Das Unrecht des Stärkeren

Dokumentarreihe „Quiet on Set: The Dark Side of Kids TV“

Susanne Bergmann

Nach dem Studium an der Hochschule der Künste in Berlin arbeitete Susanne Bergmann viele Jahre als Medienpädagogin, u. a. im Jugendfilmstudio Berlin. Als freie Autorin schreibt sie seit 1994 für den Kinderfunk. Außerdem ist sie Prüferin bei der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF), Jurorin beim Aki-Audiosiegel und ehrenamtliche Richterin am Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen.

Programm Quiet on Set: The Dark Side of Kids TV
 Dokumentation, USA 2024
SenderDiscovery+, seit 26.04.2024/TLC seit 20.05.2024

Online seit 21.05.2024: https://mediendiskurs.online/beitrag/das-unrecht-des-staerkeren-beitrag-1124/

 

 

Enthüllungen über Mobbing und Missbrauch erschüttern 2003 den privatrechtlichen Kindersender Nickelodeon. Zwei Mitarbeiter werden wegen sexuellen Missbrauchs verhaftet und verurteilt. Die fünfteilige Dokumentation Quiet on Set reflektiert die problematischen Machtverhältnisse, die dazu führten.

Damalige Kinderstars, die in den USA in verschiedenen Shows von Dan Schneider berühmt geworden sind, und Mitarbeitende des Senders berichten Haarsträubendes. Dan Schneider selbst äußert sich dazu nicht. Dafür kommen Eltern, Medienleute und Betroffene aus dem Umfeld ausführlich zu Wort. Beispielhaft werden Ausschnitte aus den damaligen Programmen kommentiert, deren Humor heute sexistisch, taktlos oder anstößig erscheint. Auch einige Challenges, die lustig sein sollten, wirken unangemessen und werden von den Mitwirkenden rückblickend entsprechend kritisiert.
 

Trailer Quiet On Set: The Dark Side Of Kids TV (Investigation Discovery, 08.02.2024)



Besonders anrührend ist die dritte Episode. Hier erzählt Drake Bell, Jahrgang 1986, zum ersten Mal öffentlich, was ihm passiert ist und wie sich der Missbrauch anbahnte. Sein Dialogcoach Brian Peck hatte ihn systematisch vom Vater isoliert, ihn an sich gebunden und im Alter von 15 und 16 Jahren schwer sexuell missbraucht. Bells Bekenntnisse sind an keiner Stelle explizit, aber dennoch deutlich. Es ist offensichtlich, dass seine Verletzung von der Zeit nicht geheilt werden konnte und sein weiteres Leben zeichnete. Von dem viel gescholtenen Dan Schneider bekam Bell in dieser schwierigen Situation immerhin Unterstützung. In der Episode kommt auch Bells Vater zu Wort. Er hat erst spät erfahren, dass sein Sohn missbraucht wurde, und trotz des zeitlichen Abstands von über 20 Jahren zeigt er sich verzweifelt darüber, dass er sein Kind damals nicht beschützen konnte. Glücklicher ging die Situation eines Mädchens aus, das von einem Sendermitarbeiter Masturbationsbilder geschickt bekam. Das Kind war schockiert und weinte, erzählt die Mutter, die sofort handelte und weitere Auftritte unterband.

Die Dokumentarreihe packt gleich mehrere heiße Eisen an. Konkret geht es nur um Nickelodeon und die Shows von Dan Schneider. Zu vermuten ist aber, dass die geschilderten Schattenseiten des frühen Ruhms exemplarisch sind. Immerhin bei Nickelodeon soll der Gefahr von sexuellem Missbrauch inzwischen aufmerksamer begegnet werden. In Deutschland sind die Richtlinien für Dreharbeiten mit Kindern und Jugendlichen bereits sehr streng, was in der Szene oft kritisiert wird. Aus den Schilderungen der ehemaligen Kinderstars in Quiet on Set wird aber deutlich, dass diese Einschränkungen ihre Berechtigung haben, weil sie Kinder und Jugendliche davor schützen können, ganz in ihren Rollen aufzugehen und den Eitelkeiten und Egoismen Erwachsener ausgeliefert zu sein.
 

 


Freigegeben ab …
 

Die FSF prüfte die ersten drei Episoden der Dokumentation und befürwortete eine Altersfreigabe ab 12 Jahren.

Die rückblickenden Schilderungen aus der Sicht der inzwischen erwachsenen Kinderstars sind zwar eindrücklich und tendenziell auch bedrohlich. Doch diese Bedrohlichkeit beschränkt sich auf Fakten, nichts wird zugespitzt oder bildlich umgesetzt. Die Sendung weckt Empathie für die Betroffenen und ist darauf angelegt, für die Wahrnehmung von Grenzüberschreitungen zu sensibilisieren. Damit werden sozialethische Maßstäbe vermittelt, die für ein junges Publikum hilfreich sein können.

Kontrovers diskutierte der FSF-Prüfausschuss eine Platzierung im Tagesprogramm, wo auch bei einer Altersfreigabe ab 12 Jahren das Wohl jüngerer Kinder mitbedacht werden muss. Zwar richtet sich das Format in keiner Weise an jüngere Kinder, doch durch die Ausschnitte aus dem damaligen Kinderprogramm könnte ihre Aufmerksamkeit geweckt werden. Das bewog eine Minderheit dazu, gegen eine Tagesprogrammierung zu stimmen, zumal sie die detaillierte Thematisierung von Missbrauch als überfordernd und potenziell ängstigend für die Jüngeren bewertete. Für die Mehrheit stand im Vordergrund, dass das Format ruhig, offen und mitfühlend mit dem dunklen Thema umgeht. Sie ging davon aus, dass die belastende Thematik auch jüngeren Kindern bereits aus der aktuellen Berichterstattung vertraut ist. Als positiv wurde eingeschätzt, dass die Familien den Kinderstars Halt geben und mitleiden. Das könnte Kinder ermutigen, bei ähnlichen Erlebnissen Hilfe zu suchen und Übergriffe zurückzuweisen.
 

Bitte beachten Sie:
Bei den Altersfreigaben handelt es sich nicht um pädagogische Empfehlungen, sondern um die Angabe der Altersstufe, für die ein Programm nach Einschätzung der Prüferinnen und Prüfer keine entwicklungsbeeinträchtigenden Wirkungsrisiken mehr bedeutet.

Weiterlesen:
Sendezeiten und Altersfreigaben

Hinweis:
Pay-TV-Anbieter oder Streamingdienste können eine Jugendschutzsperre aktivieren, die von den Zuschauer:innen mit der Eingabe einer Jugendschutz-PIN freigeschaltet werden muss. In dem Fall gelten nicht die üblichen Sendezeitbeschränkungen und Schnittauflagen. Weitere Informationen zu Vorschriften und Anforderungen an digitale Vorsperren als Alternative zur Vergabe von Sendezeitbeschränkungen sind im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (§ 5 Abs. 3 Nr. 1; § 9 Abs. 2 JMStV) sowie in der Jugendschutzsatzung der Landesmedienanstalten (§ 2 bis § 5 JSS) zu finden.

Weiterlesen:
Jugendschutz bei Streamingdiensten