Der Krimi

Gerd Hallenberger

Dr. habil. Gerd Hallenberger ist freiberuflicher Medienwissenschaftler.

Unsere Welt ist gefährlich – überall kann das Verbrechen lauern und Leib, Leben und unseren Besitz bedrohen. Aber es gibt Hilfe, die zwar nicht alle, aber doch viele Verbrechen verhindern kann und andernfalls für Aufklärung und die Ermittlung der Täter:innen sorgt. In diesem Spannungsfeld bewegt sich das Krimigenre: unserer Angst vor Gefährdung und der Hoffnung auf Schutz, unserer Aversion gegen Unrecht und der Hoffnung auf Gerechtigkeit.

Printausgabe mediendiskurs: 27. Jg., 1/2023 (Ausgabe 103), S. 74-75

Vollständiger Beitrag als:

So hat sich ein weitgehend geteiltes Grundverständnis entwickelt, was einen Krimi ausmacht: Es geht erstens immer um ein geschehenes, geplantes oder vermutetes schweres Verbrechen. In der Regel um einen Mord, aber es kann auch eine Entführung oder ein schwerer Raub sein. Roter Faden der Handlung ist zweitens die Aufklärung dieses Verbrechens durch Ermittler:innen. Die sehr allgemeine Formulierung deutet an, dass es auch Krimis ohne tatsächliches Verbrechen gibt und manchmal die Verbrechensaufklärung zwar den Rahmen der Handlung bildet, aber ganz andere Themen im Mittelpunkt stehen – beispielsweise das Leben der Ermittelnden, ein Familiendrama, Sozialkritik oder schlicht der Spannungseffekt, der „Thrill“, der erzeugt werden soll. Selbst als Komödie lässt sich ein Kriminalfall aufbereiten, siehe die in Münster spielenden Tatort‑Folgen.

Wie viele andere populärkulturelle Genres zeichnet sich auch der Krimi durch Transkulturalität und Transmedialität aus. Kulturelle Grundvoraussetzung für Krimis ist lediglich, dass eine Gesellschaft das Konzept „Verbrechen“ kennt und Verbrechen aufklären will, wobei durchaus Unterschiedliches als Verbrechen angesehen werden kann. „Transmedialität“ bedeutet, dass sich in allen verfügbaren Medien Krimis erzählen lassen, auf jeweils andere Weise, mit anderen Mitteln. Genregeschichte spiegelt oft Mediengeschichte: Von Printmedien wanderte der Krimi zunächst in den Film, dann in Hörspiel und Fernsehen, heute gibt es auch crossmediale Krimis in diversen Digitalmedien.

Wie sich das Genre im Laufe seiner Geschichte verändert hat, lässt sich exemplarisch in knapper Form anhand der Ermittelnden skizzieren. Am Beginn stand im 19. Jahrhundert ein Privatdetektiv, der finanziell unabhängig, Außenseiter und ein Genie war, etwa Auguste Dupin (eine Figur von Edgar Allan Poe), Sherlock Holmes (Arthur Conan Doyle) oder etwas später Hercule Poirot (Agatha Christie). Ihre Fälle waren als intellektuelle Rätsel konstruiert. Verbrechensaufklärung blieb zwar noch lange vor allem mittelalten, weißen Männern vorbehalten, aber die Hobbydetektive wurden von Profis abgelöst, von Polizisten wie Kommissar Maigret (Georges Simenon) oder in prekären Verhältnissen lebenden Detektiven wie Philip Marlowe (Raymond Chandler).

Der Film und später das Fernsehen veränderten nicht zuletzt die Entwicklungsdynamik des Genres: Der Kriminalroman wurde immer mehr der Ort, an dem inhaltliche und ästhetische Innovationen stattfanden. Kriminalfilme setzten diese dann z. T. audiovisuell um und verschafften ihnen ein größeres Publikum. Das Fernsehen, bis Ende des 20. Jahrhunderts das reichweitenstärkste Medium, beglaubigte schließlich den erreichten Entwicklungsstand des Genres: Wenn eine Krimivariante im Fernsehen aufgegriffen wird, dann hat sie sich wirklich durchgesetzt.

Deshalb lohnt sich ein Blick auf die Krimireihen des Fernsehens auch bezüglich der Ermittelnden. Beispielsweise in den USA: Das Monopol weißer Durchschnittsamerikaner angelsächsischer Abstammung geriet wie in Zeitlupe ins Wanken – Decoy präsentierte zwar schon 1957 eine Polizistin im Fernsehen, Casey Jones (gespielt von Beverly Garland), aber nur eine Staffel lang. Immerhin vier Staffeln schaffte ab 1974 Police Woman, gespielt von Angie Dickinson. Ihre Figur Sgt. Suzanne „Pepper“ Anderson, ebenso wie die Detektivinnen in Honey West (ab 1965, Anne Francis) und Charlie’s Angels (ab 1976, zunächst Kate Jackson, Farrah Fawcett und Jaclyn Smith), sollte das Publikum allerdings weniger mit beruflichen Fähigkeiten beeindrucken als mit ihrem Aussehen.
 

Trailer Drei Engel Für Charlie (Universal TV DE, 02.05.2018)



Es blieb der Serie Cagney & Lacey vorbehalten, ab 1981 Polizistinnen auf den Fernsehschirm zu bringen, die nicht nur als hübsche Dekoration dienten (u. a. Tyne Daly als Mary Beth Lacey und Sharon Gless als Christine Cagney). Was die Abstammung betraf, wurden US‑Serien erst ab den 1970er‑Jahren etwas diverser – beispielsweise durch den Italoamerikaner Columbo (Peter Falk), den Afroamerikaner Shaft (Richard Roundtree) oder den indigenen Amerikaner Nakia (Robert Forster).

Etwas Diversität in den deutschen Fernsehkrimi brachte 1978 als erste Frau im Tatort in einigen Folgen Nicole Heesters als Kommissarin Buchmüller, über Jahrzehnte erfolgreich war aber erst ab 1989 Ulrike Folkerts als Kommissarin Lena Odenthal. Den ersten afrodeutschen Kommissar spielte ab 1986 Charles M. Huber in der Reihe Der Alte, 1999 hatte Sinan Toprak seinen ersten Auftritt, ein von Erol Sander verkörperter deutsch‑türkischer Kommissar. Manche seiner Eigenschaften erinnern an den legendären Stephan Derrick, der selbst ein kompliziertes Konstrukt war: Derrick baute auf dem Vorläufer Der Kommissar (gespielt von Erik Ode) auf, dessen Vorbild die britische Serie Kommissar Maigret (gespielt von Rupert Davies) war, die auf Romanen des belgischen Autors Georges Simenon beruhte.
 

Derrick: Unvergessene Sprüche (KultKrimi, 28.10.2022)



Das Krimigenre sprengt gerne nationale und mediale Grenzen, in neuerer Zeit auch seine ursprünglichen Regeln: Täter:innen müssen nicht mehr in jedem Fall gefasst werden, Ermittler:innen nicht immer die „Guten“ sein und die Auflösung eines Falles nicht die Wiederherstellung der Ordnung bedeuten. Das Genre beinhaltet heute zudem unzählige Subgenres, und es kommen sogar weitere hinzu – in neuerer Zeit etwa Nordic Noir und True Crime.

Gerade True Crime verdeutlicht, wie kompliziert Medienentwicklung verlaufen kann. Ab 1919 erschien in den USA das Magazin True Story, das vermeintlich echte peinliche „Bekenntnisse“ veröffentlichte. Nach dessen großem Erfolg wurde 1924 True Detective Mysteries auf den Markt gebracht, das literarisch bearbeitete echte Kriminalfälle vorstellte. Das Spannungsfeld, das sich hier auftat, kennzeichnet auch heutige True‑Crime‑Serien: Sie locken mit dem Reiz des Authentischen – das ist alles wirklich so passiert – und versprechen doch auch vertraute Krimiunterhaltung, da sie sich zusätzlich der Mittel fiktionaler Narrationbedienen. Und gleichzeitig ordnen sie sich damit in die Krimifernsehgeschichte ein, denn schon Dragnet (ab 1951) und die deutsche Adaption Stahlnetz (ab 1958) verfolgten ähnliche Ziele und verwendeten teilweise ähnliche Mittel.
 

Trend „True Crime“: Mord am hellichten Tag | The First 48 (CrimeInvestigation DE, 26.01.2023)