Die vielen Facetten des Erwachsenwerdens

Die Retrospektive 2023 „Young at Heart – Coming of Age at the Movies“ auf der 73. Berlinale

Moritz Stock

Moritz Stock, M. A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Siegen im Arbeitsbereich „Medien und Kommunikation“. Er beschäftigt sich in seinem Dissertationsprojekt mit filmischen Coming-of-Age-Narrationen.

Die Retrospektive der 73. Internationalen Filmfestspiele Berlin widmete sich in diesem Jahr Filmen über das Erwachsenwerden – kurz: dem Coming-of-Age-Genre. Ziel war es, die Lebens-und Erfahrungswelten von Heranwachsenden in den Fokus zu rücken, das Jungsein zu feiern und damit das Versprechen auf eine andere Zukunft zu verbinden. Dazu wurden insgesamt 28 Filme von 28 Kurator*innen aus 16 Ländern ausgewählt. Die Leitung der Retrospektive übertrug die Auswahl verschiedenen Filmschaffenden, die der Berlinale verbunden sind.

Printausgabe mediendiskurs: 27. Jg., 2/2023 (Ausgabe 104), S. 10-13

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Ausgewählt wurden einerseits Kinder- und Kindheitsfilme wie der iranisch-japanische Beitrag Ein Sack Reis (1996), der UdSSR-litauische The Beauty (1969) oder der amerikanische Der kleine Ausreißer (1953), andererseits aber auch Filme mit Protagonisten, die biografisch zwischen Kindheit und Jugend stehen, wie das nostalgische amerikanische Coming-of-Age-Drama Now and Then – Damals und heute (1995) oder das französische Sozialdrama Lärm und Wut (1988). Dazu kamen Coming-of-Age-Filme über Jugendliche, welche an der Schwelle zum frühen Erwachsenenalter stehen, wie das ikonische amerikanische Coming-of-Age-Drama … denn sie wissen nicht, was sie tun (1955) oder das indische Drama Der Unbesiegbare (1956). Zuletzt wurden auch Entwicklungsgeschichten über Protagonisten im Erwachsenenalter gezeigt wie in dem französisch-polnisch-schweizerischen Trauerdrama Drei Farben – Blau (1993) und der amerikanischen Komödie Und täglich grüßt das Murmeltier (1993).
 

Trailer Groundhog Day (1993) (Rotten Tomatoes Classic Trailers, 02.02.2018)



Gerade bei letzterem Film wurden die unterschiedlichen Herangehensweisen bei der Auswahl deutlich: Die deutsche Regisseurin Nora Fingscheidt begründete ihre ungewöhnliche Wahl damit, dass die Komödie mit Bill Murray ihre erste bewusste Filmerfahrung gewesen sei und die Gefühlswelt der bereits erwachsenen Hauptfigur durchaus der von Jugendlichen entspreche: „Er fühlt sich einsam, missverstanden und umgeben von Idioten“ (Deutsche Kinemathek 2023).

Biografische Gründe führte auch der philippinische Regisseur Lav Diaz an. Der Film Manila (PHI 1975) habe ihn als Student gelehrt, „dass Kino nicht nur Unterhaltung, sondern ein mächtiges diskursives Medium ist, in dem für die Menschheit drängende und wichtige Themen verhandelt werden“ (ebd.), während die französische Regisseurin Céline Sciamma sich rückblickend wünschte, dass sie das Dokudrama Not a Pretty Picture (USA 1976) als Jugendliche gern gesehen hätte, weil dieser Film sehr unmittelbar und eindrücklich ein gerade für Jugendliche wichtiges Wissen über „eine Kultur des Missbrauchs als auch über den Widerstand gegen diese Kultur vermittelt“ (ebd.).

Einen dezidiert politischen Bezug stellte auch der iranische Regisseur Mohammad Rasoulof her, der 2022 wegen angeblicher Volksverhetzung verurteilt worden war. Aus dem Evin-Gefängnis schreibend, wählte er Werner Herzogs Film Jeder für sich und Gott gegen alle (BRD 1974) mit der Begründung aus, dieser Film habe ihn schon als Jugendlicher fasziniert und zeige metaphorisch in der Figur des Kaspar Hauser, wie dessen Wille ihn „durch die Zwänge der Macht zum Opfer macht“ (ebd.), womit eine Brücke zur aktuellen politischen Situation im Iran geschlagen werden könne.
 

Werner Herzogs Kaspar Hauser - Jeder für sich und Gott gegen alle (1974) (Arthouse, 06.09.2022)



Erwachsenwerden als Rebellion, Flucht und Anpassung

Bei der Sichtung der 28 Filme wurde schnell die politische Haltung vieler ausgewählter Filme deutlich, die Möglichkeiten jugendlicher Rebellion waren ein wiederkehrendes Thema. Erwachsenwerden bedeutet das Hineinwachsen in eine bereits bestehende Welt mit festgelegten Werten und Normalitätsvorstellungen, gegen die sich die dargestellten jugendlichen Figuren nicht selten aufzulehnen versuchen.

Besonders eindrucksvoll zeigt dies der Film Vogelfrei (F 1985) der kürzlich verstorbenen Nouvelle-Vague-Regisseurin Agnès Varda: Darin sucht eine junge Landstreicherin nach einem freien, ungebundenen Leben abseits gesellschaftlicher Erwartungen. Durch die Vorwegnahme ihres Erfrierungstodes in der Eingangssequenz wird ein vermeintliches Scheitern jugendlicher Ausbruchsfantasien gezeigt. Indem der Film im weiteren Verlauf aber auch unterschiedliche Reaktionen von Menschen zeigt, denen die junge Frau auf ihrem Weg begegnet ist und die von Ablehnung bis Faszination reichen, thematisiert der Film auch, wie Jugendliche eine andere, den gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen widersprechende Lebensweise vorleben und damit inspirierend wirken können.

Ausbrechen will auch das junge Paar in dem senegalesischen Film Touki Bouki (1973), welches in einem Slum bei Dakar aufwächst, aber von Paris träumt. So verhandelt der Film über eine assoziative Montage die Entstehung jugendlicher Träume und in welcher Verbindung diese mit der Kolonialgeschichte des Senegals stehen. Die Suche nach einem anderen Leben führt den Fischerjungen Julio in dem philippinischen Drama Manila vom Strand in das urbane Manila, wo ihn jedoch kein besseres Leben erwartet. Der Film erzählt sozialrealistisch von Solidarität, Korruption und einer jungen Liebe, die sich unter den Vorzeichen der Marcos-Diktatur wiederfindet, aber an den gesellschaftlichen Realitäten zerbricht.

Mehrere Filme der Retrospektive thematisieren vergebliche Ausbruchsversuche junger Menschen. In Sofia Coppolas The Virgin Suicides (USA 1999) bleibt ein Roadtrip und damit die Flucht von fünf Schwestern aus der amerikanischen Vorstadt und ihrem einengenden Familienleben nur ein Traum, und auch in dem französischen Sozialdrama Lärm und Wut kann sich die junge Hauptfigur Bruno nicht aus einem immer wieder neu beginnenden Kreislauf der Gewalt befreien. 
 

Sehr ambivalent erzählt auch der Film Sugar Cane Alley (F 1983) von Rebellion, Flucht und den Möglichkeiten sozialer Integration: Der Film spielt 1930 in einem abgelegenen Dorf auf der Karibikinsel Martinique und handelt von dem Waisenjungen José, der bei seiner Großmutter aufwächst und als Erster im Dorf lesen und schreiben lernt. Im Mittelpunkt steht kein Heranwachsender, der unbedingt sein Heimatdorf verlassen will, dies aber tun muss, um überhaupt eine weiterführende Schule besuchen zu können. Damit wird auch die Frage aufgeworfen, wer in Coming-of-Age-Erzählungen gezwungen wird, sein gewohntes Umfeld zu verlassen und wer frei darüber entscheiden kann. Auch hier wird eine individuelle Entwicklungsgeschichte mit übergeordneten gesellschaftspolitischen Themen verknüpft. Dies tut auch Bernardo Bertoluccis Vor der Revolution (I 1964), ein Film, der in den 1960er-Jahren im italienischen Parma spielt und von einem Studenten aus dem Bürgertum erzählt, der mit dem Marxismus sympathisiert, am Ende aber die konservativen Werte seiner Familie übernimmt. Das Erwachsenwerden ist hier mit einer Anpassung und Abkehr von den Idealen der Jugend verbunden.
 

Erwachsenwerden als filmkünstlerisches Experiment

Auch formal rebellieren einige der ausgewählten Filme gegen konventionelle ästhetische Normen: Zu nennen ist die elliptisch-essayistische Struktur in Vor der Revolution, die assoziative Verknüpfung von Szenen und Motiven im Film Touki Bouki, in dem Träume von Paris mit Schlachthausszenen montiert werden, das Spiel mit Werbeästhetiken in The Virgin Suicides oder die Verschränkung von dokumentarischen und fiktionalen Aufnahmen in Not a Pretty Picture. Der tschechoslowakische Film Tausendschönchen (1966) der Regisseurin Věra Chytilová erzählt nicht nur von zwei Freundinnen, die ihre Alltagswelt auf den Kopf stellen, sondern demonstriert mit seinem assoziativen Collage-Stil auch, was im Kino an stilistischen Experimenten möglich ist. In ihrem unaufhaltsamen Aufstand zerstören die Freundinnen schließlich auch das Filmmaterial.


Erwachsenwerden als Suche nach sexueller Selbstbestimmung

Wiederholt ging es auch um das Hineinwachsen in Geschlechterrollen, um das Aushandeln unterschiedlicher Formen des Begehrens. Am Coming-of-Age-Drama … denn sie wissen nicht, was sie tun mit James Dean in der Hauptrolle lässt sich zeigen, wie in den 1950er-Jahren während der Zensurbestimmungen durch den Hays Code eine queere Figur (nicht) sichtbar wurde. So kann die Nebenfigur Plato als queer gelesen werden, am Ende muss sie aber sterben, während das heterosexuelle Paar kurz darauf zueinanderfindet. So mündet die im Film dargestellte Rebellion nicht in heterosexuelle Konventionen unterlaufenden Beziehungskonstellationen. Der queere Subtext ist in diesem Film der 1950er-Jahre noch nicht zum Text geworden.

Der von Karoline Herfurth ausgewählte australisch-französische Film Muriels Hochzeit (1994) erzählt die Geschichte der 22-jährigen arbeitslosen Muriel, die noch bei ihren Eltern lebt, „Abba“ liebt, von einer Hochzeit träumt und aus ihrer australischen Kleinstadt ausbricht, um im fernen Sydney in einem Brautmodengeschäft ihr Glück zu finden. Am Ende hinterfragt der Film heteronormative Vorstellungen eines vermeintlich glücklichen Erwachsenenlebens und stellt ihnen eine solidarische Freundschaftsbeziehung gegenüber. In dem französischen Coming-of-Age-Drama Auf das, was wir lieben (1983) versucht die 16-jährige Suzanne, sich gegen die rigiden, mit Gewalt durchgesetzten Moralvorstellungen ihrer Familie zu behaupten, um ihre eigene Sexualität frei und selbstbestimmt zu erkunden und auszuleben.
 

Mehrere Filme thematisierten im Jugendalter erfahrene sexuelle Gewalt. Für Irritationen sorgte der in einer langen Plansequenz dargestellte versuchte sexuelle Übergriff eines Schülers auf eine Mitschülerin in dem japanischen Schuldrama Typhoon Club (1985). Der Film verknüpft wiederholt jugendliche Ausgelassenheit mit plötzlichen Gewaltausbrüchen und thematisiert damit die Regellosigkeit jugendlicher Lebenswelten, in denen eine kaum zu bremsende Energie immer wieder in Gewalt umschlagen kann. Das Dokudrama Not a Pretty Picture der amerikanischen Filmemacherin Martha Coolidge zeigt dagegen, wie die Regisseurin versucht, eine Vergewaltigung, die sie selbst als Jugendliche erlitten hat, filmisch durch eine Spielfilmhandlung zu rekonstruieren. Auf sehr reflektierte und zugleich drastische Weise setzt sich der Film mit filmischen Repräsentationspolitiken auseinander und problematisiert, inwiefern das Medium Film patriarchale Gewalt aufdecken und in Zukunft verhindern kann.
 

Divergierende Blickwinkel auf das Erwachsenwerden

Die Gewalt männlicher Blickstrukturen thematisiert schließlich auch Sofia Coppolas Film The Virgin Suicides, bei dem das Heranwachsen fünf junger Mädchen in der amerikanischen Vorstadt vornehmlich aus der Perspektive der Nachbarsjungen erzählt wird. Dieser Film stellt auch grundsätzliche Fragen nach der Perspektive, aus der Coming-of-Age-Filme erzählt werden. Inwiefern wird aus männlicher, weiblicher, jugendlicher oder erwachsener Perspektive erzählt und inwiefern lassen sich die z. T. sehr diffusen Gefühls-und Erfahrungswelten von Jugendlichen überhaupt mit dem Oberflächenmedium Film einfangen?

In den Filmen werden unterschiedliche Perspektiven und Blickwinkel eingenommen: In Now and Then – Damals und heute wird das Erwachsenwerden im Rückblick auf einen besonderen Sommer im Jahr 1970 erzählt, das New-Hollywood-Drama Die letzte Vorstellung (USA 1971) blickt aus der Perspektive der 1970er-Jahre auf das amerikanische Kleinstadtleben der 1950er-Jahre und reflektiert dabei auch die Bedeutung des Kinos für Heranwachsende. Neben den Erzählinstanzen ist auch die Kameraeinstellung entscheidend: So ist die bewegliche Handkamera in Der kleine Ausreißer stets auf Augenhöhe mit dem 7-jährigen Joey, wir begleiten ihn bei seinen Erlebnissen im New Yorker Vergnügungspark Coney Island und sehen die Welt mit seinen Augen. Ähnlich verfährt der Film The Beauty, in dem wir die 6-jährige Inga begleiten.

Insgesamt versammelte die Retrospektive eine beeindruckende Bandbreite filmischer Coming-of-Age-Erzählungen: Kanonisierte Klassiker standen neben bislang kaum gesehenen Neuentdeckungen. Dabei zeigten Filme wie die iranischen Kinderfilme Wo ist das Haus meines Freundes? (1987) und Ein Sack Reis auch, was ein bereits erwachsenes Publikum von Kindern an Solidarität und Menschlichkeit lernen kann. Dadurch, dass die Filme für ein internationales Filmfestival im Original mit englischen Untertiteln gezeigt wurden und es keine direkte Kooperation mit Schulen gab, blieb ein jüngeres Publikum leider weitgehend außen vor. Gerade dieses Publikum aber wäre vielen der ausgewählten Filme zu wünschen.
 

Literatur:

Deutsche Kinemathek: Young at Heart – Coming of Age at the Movies. Statements der Filmemacher*innen. In: Insights – das Magazin der Kinemathek. Berlin 2023. Abrufbar unter: https://www.deutsche-kinemathek.de (letzter Zugriff: 09.03.2023)