Deutschland zwischen Zuversicht und Angst

Trends der TV-Berichterstattung

Thomas Hestermann

Dr. Thomas Hestermann ist Medienwissenschaftler und Professor für Journalismus an der Hochschule Macromedia in Hamburg und Berlin.

Jahrelang hat das deutsche Fernsehen, getrieben von Rechtspopulisten, immer häufiger über ausländische Tatverdächtige berichtet. Jetzt zeigt eine Langzeitstudie zur TV-Berichterstattung: Zunehmend wird über die Chancen der Integration informiert. Dafür sind neue Angstthemen präsent – und einige Muster der Verzerrung bleiben.

Printausgabe mediendiskurs: 26. Jg., 3/2022 (Ausgabe 101), S. 51-55

Vollständiger Beitrag als:


Er war eine der Angstfiguren auf den Bildschirmen 2021: Der 21-jährige Abdullah al H. H. hatte im Oktober 2020 in der Dresdner Innenstadt auf zwei Männer eingestochen, weil sie sich beim Spaziergang an den Händen hielten. Der Syrer habe das homosexuelle Paar gezielt ausgesucht, um Ungläubige zu töten, meldete das ZDF (heute, 12.04.2021). Einer der beiden Angegriffenen starb, sein Partner überlebte schwer verletzt.

Er war eine der Lichtgestalten medialer Inszenierung im selben Jahr: Sir Simon Rattle wurde neuer Chefdirigent von Symphonieorchester und Chor des Bayerischen Rundfunks, wie es in der Tagesschau hieß (11.01.2021). „Der Applaus war groß bei den Musikern.“ Die Bild (12.01.2021) lieferte den Superlativ dazu: „Der größte Star der Klassik-Szene kehrt England den Rücken.“

Messer, Morde und Migranten“ hatten wir unsere Analyse der TV-Berichterstattung über Gewaltkriminalität vor zwei Jahren betitelt (tv diskurs 91, 1/2020, S. 66–71), das Fazit lautete: „Wenn das deutsche Fernsehen über hierzulande lebende Einwanderer und Flüchtlinge berichtet, dann vor allem über mutmaßliche Gewalttäter, kulturelle Überfremdung und die Belastung des Sozialstaates. Gelungene Integration ist kaum ein Thema.“
 


Abb. 1: Wie TV-Beiträge über Menschen ausländischer Herkunft 2019 und 2021 Risiken und Chancen gewichten
 

N = 101 Fernsehberichte über in Deutschland lebende Menschen ausländischer Herkunft aus 2019, 27 aus 2021 in den Hauptnachrichten und Boulevardmagazinen von ARD, ZDF, RTL, SAT.1, ProSieben, KabelEins, VOX und RTLZWEI aus jeweils vier Programmwochen im Januar, Februar, März und April (Quelle: Hestermann 2022, Hochschule Macromedia)



Zwei Jahre später zeigt sich ein völlig anderes Bild: Im medialen Fokus stehen sowohl im Fernsehen wie in den auflagenstarken überregionalen Zeitungen nicht mehr eingewanderte Gewalttäter, sondern neben den Stars der Kulturszene ausländischer Herkunft vor allem die Idole der Fußballbundesliga, die vielfach nur auf Zeit in Deutschland leben. Bei diesen Gastarbeitern neuen Typs gilt die Nationalität nicht mehr als Makel, sondern geradezu als Qualitätsmerkmal. Bei heute (ZDF) heißt es hymnisch: „Norwegische Naturgewalt Erling Haaland schießt Borussia Dortmund gegen den FC Sevilla ins Viertelfinale der Champions League“ (10.03.2021). Vergleichsweise nüchtern meldet die Tagesschau: „Erneut trifft ein Japaner“ (14.03.2021).

Von allen TV-Beiträgen der meistgesehenen Sender 2021 über in Deutschland lebende Menschen ausländischer Herkunft gewichten 37,8 % eher die Chancen, während 29,1 % die Risiken hervorheben und die restlichen neutral berichten. Zwei Jahre zuvor hatten nur 8,1 % der Beiträge die Chancen betont, 46,8 % die Risiken (vgl. Abb. 1; außerdem Hestermann 2022). 

Eine Langzeitanalyse der Hochschule Macromedia zur Kriminalitätsberichterstattung zeigt, wie in den Nachbeben der Kölner Silvesternacht 2015/2016 die Herkunft von Tatverdächtigen immer stärker in den Vordergrund rückte. 2014 wurde in nicht einmal jedem 20. Bericht in den Fernsehnachrichten und TV-Boulevardmagazinen der meistgesehenen Sender über Gewaltkriminalität im Inland die Herkunft der Tatverdächtigen angegeben. Die erste Messung nach der Kölner Silvesternacht 2017 zeigte bereits erhöhte Anteile, 2019 war die Herkunft in fast jedem dritten Beitrag Thema.

Die Medienbranche stand unter Dauerbeschuss von Rechtspopulisten: Die „Lügenpresse“ oder „Lückenpresse“ verheimliche Straftaten von Eingewanderten und Geflüchteten und beschönige die Lasten der Integration. Die AfD machte Kriminalität zum Wahlkampfthema – aber vorrangig, wenn Ausländer unter Tatverdacht standen, wie wir mit einer weiteren Analyse zeigen konnten (vgl. Hestermann/Hoven 2019).

Die Deutsche Presse-Agentur (dpa) beschloss, die Herkunft öfter zu nennen, aber eher beiläufig und mit dem Ziel, eine Überbetonung der Nationalität zu vermeiden, wie Chefredakteur Sven Gösmann erklärte: „Bisher ist ständig der Anfangsverdacht da, dass es etwas mit der Nationalität von möglichen Tatverdächtigen zu tun hat bei einem Verbrechen. Das wird als Erstes gefragt.“

Der Deutsche Presserat als zentrales Organ der journalistischen Selbstkontrolle der Print- und Onlinemedien hielt dem wachsenden Nachfragedruck nicht etwa ethische Einwände entgegen, sondern folgte ihm und änderte 2017 die Richtlinie 12.1 im Pressekodex. Zuvor hieß es darin, dass die Herkunft nur dann genannt werden soll, „wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht“ (Deutscher Presserat 2017). In der neuen Version wird empfohlen, die Herkunft solle „in der Regel nicht erwähnt werden, es sei denn, es besteht ein begründetes öffentliches Interesse“ (ebd.).
 

Richtlinie 12.1 – Berichterstattung über Straftaten (gültig seit 22.03.2017)
In der Berichterstattung über Straftaten ist darauf zu achten, dass die Erwähnung der Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu ethnischen, religiösen oder anderen Minderheiten nicht zu einer diskriminierenden Verallgemeinerung individuellen Fehlverhaltens führt. Die Zugehörigkeit soll in der Regel nicht erwähnt werden, es sei denn, es besteht ein begründetes öffentliches Interesse. Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte. (Deutscher Presserat 2017)


Während die journalistische Selbstbeschränkung nachließ, hat sich das öffentliche Interesse verändert. In der Coronapandemie wandten sich Rechtspopulisten neuen Angstthemen zu. Bei der Bundestagswahl 2021 spielte Einwanderung kaum noch eine Rolle, die AfD verlor ihren Status als größte Oppositionspartei im Bundestag.

Deutschlands Medien gewichten Chancen und Risiken der Integration nunmehr neu – dies zeigt sich auch in der Berichterstattung über Gewaltkriminalität: Der Anteil der TV-Beiträge, die 2021 die Herkunft von Tatverdächtigen erwähnten, fiel auf nunmehr 13,7 %. Ein Muster ist dabei konstant: Wird die Herkunft genannt, dann zu mehr als 80 % bei ausländischen Tatverdächtigen, bei Deutschen bleibt sie fast durchweg unerwähnt (Abb. 2).
 


Abb. 2: Wie das Fernsehen 2014, 2019 und 2021 über die Herkunft von Tatverdächtigen berichtete
 

N = 230 Tatverdächtige aus 230 Fernsehberichten über Gewaltkriminalität im Inland von 2014, 175 Tatverdächtige aus 199 Beiträgen von 2019, 131 Tatverdächtige aus 128 Beiträgen von 2021 der Hauptnachrichten und Boulevardmagazine von ARD, ZDF, RTL, SAT.1, ProSieben, KabelEins, VOX und RTLZWEI aus jeweils vier Programmwochen im Januar, Februar, März und April (Quelle: Hestermann 2022, Hochschule Macromedia)



Unsere empirische Arbeit stützt sich auf unsere Langzeitstudie zur Fernsehberichterstattung über Gewaltkriminalität seit 2007, unterstützt von der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) und dem Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN). In den Analysen 2007, 2012, 2014, 2017, 2019 und 2021 wurden aus jeweils vier Kalenderwochen (2012: drei) insgesamt 1.419 Fernsehbeiträge in einer Gesamtlänge von 611 Programmstunden erfasst und analysiert. Berücksichtigt wurden die Hauptnachrichten und Boulevardmagazine der acht über den gesamten Untersuchungszeitraum meistgesehenen Fernsehsender ARD, ZDF, RTL, SAT.1, ProSieben, KabelEins, VOX und RTLZWEI (vgl. Krei 2021).

Ein Muster zeigt sich in allen sechs Programmanalysen seit 2007 konstant: Die privaten Fernsehsender gewichten in ihren Hauptnachrichten das Thema „Gewaltkriminalität“ stärker als die öffentlich-rechtlichen Formate Tagesschau und heute. Aktuell allerdings fällt der Unterschied gering aus. Das Angstthema „Pandemie“ hat das Angstthema „Kriminalität“ über lange Zeit verdrängt (Abb. 3).

Im Übrigen gilt die Zurückhaltung bei Gewaltthemen nur für die öffentlich-rechtlichen Nachrichten, bei den quotenstarken Boulevardmagazinen am Vorabend zeigt sich ein völlig anderes Bild: Kein anderes der untersuchten Fernsehformate widmete Gewaltdelikten so viel Sendeplatz wie das öffentlich-rechtliche Magazin hallo deutschland (ZDF), 17,1 % Zeitanteil über vier Programmwochen im Jahr 2021.
 


Abb. 3: Anteile von Berichten über Gewaltkriminalität in Fernsehnachrichten

N = 462 Ausgaben öffentlich-rechtlicher Nachrichten (ARD und ZDF) und 959 Ausgaben privater Nachrichten (RTL, SAT.1, ProSieben, KabelEins, VOX und RTLZWEI) aus jeweils vier (2012: drei) Programmwochen der jeweiligen Jahre (Quelle: Hestermann 2022, Hochschule Macromedia)



Ein weiteres Muster zieht sich durch alle Analysen: Drastische Gewalt wird besonders hervorgehoben. Um vollendete Fälle von Mord und Totschlag geht es in fast jedem zweiten Beitrag in den untersuchten Fernsehnachrichten und TV-Boulevardmagazinen 2021 (46,8 %). Dabei beträgt deren Anteil an allen Gewaltdelikten laut Polizeilicher Kriminalstatistik 2021 gerade einmal 0,2 % – ein medialer Lupenfaktor von 285. Überlebt ein Mensch einen lebensbedrohlichen Angriff, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass darüber im Fernsehen berichtet wird, auf weniger als ein Drittel (Faktor 80). Um eine der 483.703 polizeilich erfassten Körperverletzungen geht es in 8,7 % aller analysierten Berichte mit Faktor 0,2 deutlich seltener, als es deren statistischem Anteil entspräche.

Ein weiterer inhaltlicher Aspekt ist eher neu: Vielfach erscheint das Internet als der unheimliche Ort, aus dem neue Gefahren erwachsen. Da werden Fernsehreporter manchmal auch zu Fahndern, etwa im RTL-Boulevardmagazin Explosiv. Darin heißt es: „Die App AmongChat ist momentan schwer beliebt bei Kindern und Jugendlichen, die tauschen sich da vor allem über Games aus. Aber genau dort wurde jetzt ein 9-jähriger Junge sexuell belästigt.“ Der Sender kündigt an: „Unser Reporter hat die betroffene Familie getroffen, die jetzt in großer Angst lebt, und ihm ist es gelungen, den mutmaßlichen Täter ausfindig zu machen.“ Der entpuppt sich als recht einsilbiger Jugendlicher, der einräumt, den 9-Jährigen aufgefordert zu haben, sich zu entblößen – und schließlich unter medialer Beobachtung um Entschuldigung bittet.

Aktuell hat der russische Angriffskrieg auf die Ukraine andere Gewaltthemen weitgehend verdrängt. Denn das Publikum, so verraten Programmverantwortliche in Forschungsinterviews mit uns, sei nur bedingt empfänglich für das Grauen im abendlichen Fernsehen. „Das muss man in homöopathischen Dosen einsetzen“, sagte der Redakteur eines Privatsenders. „Wenn Sie jeden Tag mit so einem Schocker um die Ecke kommen, nimmt Sie irgendwann keiner mehr ernst.“
 

Quellen:

Deutscher Presserat: Leitsätze zur Richtlinie 12.1. In: presserat.de, 31.05.2017. Abrufbar unter: www.presserat.de

Hestermann, T.: Messer, Morde und Migranten. Muster der TV-Berichterstattung. In: tv diskurs, Ausgabe 91, 1/2020, S. 66–71. Abrufbar unter: https//:mediendiskurs.online

Hestermann, T.: Zwischen Stürmerstars und Gewalttätern. Die Berichterstattung über Eingewanderte und Geflüchtete. In: Mediendienst Integration, Januar 2022. Abrufbar unter: https://mediendienst-integration.de

Hestermann, T./Hoven, E.: Kriminalität in Deutschland im Spiegel von Pressemitteilungen der Alternative für Deutschland (AfD). In: Kriminalpolitische Zeitschrift (KriPoZ), 3 | 2019. Abrufbar unter https://kripoz.de

Krei, A.: Die Monatsmarktanteile im September. Private unter Druck: ARD vor ProSieben, ZDF gleichauf mit Sat.1. In: DWDL, 01.10.2021. Abrufbar unter www.dwdl.de