Den Boten töten!?

Claudia Mikat

Claudia Mikat ist Geschäftsführerin der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).

Inwieweit tragen Messengerdienste Verantwortung für die Onlineradikalisierung? Mit diesem Thema befasst sich Claudia Mikat, Geschäftsführerin der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF), im Editorial zur 99. tv diskurs.

Printausgabe tv diskurs: 26. Jg., 1/2022 (Ausgabe 99), S. 1-1

Vollständiger Beitrag als:

Nachdem im Dezember 2021 rund 30 Menschen in Grimma mit Fackeln vor dem Haus der Sächsischen Staatsministerin Petra Köpping aufzogen, um ihre Ablehnung der Coronapolitik zum Ausdruck zu bringen, ist der Messengerdienst Telegram in das Visier der deutschen Politik geraten. Dass Köpping im Freistaat für „Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt“ zuständig ist, mag man als bitter-ironische Fußnote lesen, denn schließlich ist genau dieser Zusammenhalt gerade bedroht – und zwar nicht unwesentlich durch Unwahrheiten und Hassbotschaften, wie sie in einschlägigen Kanälen des Messengers verbreitet werden.

Die Diskussion über Phänomene der Onlineradikalisierung und mögliche Maßnahmen dagegen kann als exemplarisch gelten für den Umgang von Demokratien mit Internetplattformen, die sich um den Rechtsstaat wenig scheren. Telegram, ein Unternehmen mit angeblichem Sitz in Dubai, hat bislang jedenfalls nicht auf Bußgeldverfahren reagiert, die auf einen klaren Meldeweg von Verstößen und auf die Benennung einer zustellungsbevollmächtigten Person in Deutschland zielten.

Es scheint gerade der Widerstandsgeist gegen staatliche Einflussnahme zu sein, der Telegram so erfolgreich macht. Zum Mythos um den Messenger, seinen Gründer Pawel Durow und das russische Entwicklungsteam gehört die Selbststilisierung zu „digitalen Nomaden“, die von irgendwo zwischen den Vereinigten Arabischen Emiraten, den Seychellen und Belize aus agieren und Anfragen von Behörden grundsätzlich ignorieren. Russische Blockadebemühungen hat man erfolgreich abgewehrt – durch ständigen Wechsel von IP-Adressen und mit Unterstützung großer Anbieter wie Apple, Google, Amazon und Microsoft, denen Durow für ihren Kampf gegen die politische Zensur ausdrücklich dankte. Nun sperrt Telegram aber nicht nur autoritäre Regime aus und ermöglicht oppositionellen Gruppierungen und unterdrückten Minderheiten, sich zu vernetzen. Vielmehr entziehen sich die Betreiber jeder staatlichen Einflussnahme, auch von demokratisch legitimierter Stelle – und eben auch, wenn es um Rechtsverstöße und radikale Parallelwelten geht.

Manche fordern daher eine Sperrung des Dienstes. Wie das Scheitern Russlands zeigt, sind Blockaden allerdings wenig aussichtsreich. Sie können umgangen werden, schließen auch legale Inhalte aus und stellen daher einen massiven Eingriff in die Kommunikationsfreiheit dar. Ein anderer Ansatz zielt darauf, Apple, Google und Microsoft zu bewegen, Telegram aus ihren App-Stores zu nehmen – wie seinerzeit das rechte Netzwerk Parler nach dem Sturm auf das Kapitol. Ein solcher Schritt, vor allem als eine koordinierte europäische Aktion, könnte das Unternehmen erheblich unter Druck setzen, hätte aber den Beigeschmack, staatliches Handeln der Willkür großer Monopolkonzerne zu überlassen. Zudem können Nutzerinnen und Nutzer leicht auf andere Plattformen ausweichen – wie nach der Sperrung von Parler auf Telegram. Vereinzelte Forderungen nach Klarnamenpflicht oder Verschlüsselungsverbot gehen am Problem vorbei. Schließlich wird auf Telegram meist ganz offen und unverschlüsselt gehasst und gehetzt, selbst Mordfantasien radikalisierter Impfgegner gegen Sachsens Ministerpräsidenten Michael Kretschmer konnten von einem Fernsehteam verfolgt werden. Auch die Erweiterung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) auf Messengerdienste wird das Problem nicht lösen. Zum einen sollen nur öffentliche Gruppen und Kanäle und nicht private Chats in sozialen Netzwerken reguliert und entsprechend verpflichtet werden, rechtswidrige Inhalte zu melden. Zum anderen ist die große Menge an Falschinformationen, Verschwörungserzählungen und Weltuntergangsszenarien gar nicht strafbar – es sind aber diese Inhalte, die die Radikalisierung maßgeblich vorantreiben.

Kritikerinnen und Kritiker sehen in den Reaktionen daher reine Symbolpolitik. Nicht der Messenger sei das Problem, sondern die Menschen, die zu Hass und Hetze aufrufen, die sich im Widerstand wähnen und mit Armbrüsten bewaffnen oder sich dazu entschließen, in der Symbolsprache der Nazis eine Politikerin einzuschüchtern. Den Rechtsextremismus im Land als das herausragende gesellschaftliche Problem anzuerkennen, ist sicher ein wichtiger Schritt. Daraus folgt, neben einer entsprechenden Richtungsweisung an Polizei und Verfassungsschutz, dass mehr politische Bildung und demokratiefördernde Maßnahmen großflächig und nachhaltig etabliert werden müssen.

Richtig ist aber auch, dass Telegram nicht nur der Bote ist, den an der schlechten Nachricht keine Schuld trifft. Vielmehr ist die Messengerkommunikation selbst Teil des problematischen Diskurses. Indem sich Gleichgesinnte in riesigen Chatgruppen ohne Widerspruch ihrer Weltsicht vergewissern, die von Coronaskepsis, Politikverdruss und Zukunftsangst geprägt ist, erscheint immer radikaleres Gedankengut als Mainstream.

Gesellschaftliche Probleme lassen sich nicht einfach abschalten. Aber Maßnahmen gegen die zunehmende Gewaltbereitschaft müssen auch dort ansetzen, wo Radikalisierung stattfindet. Messengerdienste wie Telegram müssen rechtsstaatliche Regeln einhalten. Eine deutsche Zustelladresse für Anfragen und Klagen wäre zumindest ein Anfang.

Ihre
Claudia Mikat