Körpermedien

Gerd Hallenberger

Dr. habil. Gerd Hallenberger ist freiberuflicher Medienwissenschaftler.

Kommunikation geschieht nicht nur über technische Medien, auch ganz alltägliche Dinge können Botschaften transportieren, sofern Sender:innen und Empfänger:innen die dabei verwendeten Codes kennen. Nicht nur, aber in besonders hohem Maße für Heranwachsende von großer Bedeutung sind dabei einige Phänomene, die sich als „Körpermedien“ bezeichnen lassen. Auf den ersten Blick dienen sie ganz profanen Zwecken, gleichzeitig stellen sie aber auch nicht technische Zeichensysteme dar. Ihre Besonderheit: Die Signifikanten dieser Zeichensysteme werden am oder über dem Körper getragen. Das wichtigste Körpermedium in diesem Sinne ist Kleidung, aber auch Frisuren, Tattoos und schmückende Gegenstände aller Art – vom Ohrring bis zum Fußkettchen – gehören zu diesen Medien.

Printausgabe mediendiskurs: 27. Jg., 3/2023 (Ausgabe 105), S. 56-57

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Kleidung soll zwar primär den Körper verhüllen und vor Kälte, Hitze oder Regen schützen, aber seit Jahrtausenden erfüllt sie zusätzlich kommunikative Funktionen. Sie kann über den sozialen Rang von Träger oder Trägerin informieren, über ethnische Zuordnung, regionale Herkunft, Beruf, Religion oder Familienstand. Im Unterschied zu aktuellen Vorstellungen hatten aber die meisten Menschen lange Zeit kaum Wahlmöglichkeiten in Bezug auf ihre Kleidung: Sie kommunizierten damit nicht, was sie wollten, sondern was sie waren. Aufwendige und erkennbar wenig alltagstaugliche Bekleidung signalisierte die Zugehörigkeit zur Oberschicht, für alle anderen galten entweder offizielle oder inoffizielle Kleiderordnungen. Manchmal waren Alternativen auch schlicht nicht bezahl- bzw. verfügbar. Bei aller heutigen Romantisierung von Trachten als gelebter Tradition sollte dabei nicht vergessen werden, dass sie im 20. Jahrhundert zunächst von politischen und später kommerziellen Interessen mit symbolischer Bedeutung aufgeladen wurden: Wer sich heute für den Besuch des Münchner Oktoberfestes im Trachtenlook einkleidet, trägt etwas, das mit historischen Trachten nichts mehr zu tun hat.

Was für Kleidung gilt, lässt sich analog auch für Schmuck, Frisuren und Tattoos nachweisen. Es ging und geht um eine Kombination von Dekoration und Information, mit je eigenen und sich im Laufe der Zeit verändernden Semantiken. Im Falle von Schmuck sogar manchmal mit tatsächlichem oder einem erhofften praktischen Zusatznutzen – ein Siegelring leistete lange Zeit nützliche Dienste bei der Beurkundung von Verträgen, von „Heilsteinen“ werden gesundheitsfördernde Wirkungen erbeten. Abgesehen davon kann Schmuck beispielsweise über die Gruppenzugehörigkeit der Träger:innen informieren, ihren Familienstand (Ehering) oder ihren Status – teurer Schmuck beweist Reichtum.

Jenseits dekorativer Aspekte und der Kommunikation von Zugehörigkeit oder Individualität kommt Frisuren noch eine besondere Bedeutung zu, da sie nicht nur auf dem Körper getragen werden, sondern Haare am Körper angewachsen sind. Und daher zusätzlich Körperinformationen kommunizieren, etwa über Alter, Körperpflege und Vitalität, was bei der Einschätzung sexueller Attraktivität eine erhebliche Rolle spielen kann. Wie Frisuren sind auch Tätowierungen körpergebunden, aber dauerhaft. Eine Frisur lässt sich leicht verändern, Tattoos bleiben im Prinzip ein Leben lang. Sie zu entfernen, ist zwar heute möglich, aber aufwendig und kostspielig. Im Laufe der Geschichte und je nach Region haben Tätowierungen immer wieder anderen Zwecken gedient: zur Stigmatisierung von Personen oder Personengruppen (z. B. von Sklaven im antiken Griechenland), als Medium der Kommunikation von persönlichen Informationen (z. B. bei den Ureinwohnern Neuseelands), als Beleg ihrer Weltläufigkeit bei Seefahrern des 19. Jahrhunderts oder als Erkennungsmerkmal von Subkulturen (z. B. unter Rockern).
 

Die Geschichte vom Tattoo (Quarks, 01.02.2020)



All das ist in der heutigen Medienwelt aufgehoben, d. h. in Teilen bewahrt und gleichzeitig Teil von etwas Neuem. Für die meisten Menschen in den meisten Ländern haben sich gegenüber früheren Zeiten jedoch vier Dinge verändert: Erstens gibt es weniger Vorschriften und damit mehr Wahlfreiheit. Zweitens hat sich die Auswahl deutlich vergrößert, teils sogar globalisiert – es gibt also viel mehr Optionen. Damit dienen Körpermedien drittens weniger als früher zur Markierung von unveränderlicher Gruppenzugehörigkeit und mehr als Ausdruck von Individualität. Und viertens sind hier Bedeutungen nicht festgeschrieben, sondern im Wandel: So wurden etwa „Jeans“, vormals schlichte Arbeiterhosen, erst zu Symbolen der Auflehnung, später zu Mainstream-Fashion.

Körpermedien sind für Jugendliche als Werkzeuge für ihre individuelle Identitätspolitik essenziell: Wer „ich“ bin, wozu ich gehören will, wovon ich mich abgrenze, das sollte auf den ersten Blick ersichtlich sein. Sozialer Status oder demonstrativer Reichtum fallen hier als Distinktionsmerkmale aus – Jugendliche mit teurer Markenkleidung profitieren nur vom Wohlstand ihrer Eltern. Stilistische Distinktion mithilfe von Körpermedien ist dagegen auch eigenständig möglich: Wie viele Jugendliche schafften es beispielsweise in den 1960er-Jahren, ohne jeglichen finanziellen Aufwand ihre Individualität und ihren Protest einzig dadurch zu kommunizieren, dass sie ihre Haare lang wachsen ließen?

In den letzten Jahrzehnten ist in der Gesellschaft insgesamt neben den traditionellen Körpermedien ein weiteres Medium immer wichtiger geworden: der Körper selbst. Unabhängig vom eigenen Alter als schlank, sportlich und vital zu erscheinen, ist heute geradezu eine Pflicht. Hier haben Jugendliche einerseits einen natürlichen Vorteil: Jugendliche Körper gelten in der Regel als attraktiver im Vergleich zu älteren. Andererseits stehen Jugendliche unter besonderem Druck, da sie noch auf dem Weg zu sich selbst und einem Partner oder einer Partnerin sind. In der realen Welt bieten – falls erforderlich – Fitnessstudios und Schönheitsoperationen Hilfe an, im medialen Angebot Makeover-Shows.

Es gibt aber für Jugendliche auch eine gute Nachricht: In vielen Fällen der notwendigen Selbstinszenierung geht es dank Social Media und Datingplattformen erst einmal weniger um Körper als um Bilder von Körpern – und dabei können Insta-Filter manche sportliche oder medizinische Tortur ersparen.