Filmbildung digital?
Was ist digitale Bildung?
Selbst wenn sich im Zuge der alle Lebensbereiche umfassenden Digitalisierung auch die Rolle der Zuschauerinnen und Zuschauer hin zu einer aktiven Mediennutzung stark verändert hat, sind sogenannte Bewegtbilder, die als Begriff die alte Bezeichnung „Film“ ablösen, längst nicht in den digitalen Formen aufgegangen. Das ästhetische Erlebnis von Bewegtbildern, das „sehen und hören Lernen“ ist immer noch ein Bildungsprozess, der vielfältige Welt- und Selbstbezüge ermöglicht.
Digitale Bildung, wie sie heute verstanden wird, müsse daher die Medienpädagogik, die Informatik und die Medienwissenschaften gleichermaßen erfassen, so Dr. Petra Missomelius von der Universität Innsbruck. Die gesellschaftlichen Transformationen hätten allerdings zu einer Pluralisierung von miteinander konkurrierenden Bildungsinhalten und Bildungszielen geführt, bei der die klassische Filmbildung selbst nur noch einen geringen Stellenwert einnehme und der Technologiebegriff den Medienbegriff ablöse. Benannt nach einer auf Schloss Dagstuhl entstandenen Erklärung lasse sich Bildung in der digital vernetzten Welt als ein gleichschenkliges Dreieck darstellen, das die technologische Perspektive (Wie funktioniert das?), die gesellschaftlich-kulturelle Perspektive (Wie wirkt das?) und die anwendungsbezogene Perspektive (Wie nutze ich das?) umfasst. Sehe man sich dann das neue Strategiepapier der deutschen Kultusministerkonferenz aus dem Jahr 2016 über Bildung in der realen Welt genauer an, entstehe der Eindruck, dass Fragen über Systeme, Software, Geräte und Infrastruktur die Diskussion bestimmten und Medienbildung mit Bildungsmedien verwechselt werde. Gleichwohl lasse sich die Filmbildung in die sechs im Papier genannten Kompetenzbereiche integrieren. Die Frage bleibe aber, ob dies wirklich sinnvoll sei.
Von der Theorie zur Praxis
Der Blick über den eigenen Tellerrand hinweg kann mitunter sehr hilfreich sein. Daher waren Gäste aus mehreren europäischen Ländern eingeladen, über ihre Erfahrungen mit digitaler Bildung und Filmbildung zu berichten.
Dänemark lässt sich mit Deutschland nur bedingt vergleichen. In einem Land, in dem 25 % aller Fördermittel in die Produktion von Kinder- und Jugendfilmen fließen, lässt sich auch die Filmbildung leichter finanzieren. So hat das Dänische Filminstitut eine Internetplattform entwickelt, auf die Lehrende und Studierende unbegrenzten Zugriff haben. Neben umfangreichen Arbeitsmaterialien und vielen Themen bietet die Plattform einen Streamingservice insbesondere von Kurz- und Dokumentarfilmen. Inzwischen wird Filmcentralen von über 2043 Bildungseinrichtungen genutzt.
Eine umfassende Plattform für das ganze Land und für alle Schulsysteme möchte auch das EYE-Filmmuseum in Amsterdam entwickeln, wobei es den Schulen oft selbst überlassen bleibt, ob und in welchem Umfang sie Filmbildung anbieten möchten. Obwohl sich die Klassenzimmer längst zu einem komplett ausgestatteten „digitalen Spielplatz“ entwickelt haben, werden Bewegtbilder immer noch überwiegend zur reinen Veranschaulichung genutzt. Seine Hauptaufgabe sieht das Filmmuseum daher darin, Lobbyarbeit für die Notwendigkeit von Filmbildung zu betreiben, beispielsweise mit einem Preis für den „Filmlehrer des Jahres“. Auch selbst entwickelte Digital Tools, interaktive PDFs und eigenproduzierte Videos stehen bereits zur Verfügung.
Fast neidvoll könnte man auf Frankreich und die von Les enfants du cinéma entwickelte neue Nanouk-Plattform blicken, die auf den Erfahrungen der vor 24 Jahren ins Leben gerufenen Schule des Films beruht und mit der man über eine Million Schülerinnen und Schüler in 11.579 Schulen erreicht. Berücksichtigt wurden schon immer alle Filmarbeiten und Epochen. Die seinerzeit als Printvorlagen entstandenen filmpädagogischen Begleitmaterialien liegen nun in digitaler Form vor. Bisher einzigartig hingegen ist die neue Plattform, die in einem Arbeitsraum mit Piktogrammen arbeitet, die dann einzelnen Filmen zugeordnet werden müssen. Später dann lassen sich verschiedene Elemente eines Films erkennen und vergleichen. Das die Fantasie anregende Arbeitsprinzip macht nicht nur Lust auf den ganzen Film, es bettet die Arbeitsschritte konsequent auch in die Film- und die gesamte Kunstgeschichte ein, macht künstlerische Schaffensprozesse transparent. Selbst in Frankreich, in der das Kulturgut Film traditionell einen hohen Stellenwert hat, werden mit dem neuen Angebot bisher aber nur 20 % aller Schülerinnen und Schüler erreicht.
Deutsche Verhältnisse
Durch das föderale Bildungssystem hierzulande sind die Bestrebungen zur digitalen Filmbildung in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich stark gediehen, wobei die Film- und Medienbildung inzwischen in allen Curricula verankert ist.
Nicht zuletzt dank einer nur kleinen Schar engagierter Fachleute und einer Finanzspritze in Millionenhöhe vor einigen Jahren nimmt Niedersachsen mit dem Niedersächsischen Landesinstitut für schulische Qualitätsentwicklung (NLQ), dem Bildungsserver Merlin und der Bielefelder Firma AMMMa AG als Ideenschmiede für die Entwicklung geeigneter Tools heute eine Vorreiterrolle in Deutschland ein. Mit dem Programm Lichtblick beispielsweise wurde ein Werkzeug zur Kommentierung und Analyse von Filmen entwickelt, mit dem man eigene Videos oder Ausschnitte aus professionellen Filmen untersuchen kann. Die digitale Technologie wird vor allem dazu genutzt, um schulische wie außerschulische Filmarbeit besser handhabbar zu machen und interaktiv zu gestalten. Darüber hinaus werden aber auch neue Wege des Lernens beschritten, die ganz auf Visualisierung ausgelegt sind und durch Individualität und Interaktivität einen handlungsorientierten Umgang mit Bewegtbildern gestatten.
Auch anderswo in Deutschland befinden sich sogenannte Digital Tools in der Entwicklung, die – das darf man nicht vergessen und wie die französischen Plattform Nanouk zeigte – oft eine jahrelange Vorbereitung benötigen. Das Deutsche Filminstitut & Filmmuseum beispielsweise stellte das digitale Filmprojekt Rhizom Filmgeschichte vor, mit dem die Filmanfänge von 100 Filmen aus der Filmgeschichte miteinander verglichen werden können – explorativ, kuratiert und analytisch. Zusammen mit der Goethe-Universität Frankfurt wurde bereits ein interaktives Bildungspaket zu F.W. Murnau erarbeitet, das in Bezug auf die Praxistauglichkeit noch optimiert werden kann.
Wie sehr Anspruch und praktischer Umgang mit solchen Apps und Tools mitunter auseinanderklaffen, demonstrierten zwei Schulklassen aus verschiedenen Schulen, nachdem sie die TopShotApp beziehungsweise eine interaktive Lerneinheit zu 2001 – A Space Odyssey getestet hatten und ihre Skepsis zum Ausdruck brachten. Das Interesse, Kubricks Meisterwerk ganz zu sehen, wurde durch die Lerneinheit jedenfalls nicht geweckt und eine Fachfrau aus dem Publikum kommentierte das Resümee mit den Worten: „Ich glaube, ich möchte den Film vor der Schule beschützen.“ Ein begleitender Lehrer formulierte es dann aus seiner Sicht doch etwas optimistischer: Filmbildung gelinge nur dann digital, wenn sie interaktiv erfolge und jemand die Rolle eines Vermittlers (ein „passeur“ nach Alain Bergala) übernehme.
Digitale Ausblicke
In einer abschließenden Gesprächsrunde, an der neben Christine Kopf vom Deutschen Filmmuseum und Merten Giesen, dem Geschäftsführer des Medienzentrums Frankfurt auch Detlev Endeward (ehemals NLQ), Michael Jahn von Vision Kino und Katrin Willmann, die Filmreferentin der Bundeszentrale für politische Bildung (Kooperationspartner der Veranstaltung) teilnahmen, suchte man zusammenzufassen, was wir von den europäischen Partnern in Bezug auf die Filmbildung lernen können. Die Sorge blieb, dass über die Digitalisierung der Bildung und die Bereitstellung von weiteren Apps die Filmbildung selbst auf der Strecke bleiben könnte. Damit das nicht Realität wird,
- müssen die Lehrer als Verbündete stärker eingebunden und ihre Interessen mit berücksichtigt werden,
- gehört die Filmbildung auf die Agenda aller einschlägigen Institutionen,
- muss die Ausbildung von guten „Filmvermittlern“ stärker forciert werden,
- muss man die eigenen Grenzen (nicht nur der Bundesländer) überschreiten,
- ist vor allem etwas mehr Mut erforderlich,
- muss die Lobbyarbeit insgesamt verstärkt und „sichtbarer“ werden,
- sollten neben dem klassischen Kinofilm auch andere Formen und Formate stärker berücksichtigt werden,
- sind „kleine Digitalhäppchen“ jedenfalls keine Lösung,
- muss die Online-Verfügbarkeit von Kurzfilmen stark erhöht werden,
- müssen Rechteinhaber endlich davon überzeugt werden, dass die Verfügbarkeit ihrer Filme für Filmbildungszwecke nicht nur kulturell, sondern auch in wirtschaftlicher Hinsicht (sinkende Besucherzahlen) ein Gebot der Stunde ist,
- müssen insbesondere Filmbildungsnetzwerke und gute Plattformen von europäischer Dimension geschaffen werden.
Und das gelingt nur dann, wenn eigene Profilierungsinteressen zugunsten eines gemeinsamen Zieles zurückgestellt werden.