Hinter dem Horizont und weiter

Fiktion und Realität bei doxs! 2020

Holger Twele

Holger Twele ist freier Filmjournalist und Filmpädagoge.

Doxs!, das 19. Dokumentarfilmfestival für Kinder und Jugendliche als integraler Bestandteil der Duisburger Filmwoche fand wegen der Covid-19-Pandemie dieses Jahr leider nicht in den Kinos, aber immerhin online und in der Schule, mit Videokonferenzen, digital und interaktiv statt. Und die von Gudrun Sommer und Christian Koch für das Programm sorgfältig ausgewählten Filme waren auch in diesem Jahr sehenswert und voller Überraschungen.

Online seit 16.11.2020: https://mediendiskurs.online/beitrag/hinter-dem-horizont-und-weiter/

 

 

Die Suche nach dem eigenen Weg, nach Orientierung im Prozess jugendlicher Identitätsbildung, nicht selten im Widerstand gegen herrschende Klischees und Vorurteile, aber auch Krankheit und Behinderung, das Abschiednehmen von vertrauten Personen und Lebensumständen waren zentrale Themen dieses Festivaljahrgangs. Persönliche Schicksale und Sichtweisen standen im Vordergrund, wobei die Lebensgeschichten häufig aus der Ich-Perspektive erzählt wurden. In hybrider Weise verschmolzen Fiktion und Realität miteinander, beispielsweise durch die Einbindung von Animationen in den Realfilm oder anhand von inszenierten Szenen jenseits der rein dokumentarischen Beobachtung. Gemeinsam war den Filmen, dass sie nach neuen Perspektiven Ausschau hielten, hinter die sichtbare Oberfläche zu blicken suchten, im übertragenen Sinn auch hinter den bisherigen (Erfahrungs‑)Horizont.

Geradezu exemplarisch dafür steht der im Rahmen der doku.klasse 2019 entstandene Film Hinter unserem Horizont von Dennis und Patrick Weinert. Die beiden Brüder hatten schon in ihrer Kindheit Filme gedreht. Später machten sie ihr Hobby zum Beruf und reisten als Reporter in Kriegs- und Krisengebiete auf der ganzen Welt, nach Afghanistan, Zentralafrika oder in die Flüchtlingscamps der Rohingya aus Myanmar in Bangladesh. In ihrem 2019 entstandenen Dokumentarfilm richten sie die Kamera nun erstmals auf sich selbst und hinterfragen ihren eigenen Lebensentwurf, von dessen Sinnhaftigkeit sie lange Zeit überzeugt waren. Immerhin erfüllten sie mit ihrer Arbeit eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe, hatten intensive Gefühlserlebnisse auf ihren Reisen und fühlten sich dadurch selbst lebendiger.
 

Die Sinnkrise war dennoch nicht aufzuhalten, zumal die Brüder ihre Reisen zunehmend als Fluchtverhalten wahrnahmen und sich angesichts der krassen Ereignisse in den besuchten Ländern ihrer eigenen Relativität, ihrer subjektiven Interpretation der vorgefundenen Realität und vor allem ihrer Vergänglichkeit immer stärker bewusst wurden. Zum Glück haben sie diese Gefühle nicht einfach verdrängt, sondern nach neuen Erfahrungen gesucht, die ihren Horizont aufbrechen und letztlich auch den der Zuschauenden. Ein kleines Manko haftet ihrem beeindruckenden Film dennoch an, denn die Schauplätze, zu denen der geistige Ruhepol Vietnam hinzukommt, wechseln in rascher Folge, springen zwischen den Ländern hin und her. Das unterstreicht die persönliche Sinnsuche, drängt die menschlichen Schicksale vor Ort aber etwas in den Hintergrund, denn diesmal geht es weniger um diese selbst als um die der beiden Filmemacher. Aber wer weiß, vielleicht wollte der Film ganz bewusst auf diese Perspektive hinweisen, die möglicherweise die Berichterstattung aus anderen Krisengebieten und von anderen Reporterinnen und Reportern mit kritischeren Augen sehen lässt.
 

Musik und Tanz als grenzüberschreitende Ausdrucksform

Die junge Protagonistin und Off-Erzählerin Marzia in dem slowakischen Film Orchester z krajiny ticha/Orchester aus dem Land der Stille von Lucia Kašová träumt jeden Tag von ihren Erlebnissen des Vortags, doch es sind nie schöne Träume. Sie ist sich aber auch darüber bewusst, dass es anderen jungen Frauen ihres Alters in Afghanistan oft viel schlechter geht und sie eine privilegierte Position einnimmt. Vor 18 Jahren durften Mädchen noch nicht einmal die Schule besuchen und sollten so früh wie möglich heiraten. Gegen den Widerstand ihres Vaters und großer Teile der Gesellschaft spielt Marzia im ersten und einzigen Frauenorchester des Landes. Für sie bedeutet Musik „Leben“, doch gute Muslime spielen keine Musik, wie sie immer wieder zu hören bekommt. Die Angst bleibt ihr ständiger Begleiter, selbst dann noch, als das Ensemble auf eine Konzertreise durch die Slowakei eingeladen wird. Später einmal möchte Marzia Dirigentin werden und den Menschen in ihrem Dorf helfen. Ein Film, der Mut macht und zeigt, dass Veränderung auch in einer restriktiven Gesellschaft möglich ist, selbst wenn sie im Schneckentempo daherkommt. Vorreiter dieser Entwicklung sind, wie gerade auch dieser Film zeigt, häufig die Frauen.
 


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Den bereits zum zehnten Mal von der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) gestifteten Preis GROSSE KLAPPE gewann allerdings ein anderer Film, in dem ebenfalls Vorurteile musikalisch beziehungsweise tänzerisch aufgegriffen und widerlegt werden. The Circle von Lanre Malaolu aus Großbritannien führt uns in den Londoner Stadtteil Hackney, der von Kriminalität, Drogen und Bandenkriegen geprägt ist und in dem die Hautfarbe Schwarz dominiert. Die Brüder David und Sanchez werden in ihrem Viertel nahezu täglich mit Vorurteilen konfrontiert. Sie prägen ihre Verhaltensweisen und ihre Ängste. Hinzu kommt, dass es insbesondere den Männern schwerfällt, ihre Gefühle sprachlich zu artikulieren oder einem anderen Menschen gar ihre Liebe zu gestehen. Ein möglicher Ausweg liegt in der Körpersprache, die von den Brüdern über den Dächern der Stadt choreografisch in eine ansprechende und verständliche Form gebracht wird und ihnen innere Stärke und ein besseres Selbstwertgefühl gibt.



An dieser Stelle sei der einzige Verweis auf die Filme der Duisburger Filmwoche gestattet, denn auch dort wurde ein wirklich herausragender „Tanzfilm“ ausgezeichnet. Der Arte-Dokumentarfilmpreis ging an If it were love von Patric Chiha und geht anhand der Proben zum Tanztheaterstück Crowd von Gisèle Vienne der Frage nach: „Können wir wirklich zusammen tanzen?“
 

Abschied nehmen müssen

Auf sehr unterschiedliche Weise beschäftigten sich gleich drei Wettbewerbsbeiträge mit dem Thema „Abschied und Verlust“, wobei die gängige Außensicht der nicht unmittelbar Betroffenen einer wesentlich differenzierteren Innensicht der Protagonistinnen und Protagonisten weicht.

Wer schon einmal das landschaftlich in schönster Lage gelegene Filmfestival von Locarno besucht hat, das zum Teil in den zu Kinos umgebauten Räumen einer Schule stattfindet, wird sich unweigerlich an die unzähligen Schülerinnen und Schülern erinnern, die als freiwillige Helfer den gewaltigen Besucheransturm in geordnete Bahnen lenken. Dass die Bevölkerung vor allem in den engen Tälern des Tessin in früheren Jahrhunderten unter großer Armut litt, ist nicht nur durch die Verfilmungen des Romans Die schwarzen Brüder von Lisa Tetzner und Kurt Held bekannt. Wie sehr allerdings sogar heutige Jugendliche unter der offensichtlichen Perspektivlosigkeit in ihrer Heimat leiden, zeigt der Film L‘ultima/Die Letzte von Nikita Merlini, der in Locarno geboren wurde: Elenas Bruder hat das Tessin bereits verlassen, sie ist nun die Letzte, die den Absprung ersehnt. Das große Haus am Lago Maggiore, das Urlauberherzen höher schlagen lässt, und die Mutter können Elena von ihrem sehnlichen Wunsch jedoch nicht abhalten und der Film macht verständlich, warum das so ist und warum das so schwer ist.
 


Die Jugendjury der GROSSEN KLAPPE vergab eine Lobende Erwähnung an den Animationsfilm Mezery/Spaces von Nora Štrobová aus der tschechischen Republik. Der achtminütige Film thematisiert den Krankheitsverlauf des eigenen Bruders, der durch einen Hirntumor bereits sein Kurzzeitgedächtnis verloren hat und nur noch in der unmittelbaren Gegenwart lebt. Was das für ihn und seine Schwester im Alltag bedeutet, vermittelt der Film sehr anschaulich anhand eines variationsreichen Zeichenstils und mehr noch auf der kunstvoll montierten Tonebene, die den Bildern eine zusätzliche Dimension verleiht.

Um subjektive Gefühlswelten sichtbar zu machen, greift auch der niederländische Film Wolkenzusje/Wolkenschwester von Sara Kolster zum Teil auf Animationssequenzen und auf Stop Motion zurück. Ihre Trauer über die bereits vor einigen Jahren verstorbene jüngere Schwester Bo möchte Kess nicht jedem gleich mitteilen. Zum einen will sie das Andenken an Bo für sich behalten, zum anderen befürchtet sie lediglich Mitleid, denn sie möchte von den anderen unbedingt so gesehen werden, wie sie ist und nicht bloß als Schwester einer Verstorbenen. Mit ihrer Traurigkeit allerdings muss Kess ganz alleine zurechtkommen und der ganz aus ihrer Perspektive erzählte Film ist, für das Publikum leicht ersichtlich, ein wichtiger Schritt, endlich mit der Vergangenheit abschließen zu können.
 



Bewährtes und Unkonventionelles

Neben der GROSSE KLAPPE gab es noch einen weiteren Preis, der dieses Jahr zum fünften Mal von einer internationalen Fachjury der European Children’s Film Association (ECFA) an den besten europäischen Kinderdokumentarfilm für ein junges Publikum zwischen sechs und zwölf Jahren vergeben wurde. Die Mehrzahl der Filme in diesem Wettbewerb folgte einem bewährten Schema: Man nehme eine interessante, bislang noch wenig erzählte Geschichte und Figurenkonstellation mit überaus netten oder besonders bewundernswerten Kinderprotagonistinnen und ‑protagonisten, die aus ihrer eigenen Lebenswelt möglichst authentisch berichten, die zur unmittelbaren Identifikation einladen und mit einer optimistischen Perspektive aufwarten. Was an diesen Geschichten, der intendierten Dramaturgie folgend, inszeniert ist oder tatsächlich der Beobachtung und den eigenen Erlebnissen der Kinder geschuldet ist, lässt sich für die Zuschauerinnen und Zuschauer nicht immer genau erkennen, allenfalls über das Bauchgefühl. Um hier nicht missverstanden zu werden: Es ist gerade der kontinuierlichen Arbeit des doxs!-Festivals und den beteiligten Fernsehanstalten zu verdanken, dass solche Dokumentarfilme für Kinder auf qualitativ hochwertigem Niveau inzwischen regelmäßig entstehen. Das ist sehr sinnvoll, und die Filme finden natürlich auch ihr junges Publikum. Besonders spannend wird es jedoch immer dann, wenn dieses bewährte Schema durchbrochen wird, wie in den folgenden beiden Filmen aus Deutschland.

Wellen aus Licht von Samuel N. Schwarz hat den ECFA-Preis gewonnen. Die zwölfjährige Frida fühlt sich im Wald wesentlich wohler als in der Großstadt Berlin. Manchmal tun ihr dort die Augen weh, weil sie so viel sieht. Das behauptet ein Mädchen, das auf dem rechten Auge ganz blind ist, auf dem linken nur noch zwei Prozent Sehstärke aufweist und Dunkelheit als sehr angenehm empfindet. In ihren Träumen sieht sie alles und im Wald weiß sie die vielen Eindrücke und Geräusche zu schätzen, die Gefühle in ihr hervorrufen und eine andere Art der Wahrnehmung ermöglichen. Samuel Schwarz, der an der Filmuniversität Babelsberg in Potsdam studiert, gibt seiner kleinen „Heldin“ viel Raum für ihre eigene Erlebniswelt und schafft es mit filmischen Mitteln und einer Kombination aus Animation und dokumentarischen Aufnahmen, als Zuschauende in ihre Welt einzutauchen, diese hautnah nachzuempfinden und etwas zu erfahren, was Sehenden normalerweise verborgen bleibt.

Ähnliches ist Bernd Sahling 2014 mit seinem Spielfilm Die Blindgänger gelungen. In seinem neuen Film Corona-Ferien stellt er seinem siebenjährigen Stiefsohn Jacob Fragen, wie dieser den durch Covid-19 bedingten Lockdown im Frühjahr 2020 erlebt hat. Jacob fand das offenbar gar nicht so schlimm, denn er konnte in diesen Zwangsferien mehr spielen, wurde mit leckerem Eis verwöhnt und durfte sein Lerntempo selbst bestimmen. Nur um die Großmutter hatte er manchmal Angst. Sahling versteht es perfekt, seinen spontan agierenden und liebenswerten Stiefsohn ins rechte Licht zu rücken, nicht nur im Interview selbst, sondern auch mit ausgeklügelten Fotoschnappschüssen in Farbe und Schwarzweiß, die immer wieder zwischengeschnitten sind. Was den Film neben Jacob und der im Medium variierenden Bildebene aus dokumentarischer Sicht jedoch besonders macht: Er verschweigt die Produktionsbedingen nicht, wirkt daher auch nicht inszeniert in Bezug auf die Aussagen des Jungen. Und am Schluss bedankt sich Sahling sogar bei Jacob, so lange mitgemacht zu haben, natürlich freiwillig!