„Die Wahrheit beginnt zu zweit.“

Vera Linß im Gespräch mit Bernhard Pörksen

Der Medienwissenschaftler Dr. Bernhard Pörksen, Professor an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, beschäftigt sich in seiner Forschung mit der Frage, wie sich der Medienwandel auf die gesellschaftliche Kommunikation auswirkt und wie Debatten so gestaltet werden können, dass sie die Demokratie fördern. Gemeinsam mit dem Kommunikationspsychologen Friedemann Schulz von Thun schrieb Bernhard Pörksen zuletzt das Dialogbuch Die Kunst des Miteinander-Redens. Über den Dialog in Gesellschaft und Politik. Wie lassen sich seine Erkenntnisse auf die Zeit der Krise anwenden? Darüber sprach tv diskurs mit dem Wissenschaftler.

Printausgabe tv diskurs: 24. Jg., 3/2020 (Ausgabe 93), S. 26-30

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Eine Krise gilt oft auch als Chance. Beispielsweise als Chance, anders, differenzierter zu kommunizieren. Mit Blick auf die Coronakrise muss man allerdings feststellen: Chance vertan – oder?

Ich glaube, es ist im Moment noch zu früh. Ich würde sagen, wir erleben etwas, was man die Gleichzeitigkeit des Verschiedenen nennen könnte. Auf der einen Seite Explosionen von künstlerischer Kreativität im Netz, Solidaritätskonzerte, wunderbare solidarische Aktionen – auf Twitter zu beobachten oder natürlich auch im „real life“. Aber wir erleben auf der anderen Seite eben auch Hass, Hetze, Desinformation, wütende Attacken, wenn man so will die große Gereiztheit unter den Coronabedingungen. Und all dies gleichzeitig im Prozess einer weltweiten Vernetzung.

Ist diese Gleichzeitigkeit ein Problem oder könnte man nicht einfach sagen, sie spiegelt wider, dass sich die Gesellschaft schon seit Längerem ausdifferenziert?

Diese Gleichzeitigkeit ist aus meiner Sicht gleich in mehrfacher Hinsicht ein Problem. Zum einen für den Zeitdiagnostiker, der dann Entscheidungen treffen muss, zurückgeworfen ist auf seine Perspektive. Warum verkündet er oder sie auf einmal die totale Verpöbelung des Diskurses? Oder warum feiert er oder sie eine neue Solidarität? Das ist das Problem des Zeitdiagnostikers. Aber es ist zum anderen auch ein Problem für jede oder jeden von uns, weil man auf einmal bemerkt, dass die Behaglichkeit, die Harmonie der Wohlmeinenden radikal durchbrochen, radikal gefährdet ist unter solchen Kommunikationsbedingungen. Ja, man kann wunderbare Beispiele der Solidarität feiern, aber schon einen Klick weiter ist man wieder in einem dumpfen Tal des Hasses. Und diese Gleichzeitigkeit des Verschiedenen ist eine Vernetzungserfahrung, die unmittelbar verstört.

Die Verstörung allein ist aus meiner Sicht noch nicht so schlimm. Schwerwiegender ist doch die Angst davor, dass die Stimmung kippen könnte, dass die Verpöbelung und der Hass überhandnehmen könnten.

Ja, Sie haben völlig recht. Diese Verstörung ist eine Art Dauerirritation auch für diejenigen, die ein anderes besseres Leben und ein anderes besseres Miteinander-Reden wollen. Man ist ja immer schon mit dem Gegenbeispiel konfrontiert, mit dem abgrundtiefen Hass. Man sieht all dies gleichzeitig. Das Berührende, ja, aber eben auch das Bestialische und das Banale. Und diese Gleichzeitigkeit des Verschiedenen, die macht jede noch so wohlklingende These über das Wesen des Netzes und die Schönheit der Verbundenheit sofort dementierbar.


Ich würde sagen, die Mehrheit der Gemäßigten schweigt noch viel zu laut.


Und sie löst das Gefühl aus, dass es eigentlich oft sinnlos ist zu kommunizieren. Es scheint nur Sinn zu machen, mit denen zu reden, mit denen man sowieso schon auf einer Wellenlänge ist.

Das finde ich eine eher erschreckende Schlussfolgerung. Ich würde diese Zusammenhänge genau umgekehrt betrachten, auch wenn mir selbst oft oder viel zu oft die Kraft fehlt, mich der Kommunikation mit radikal Andersdenkenden oder Lauten und Wütenden zuzuwenden. Im Grunde genommen leben wir in einem definierenden Moment der Kommunikationsgeschichte, und die Mehrheit der Gemäßigten – und es ist eine Mehrheit – muss sich sehr viel engagierter zuschalten, für eine Sprache der Abkühlung werben. Ich würde sagen, die Mehrheit der Gemäßigten schweigt noch viel zu laut. Und sich in dieser Situation zurückzuziehen, heißt: der kleinen wütenden pöbelnden Minderheit der Hassenden das Feld zu überlassen – eben dies hielte ich für fatal.

Nehmen wir ein konkretes Beispiel. Zu Beginn der Coronakrise gab es eine Zeit lang ein „Wir“, das aber jetzt vorbei ist. „Die Zeit“ schildert in einem Artikel: „Mundschutzträger und Mundschutzverweigerer blaffen sich vor Supermärkten an, statt sich zuzuhören. Konzertbesucher finden ihr Bedürfnis nach Musik und Kultur bedingungslos wichtiger als das der Fußballfans. Und wer endgültig die Schnauze voll hat vom Lockdown, demonstriert“. Was ist da schiefgelaufen? Haben sich die Vernünftigen nicht genug eingebracht?

Das ist sicher die eine Tendenz. Denn all dies sind ja auch Machtkämpfe, Dominanzkämpfe, und wenn die Mehrheit der Gemäßigten sich mit einer anderen Deutlichkeit engagieren würde, dann wäre sicher das Kommunikationsklima nicht in dem Maße von den Rändern her bestimmbar. Das ist ja etwas, was wir immer wieder erleben und auch beklagen müssen. Es sind die Extremen und es sind die kleinen extremen Minderheiten, die von den Rändern her das Kommunikationsklima bestimmen. Aber in der Tiefe, würde ich sagen, regiert ein Prozess der Vernetzung, der uns mit immer anderen Weltsichten, großen und kleinen Ideologien konfrontiert. Und diese Ad-hoc-Konfrontation mit immer anderen Perspektiven, die ist schlicht und einfach eine Überforderung. Sie wäre nur dann keine Überforderung, wenn wir medienmündig wären, zögernd, gelassen, skeptisch, freundlich. Aber unter den gegenwärtigen Bedingungen auch der Anonymität von Kommunikation und der Eskalationsbereitschaft und leichten Entzündlichkeit ist die aktuell laufende Medienrevolution einfach eine Überforderung des Menschen.

Was wir dabei beobachten können, ist, dass eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Argumenten anderer ausbleibt. Andererseits kann man auch niemanden dazu zwingen, den Dialog zu suchen. Wie kann man dazu einladen, sich doch mit Argumenten auseinanderzusetzen?

Sie haben im Grunde genommen die Antwort in der Frage schon geliefert. Und das ist das Stichwort: Einladung. In der Tat, man kann niemanden zwingen. Die Bevormundung, die Kanzelpredigt, der Zeigefinger, das endlose Moralisieren – all das funktioniert nicht. Und diejenigen, die für ein anderes Kommunikationsklima werben, die für die Orientierung an Fakten und an seriösen Experten eintreten, die stehen jetzt vor einer ungeheuer schwierigen Frage, nämlich: Wie können wir Aufklärung unter den gegenwärtigen Medienbedingungen neu bestimmen? Wissend, dass der Mensch ein Gefühlswesen ist, wissend, dass wir Menschen uns stärker an Emotionen orientieren als an Fakten? Aus meiner Sicht muss Aufklärung heute nicht von der Philosophie her gedacht werden, sondern ganz wesentlich von der Psychologie und der Medienanalyse her.

Weil Sie Psychologie sagen: Die Psychologie beschreibt bestimmte Persönlichkeitsmerkmale bei Menschen, die etwa an Verschwörungserzählungen glauben. Ein niedriges Level an analytischem Denken, keine systemische Vorgehensweise, sich ausgeschlossen fühlen und endlich mal dem anderen zeigen können: Ich weiß jetzt was. Kann man das mit bestimmten Kommunikationsmustern beantworten?

Es gibt sicher keine Weltformel der Diskursrettung. Kommunikation ist in einer erschreckenden und auch wunderbaren Art und Weise unberechenbar. Aber es gibt sicher ein paar Prinzipien. „Alter weißer Mann“, „hysterische Feministin“, „frustrierter Ostdeutscher“ – die Vermeidung der pauschalen Attacke ist wesentlich, weil sie immer kränkt. Das Zögern lernen, das wirkliche Zuhören, ein Zuhören, das nicht so sehr von den eigenen Vorannahmen ausgeht, sondern versucht, sich die Frage vorzulegen, in welcher Welt ist das, was der andere sagt, tatsächlich plausibel? In welche Welt passt das hinein? Meistens hören wir ja auf eine Weise zu, die fragt: Stimmt das, was der andere sagt, mit dem, was ich ohnehin glaube, überein? Aber ein Zuhören, das sich von der Matrix der eigenen Weltwahrnehmung löst, diese ein Stück öffnet, das schiene mir das Gebot der Stunde. Und ganz wichtig: Niemandem, den man erreichen will, kann man dadurch imponieren, niemand lässt sich dadurch erreichen, indem man ihn massiv kritisiert und abwertet. Also, so schwierig das scheinen mag, so gefährlich oder riskant es auch unter öffentlichen Bedingungen ist: Hier sich um eine Würdigung zu bemühen, die Teilwahrheit in der Position des anderen erkennen zu können und anerkennen zu wollen, das sind Prinzipien, die Kommunikation verbessern. Aber natürlich ist ein hartgesottener Verschwörungstheoretiker unter Umständen gar nicht mehr für diese Bemühungen erreichbar.


Es gibt sicher keine Weltformel der Diskursrettung. Kommunikation ist in einer erschreckenden und auch wunderbaren Art und Weise unberechenbar.


Das setzt natürlich eine Idealsituation voraus. Das Schlagwort „Alter weißer Mann“ oder auch andere wie „Männerwelten“ oder „Black Lives Matter“, das sind ja auch politische Instrumente, die angewandt werden, um Menschen miteinander zu verbinden. Die sagen das: Der alte weiße Mann hört mir eben nicht zu, darum muss ich das mit so einer plakativen Aktion deutlich machen.

Ja, das hat natürlich auch seinen Sinn. Diese Empörung ist ja nicht einfach nur schlecht, sondern ich würde sagen, Empörung hat ein Doppelgesicht. Sie kann durchaus produktiv im Sinne der Gesellschaftsveränderung wirken, sie kann ein Instrument der Aufklärung sein, aber eben auch ein Instrument der Gegenaufklärung, des sinnlosen Spektakels. Nur: Wenn Sie sich unter einem Hashtag versammeln und andere zu Recht oder zu Unrecht – das sei einmal dahingestellt – attackieren, dann tun Sie eines ganz gewiss nicht: Sie führen kein Gespräch, sondern Sie ringen um Deutungshoheit im Medium der Öffentlichkeit. Das ist in Ordnung. Das gehört zu einer Demokratie dazu. Nur: Wenn man wirklich in einen Dialog eintreten will, dann gilt die Formel, die mein Kollege Friedemann Schulz von Thun folgendermaßen formuliert: Die Wahrheit beginnt zu zweit. Das ist die Prämisse des Dialogs. Das ist die Voraussetzung, die man annehmen muss, wenn man tatsächlich in ein wirkliches Gespräch eintreten will. In ein Gespräch, das diesen Namen verdient und das nicht einfach nur ein Austausch ist von Fertigantworten oder ein Bemühen darum, den anderen irgendwie niederzuringen im Interpretationsmuster von Sieg und Niederlage.

Würden Sie sagen, das ist dann auch gelingende Kommunikation, wenn man bereit ist, sich auf den anderen einzulassen und nach einer gemeinsamen Wahrheit zu suchen?

Ja, das würde ich sagen. Das ist die Ultrakurzdefinition gelingender Kommunikation. Die Wahrheit zu zweit beginnen lassen. Allerdings muss man gleich konstatieren – und das ist nicht besonders schön oder ermutigend, sich das einzugestehen –, dass diese Form von Dialog nicht mit allen gelingen kann. Weil es Grenzen des Sagbaren gibt. Weil eine Gesellschaft auch von Tabus lebt, von roten Linien, von der Markierung, von etwas, was nicht formuliert werden sollte. Antisemitische Verschwörungstheorien, Gewaltfantasien, rassistische Abwertungen. All das sind Positionen, die keine dialogische Würdigung verdienen, sondern – so schmerzhaft das im Einzelnen auch sein mag – die Ächtung.

Man muss also schon differenzieren zwischen Menschen, mit denen man über bestimmte Themen reden kann, und wo der Punkt ist, an dem es dann nicht mehr geht und man sich klar abgrenzen muss.

Ja, unbedingt. Friedemann Schulz von Thun und ich plädieren eigentlich für eine Art Doppelbewegung. Empathie, Dialogorientierung, Gesprächseuphorie, solange es irgendwie geht. Aber dann eben auch Streitbarkeit, das Beharren auf Unterschieden, Konfrontation, wenn es notwendig ist. Mir selbst hilft eine Unterscheidung zur Klärung eigener Dialogbereitschaft, die Friedemann Schulz von Thun folgendermaßen formuliert:

Man soll den anderen immer verstehen, das ist die erste Stufe. Egal, ob man ihn als Gegner begreift oder nicht. Verstehen ist immer notwendig.

Hat man aber auch Verständnis, kann man seine Motive und Empfindlichkeiten nachvollziehen? Das ist eine zweite Frage. Hier beginnt das weite Feld. Das ist schwer und nur mit genauem Blick entscheidbar. Und die dritte Frage lautet: Ist man einverstanden? Diese Dreistufenunterscheidung von Verstehen, Verständnis und Einverständnis hilft mir selbst, um mir klar zu werden: Bin ich eigentlich zu einem wirklichen Dialog mit dem anderen bereit? Und ich halte diese Klärung der eigenen Dialogbereitschaft aus einem sehr einfachen Grund für außerordentlich wichtig: Menschen merken es, ob der Dialog und die Gesprächsangebote bloße Behauptung sind, Showeffekte, therapeutische Pseudoformeln – oder ob man es ernst meint.

Man sollte also erst einmal bei sich anfangen und erst danach den nächsten Schritt gehen, wenn man feststellt, dass man bereit ist zu einem Dialog?

Ja, das würde ich sagen. Denn es gibt viel zu viele pauschale Dialogbehauptungen, die schlicht und einfach nur der Konfliktbeschwichtigung dienen. Ich möchte nicht hören, was der andere wütend, ungelenk und mir blödsinnig erscheinend herausschreit. Eben deshalb nähere ich mich ihm dann in so einer pseudotherapeutischen Betulichkeit und suggeriere und sage: Ja, ich möchte den anderen jetzt ernst nehmen. Ich möchte das Gespräch auf Augenhöhe, ich möchte wirklich zuhören. All das sind ja längst im öffentlichen Raum sehr verbreitete, aus dem therapeutischen Setting heraus diffundierte Formeln und Floskeln, die Mode geworden sind. Aber eben viel zu häufig. Und dafür haben Menschen ein feines Gespür und feine Antennen.

Umgekehrt stelle ich aber auch fest, dass sich viele ganz aus der Kommunikation heraushalten. Ich höre immer wieder Geschichten, dass Menschen aus ihrem privaten Bereich erzählen, dass da jemand AfD-Positionen hat oder homophob ist. Und dann sagen sie sich: „Ich wink das einfach durch. Das ist mir zu anstrengend. Das ist mir zu absurd.“ Obwohl man ja gerade in diesem privaten Bereich die Chance hätte, zu diskutieren.

Ja, stimmt. Das ist ambivalent. Natürlich, man muss sich im Sinne auch der eigenen Abgrenzungsfähigkeit selbst schützen. Und es ist ja ungeheuer erschöpfend, mit einem hartgesottenen Verschwörungstheoretiker zu debattieren. Ihm also in das Labyrinth der vielen Details über umgestürzte Türme oder Impfungen oder was auch immer zu folgen. Aber aus meiner Sicht legt die gesellschaftliche Situation, in der wir im Moment leben, nahe, die Dialogzonen so weit wie möglich auszuweiten. Immer in dem Bewusstsein, dass es rote Linien gibt, geben muss.

Gute, gelingende Kommunikation braucht Zeit und Streit. In den sozialen Medien ist es noch schwieriger als in der Offlinewelt, das umzusetzen, denn sie sind auf schnelle, impulsive Reaktionen ausgerichtet. Hier hat man also noch weniger Zeit für eine gute Kommunikation. Wie bewerten Sie es, dass man sich z.B. auf Twitter unter Hashtags organisiert? Wie #Männerwelten oder #Coronaelternrechnenab? Was ja dann sehr schnell dazu führt, dass sich andere darauf stürzen, und dann ist die Debatte ziemlich schnell tot. Ist es ein Fehler, überhaupt so vorzugehen?

Nein, das würde ich nicht sagen. Ich bin persönlich außerordentlich fasziniert von dem Hashtag, diesem kleinen Rautezeichen und seiner integrierenden Kraft. Denn hier entstehen neue Formen der Vergemeinschaftung. Im Unterschied zu Kollektiven, die klare Innen-außen-Grenzen besitzen. Denken Sie an eine Partei, denken Sie an ein Unternehmen, hier entstehen Gemeinschaften, die ich „Konnektive“ genannt habe, Gemeinschaften neuen Typs, Ich-wir-Gemeinschaften, die es einerseits ermöglichen, die eigene Individualität zu feiern – ich bin präsent mit meinem Bild, meiner Geschichte, meinem Foto, meinem Mini-Narrativ, meiner Zeile. Und andererseits aber die Integration in ein größeres Ganzes erlauben. Das ist das Prinzip dieser „Konnektive“. Im Unterschied zu Kollektiven, bei denen sehr viel weniger persönlicher Selbstausdruck, sehr viel weniger persönliche Individualität zeigbar und sichtbar werden kann. Insofern würde ich diese Hashtag-Schwärme nicht pauschal verurteilen. Sie haben ihre gute Kraft entfaltet, denken Sie an die #MeToo-Debatte, die wirklich ein außerordentlich relevantes Thema, nämlich Sexismus in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Sphären, gesetzt hat. Aber es gibt eben auch das sinnlose Spektakel, den Shitstorm ohne Sinn und Verstand, der dann Unschuldige attackiert und womöglich sozial vernichtet.


Persönliche Sichtbarkeit reduziert die Enthemmung.


Das geht in den sozialen Medien sehr schnell. Würden Sie sagen, dass wir auch eine andere Struktur der sozialen Medien brauchen, die nicht auf Zuspitzung oder Vernichtung ausgerichtet ist?

Ja, das würde ich unbedingt so sagen. Persönliche Sichtbarkeit z.B. reduziert die Enthemmung. Natürlich gibt es auch Gegenbeispiele, dass offen gehetzt wird: Da haben wir den Mann mit dem Ingenieurstitel und dem Doktortitel, der seine Hassrede über Frauen, Medienmacher oder Flüchtlinge mit Klarnamen unterzeichnet. Aber die Sichtbarmachung, die persönliche Konfrontation, die Gestik und Mimik, der Blick in die Augen des anderen – all das erzeugt Empathie. Denken Sie an das kleine Experiment zurück, dass Renate Künast einmal gemacht hat. Zusammen mit einer „Spiegel“-Redakteurin hat sie die schlimmsten Hater, deren Adressen sie herausfinden konnte, besucht. Sie ist von der Facebook-Welt einer viel gehassten, öffentlich attackierten Frau in die Offlinewelt der tatsächlichen Begegnung gegangen. Es ist sehr interessant, dieses Experiment nachzuvollziehen, und es wird durch viele Studien bestätigt. In dem Moment der persönlichen Begegnung verliert der Hass ein Stück Kraft.

Ist das ein Plädoyer dafür, sich mehr in der realen Welt zu begegnen oder mehr Gesicht zu zeigen?

Es ist ein Plädoyer dafür, sich auch in der realen Welt zu begegnen. Es ist ein Plädoyer dafür, sich diese Mechanismen klarzumachen. Es ist ein Plädoyer dafür, sich offen, berührbar und verletzbar im Netz zu zeigen, auch wenn es schwerfällt. Und es ist ein Plädoyer dafür, Anonymität nicht als einen Wert an sich zu begreifen, sondern als ein Mittel zum Zweck. Anonymität unter den Bedingungen, unter denen man Angst haben muss – in China, in der Türkei, in einer Diktatur –, ist unbedingt wichtig. Anonymität unter den Bedingungen, unter denen man keine Angst haben muss, seine Meinung, seine Auffassungen zu äußern, ist nicht so wichtig, sie wird vollkommen überschätzt.

Dr. Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen.

Vera Linß ist Medienjournalistin und Moderatorin.