruck der gegenwärtigen formativen Kräfte der Digitalisierung sind.

Was wiederum der sehr instruktive Band von Ramón Reichert darstellt. Er verdeutlicht gut, wie Selfies als gesellschaftlicher Mechanismus zur Normalisierung und Integration von sozialer Kontrolle fungieren können. Akribisch arbeitet der Autor auf, wie Selfies als eine Art ambivalenter Indikator für medialen, gesellschaftlichen und technischen Wandel verstanden werden können, der Gesellschaft wie Subjekt gleichermaßen betrifft. Im Gegensatz zu einer naiven Perspektive auf Selfies als eine moderne und eher harmlose Form der Selbstdarstellung diskutiert Reichert Aspekte von Narzissmus, Authentizität und die Auswirkungen auf die soziale Interaktion. Er arbeitet zwei bedeutende Einsichten heraus: Zum einen erfolgt durch Selfies eine weltumspannende Verbreitung von subjektzentrierten Inszenierungen, die wiederum öffentliche Agenden (mit)prägen. Zum anderen verstärken oder lindern sie dadurch auch politische, kulturelle und militärische Konflikte.

Prof. Dr. Jeffrey Wimmer