Die fetten Jahre sind vorbei

Graue Wolken über der deutschen Produktionsbranche

Tilmann P. Gangloff

Tilmann P. Gangloff ist freiberuflicher Medienfachjournalist.

Der hiesigen Produktionsbranche geht es zumindest von außen betrachtet so gut wie lange nicht: Es gibt so viele potenzielle Auftraggeber wie noch nie. Die Binnenperspektive sieht jedoch anders aus. Die Branche muss sich mit erheblichen Herausforderungen auseinandersetzen: Inflation, Energiekosten, Fachkräftemangel; und Corona ist auch noch nicht vorbei.

Printausgabe mediendiskurs: 26. Jg., 4/2022 (Ausgabe 102), S. 70-74

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Wenn selbst Menschen, für die ein Glas immer halb voll ist, bedenkliche Töne anschlagen, dann ist die Lage wohl in der Tat ernst. Dabei legt die Außenperspektive eine ganz andere Wahrnehmung nahe: Eigentlich müsste in der deutschen Produktionsbranche Champagnerlaune herrschen. Dank der Streamingdienste gibt es so viele potenzielle Auftraggeber wie noch nie, zumal die etablierten TV-Sender gekontert haben und für ihre eigenen Digitalangebote ebenfalls fleißig produzieren lassen. Björn Böhning, Geschäftsführer der Produzentenallianz, relativiert die Einschätzung jedoch: Der Anteil von Netflix oder Amazon sei zwar deutlich gestiegen, aber im Vergleich zum Produktionsvolumen der Sender nach wie vor deutlich geringer. 2021 hätten die „Streamer“ ca. 250 Mio. Euro investiert, doch allein das Volumen der öffentlich-rechtlichen Sender habe bei rund 1,6 Mrd. Euro gelegen. Immerhin nehme die Zahl der Auftragsproduktionen jenseits der klassischen Sender rasant zu:

Es gibt ein stabiles Wachstum, und wir sind zuversichtlich, dass das so bleibt.“

Allerdings wisse derzeit niemand, „ob die Streamer ihr Engagement als Markteinstiegs-Investition begreifen oder als dauerhafte Nachfrage nach deutschen Produktionen.“ Außerdem fürchtet Böhning, dass die Beitragsdiskussion „mehr und mehr zur Spardebatte im Programmbudget der öffentlich-rechtlichen Sender“ werde. Sein Fazit: „Graue Wolken am Produzentenhorizont.“
 

Produzenten klagen immer

Zweckpessimismus gehört in dieser Branche zum Handwerk, wie ein Produzent einräumt: Das Gewerbe sonne sich gern im eigenen Glanz, doch im persönlichen Gespräch werde kräftig geklagt. Diesmal scheinen die Klagen jedoch berechtigt zu sein, denn die Firmen sehen sich mit gleich mehreren Herausforderungen konfrontiert. Dass sich die Budgets von ARD und ZDF, wie es ein anderer Produzent formuliert, „an historischen Preisvorstellungen orientieren, die mit der Realität nichts zu tun haben“, ist ein alter Hut. Aber wenn einem niedrigen Budget Ausgaben gegenüberstehen, die durch die Inflation deutlich gestiegen sind, hat jeder Unternehmer ein Problem; von den explodierten Energiekosten sowie dem Investitionsbedarf durch Green Producing ganz zu schweigen. Die Pandemie ist auch noch längst nicht überwunden; nach wie vor drohen Produktionen wegen der Erkrankung wichtiger Mitwirkender auszufallen. Zumindest kurzfristig und mit Geld nicht zu lösen ist zudem eine ganz andere Aufgabe: Die Produktionsbranche brauchte sich nie um Nachwuchs zu bemühen und hat eine systematische Ausbildung sträflich vernachlässigt; das rächt sich jetzt.

Angesichts der vielfältigen Bedrohungen könnte einem angst und bange werden, doch nun zeigt sich zumindest bei den erfahrenen Kräften die andere Seite dieses Gewerbes: Die Situation wird sachlich analysiert, auf Alarmismus wird verzichtet. UFA-Geschäftsführer Joachim Kosack betont ohnehin erst einmal, wie privilegiert man sei:

Wir sind in einer gesunden, reichhaltigen und vielfältigen Branche tätig, die gerade im Vergleich zu anderen Wirtschaftszweigen sehr, sehr gut ausgestattet ist; das darf man bei aller berechtigten Sorge wegen der jüngsten Entwicklungen nie vergessen.“

Zwar entwickelten sich derzeit einige riesige Herausforderungen, „aber es wäre die völlig falsche Reaktion, nun festzustellen, dass alles ganz furchtbar wird. Die Produktionsbranche kann sich nach wie vor auf eine sehr gesunde Struktur verlassen.“ Außerdem habe sie Erfahrung darin, sich strategisch anzupassen. In den letzten fünf Jahren hätten wegen der vielfältigen neuen Möglichkeiten des Marktes fast alle Unternehmen lernen müssen, „sich viel fragmentierter und viel breiter im Development aufzustellen.“ Derzeit müsse man sich eben daran gewöhnen, dass die Quantität wieder abnehme und die Produktionsmargen sinken.
 

Die Bedingungen ändern sich ständig

Dann sind die fetten Jahre also vorbei? Das wäre aus Kosacks Sicht zu undifferenziert formuliert. Der UFA-Geschäftsführer erinnert sich noch gut an die 1990er-Jahre, „als es einen Riesenboom gab, doch in den Nullerjahren haben die Privatsender ihre fiktionalen Eigenproduktionen deutlich zurückgefahren.“ Die Branche sei daran gewöhnt, dass sich die Rahmenbedingungen ständig änderten, und in der Lage, entsprechend flexibel zu reagieren. „Wer hätte z. B. vor ein paar Jahren gedacht, dass in Deutschland international erfolgreiche Genreserien wie Dark oder Barbaren produziert werden?“ Auch das sei jedoch nur ein vorübergehendes Phänomen: „Ich bin überzeugt, dass sich der Schwerpunkt weg von den Eventserien mit ihren riesigen Budgets und einer neuen Staffel alle zwei Jahre wieder stärker zu lang laufenden Mainstreamformaten verlagern wird, für die gerade die UFA seit Jahren ebenfalls steht.“ Kosack hat zwar die Hoffnung, dass die Branche weiterhin viel produzieren und entsprechend verdienen werde, „aber es ist klar, dass die nächsten Jahre eine Herausforderung werden.“

Auch für Oliver Berben, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Constantin Film AG und verantwortlicher Vorstand für den Bereich „TV, Entertainment & Digitale Medien“, kommt die aktuelle Entwicklung nicht überraschend: „Ich höre nun schon seit einigen Jahren, wir erlebten derzeit ein ‚Goldenes Zeitalter‘, aber tatsächlich befinden wir uns längst in einer Phase der Konsolidierung.“ Das gelte vor allem für den Streamingbereich:

Alle sprechen immer nur über die vielen Anbieter und die tollen Möglichkeiten, dabei hat mit der ‚Post-Streaming‘-Ära bereits der nächste Abschnitt begonnen.“

Er vergleicht diese Phase mit dem Aufblühen der Cable Networks in den USA der 1970er-Jahre: „Die Situation war damals am Ende völlig unübersichtlich und vor allem teuer, weil die Sender alle einzeln abonniert werden mussten. Die Entwicklung auf dem Streamingmarkt ist ähnlich, nur die Technologie ist heute eine andere: Wenn die Menschen alles sehen wollen können, müssen sie auch alle Dienste abonnieren; das ist für viele Haushalte nicht finanzierbar.“ Es werde daher in den kommenden zwei, drei Jahren große Veränderungen geben: „Einige Streaminganbieter werden übernommen, andere werden sich aus dem Markt zu rückziehen.“ Berben kann sich auch vorstellen, dass es, ähnlich wie einst bei den amerikanischen Kabelsendern, zu einem „Bundling“ kommt und man mehrere Streamingdienste als Paket abonnieren kann; das wäre unterm Strich natürlich preiswerter als lauter Einzelabos. Werbung werde ohnehin eine deutlich größere Rolle spielen.
 

Trailer Dark (KinoCheck, 2017)



Erst mal klotzen

Natürlich bleibt diese Entwicklung nicht ohne Folgen für die Produktionsunternehmen. „In den letzten zwei Jahren“, sagt Berben, „sind Inhalte mit ungeheurer Vehemenz in Auftrag gegeben worden, ohne dass jeweils exakt eruiert wurde, ob man damit auch wirklich die eigene Zielgruppe bedient und ob das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt. So wird es sicher nicht weitergehen.“ Die vermeintliche Wahllosigkeit sei in der Anfangsphase allerdings unumgänglich gewesen: „Man muss erst mal klotzen, wenn man sich mit einer neuen Technologie etablieren will, um mit einer sehr, sehr großen Menge an Inhalten auf den Markt zu gehen; Disney hat dafür mit Disney+ Milliardenverluste in Kauf genommen.“ Diese Phase sei nun abgeschlossen: „Das Wachstum der Anbieter ist bereits zum Erliegen gekommen, wir befinden uns nun in einer Phase der Sättigung; der Kuchen ist verteilt. Bislang ging es in erster Linie darum, neue Kunden zu gewinnen; jetzt geht es darum, diese Kunden zu halten.“ Das werde sich auch auf die bestellten Inhalte niederschlagen, denn nun gelte es, Marken zu schaffen, wie das Disney z. B. mit dem Marvel-Universum gelungen sei. Lang laufende Serien spielten in dem Zusammenhang natürlich auch eine Rolle.

Leopold Hoesch kommt mit Blick auf sein Metier zu ganz ähnlichen Schlüssen wie Berben und Kosack. Die Formulierung des Dokumentarfilmproduzenten fällt allerdings deutlich drastischer aus: „Wenn man denkt, das Paradies sei erreicht, steht der Absturz erfahrungsgemäß kurz bevor; und die Branche ist noch nicht mal in Alarmstimmung.“ Der Geschäftsführer der in den letzten Jahren für Werke wie Die Unbeugsamen oder Schwarze Adler vielfach ausgezeichneten Produktionsfirma Broadview äußert sich daher mit Blick auf die absehbare Zukunft entsprechend pessimistisch:

Gerade für unseren Bereich werden die nächsten zwei, drei Jahre wirklich hart.“

Im Markt tummelten sich zu viele Player, die zumindest hinsichtlich ihrer dokumentarischen Expertise mehr Geld als Verstand hätten: „Sie sind neu in den Markt eingestiegen und bauen mit viel Geld Strukturen auf, die für den Markt zu groß sind. Diese Kosten lassen sich nicht verdienen, dafür ist der Bereich schlicht nicht groß genug.“ Bei einem vergleichsweise kleinen Betrieb wie Broadview ginge das gar nicht, aber bei Konzernen fielen solche Investitionen erst einmal nicht weiter ins Gewicht. So komme es zwangsläufig zu einem Verdrängungswettbewerb, zumal die Firmen darauf angewiesen seien, ihre Mitarbeiter massiv anderswo abzuwerben, um den eigenen Ansprüchen gerecht zu werden: „In diesem Wettbewerb hat man natürlich die schlechteren Karten, wenn man sich nicht aus einer Konzernkasse bedienen kann. Wir können nur investieren, was wir zuvor eingenommen haben. Wenn das Kapital aufgebraucht ist, werden die Konzerne feststellen, dass sich ihre Erwartungen nicht erfüllt haben, und sich wieder zurückziehen.“ Für ein Unternehmen wie Broadview heiße das: „Wir müssen unsere Mitarbeiter überzeugen, bei uns zu bleiben, und werden vermutlich Gehälter zahlen müssen, die wir uns eigentlich nicht leisten können.“
 

Trailer Schwarze Adler (KinoCheck Heimkino, 2021)



Die Rücklagen sind aufgebraucht

Michael Lehmann, Vorsitzender der Geschäftsführung der Studio Hamburg Produktion GmbH, bringt einen weiteren Aspekt ins Spiel: Die Rücklagen der Firmen seien „in den letzten zwei Jahren durch die Pandemie und durch die Kompensation der Kostensteigerungen aufgebraucht; und dann ist auch noch das Kinogeschäft weggebrochen.“ Einige seiner Kolleginnen und Kollegen hörten das nicht gern, aber es gehöre zur Wahrheit dazu:

Die wirtschaftliche Basis ist für viele Unternehmen ins Rutschen gekommen, und so etwas hat immer auch Auswirkungen auf das kreative System.“

All das, vermutet der erfahrene Produzent, werde über kurz oder lang die Konzentrationsbewegungen im Markt weiter vorantreiben, was er sehr bedaure: „Die Vielfalt der Produzentenlandschaft ist der Humus für unsere sehr lebendige und kreative Branche.“

Aber nicht nur im Großen und Ganzen, auch im Detail wird das Arbeiten offenbar schwieriger. Gerade im High-End-Bereich, so Lehmann weiter, „sind die Finanzierungsmodelle mittlerweile äußerst komplex und daher nicht planbar“, sodass die Risiken für die Unternehmen noch weiter stiegen. Umso wichtiger würden gerade bei Großproduktionen neue Kollaborationsmodelle. Lehmann ist gespannt, wie die Wirtschafts- und Kulturförderung neu strukturiert wird, „damit wir im europäischen Maßstab wieder konkurrenzfähig werden, denn das sind wir nicht mehr.“ In diesem Zusammenhang müsse die Branche gemeinschaftlich darauf drängen, dass sich die Kalkulationen in einem realistischen Rahmen bewegten: „Dieser Rahmen muss auch die Kostensteigerungen etwa aufgrund höherer Energiepreise oder höherer Personalausgaben berücksichtigen. Wir sind nun mal eine personalintensive Industrie.“

Dieser Aspekt treibt fast alle Unternehmen gleichermaßen um, zumal er vielen Wirtschaftszweigen zu schaffen macht: Was nützen volle Auftragsbücher, wenn die Fachkräfte fehlen, um die Aufträge umzusetzen? Große Unternehmen, versichert Berben, seien davon genauso betroffen wie kleine. „Ein duales Studium dauert bis zu vier Jahre, aber wir brauchen eine Lösung für die Gegenwart. Wir müssen daher eine bessere und vor allem schnellere Form der Ausbildung ermöglichen, und das ist nur als Gemeinschaftsleistung der gesamten Branche zu machen.“ Es gebe zwar bereits verschiedenste Erfolg versprechende Initiativen und Kooperationen zwischen den Unternehmen, aber am Ende werde die Branche daran gemessen, ob sie ein attraktives Gesamtkonzept anbieten könne.
 

Quereinsteiger gewinnen

Zu diesen Initiativen zählt z. B. GetOnSet, ein von Studio Hamburg gemeinsam mit MOIN Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein und der HMS Hamburg Media School gegründetes Traineeprogramm für Quereinsteiger. Auf diese Gruppe zielt auch die UFA Academy. Das Programm soll in Zusammenarbeit mit dem Land Brandenburg, der Produzentenallianz, dem Medienboard und anderen Mitwirkenden am Standort Babelsberg zur Berlin-Brandenburg Academy weiterentwickelt werden und laut Kosack als Blaupause auch für andere Medienstandorte dienen: „Wir müssen unbedingt eine Diversität auch hinter der Kamera erreichen und dafür soziografische Schichten ansprechen, die bislang gar nicht auf die Idee gekommen sind, ‚beim Film‘ zu arbeiten, weil wir tatsächlich viel zu lange eine geschlossene großstädtische Branche waren.“ Auch die Produzentenallianz sei in dieser Hinsicht aktiv, versichert Geschäftsführer Böhning. Um mittel- und langfristig im Personalwettbewerb mit anderen Wirtschaftsbranchen bestehen zu können, seien unterschiedliche Maßnahmen geplant, etwa die Veröffentlichung einer digitalen Berufsinformations- und Ausbildungsplattform als Fortführung des Career Guide Films, die Entwicklung von Imageclips für die Branche als attraktiven Arbeitsmarkt, die Durchführung einer Filmberufe-Messe oder die stärkere Vernetzung von Schule und Produktionswirtschaft. Diese Maßnahmen sollen in einer übergreifenden zielgruppengerechten Marketing- und Kommunikationsstrategie gebündelt werden. Eine faire Bezahlung, ergänzt Berben, spiele beim Wettbewerb mit anderen Branchen ebenso eine Rolle wie eine positive Unternehmenskultur. Er betrachtet den Fachkräftemangel jedoch auch als Aufgabe der Gesellschaft:

Fernsehen, Kino und Streamingdienste sind ein Kulturgut, werden hierzulande im schulischen Bereich jedoch sträflich vernachlässigt. Wir brauchen dringend ein entsprechendes Schulfach. Medien werden in Zukunft eine noch größere Rolle spielen als ohnehin schon, darauf müssen wir junge Menschen unbedingt vorbereiten.“