Flow

Gerd Hallenberger

Dr. habil. Gerd Hallenberger ist freiberuflicher Medienwissenschaftler.

Gerd Hallenberger definiert fürs Medienlexikon den Begriff „Flow“.

Printausgabe tv diskurs: 25. Jg., 4/2021 (Ausgabe 98), S. 72-73

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Am Anfang der Karriere des Begriffs „Flow“ in medienwissenschaftlichen Kontexten stand, einer bis heute gerne erzählten Anekdote zufolge, ein persönliches Erlebnis. Als der britische Kulturwissenschaftler Raymond Williams in den frühen 1970er-Jahren während einer USA-Reise in seinem Hotelzimmer das im Vergleich zum britischen weitaus stärker und konsequenter kommerziell ausgerichtete US-Fernsehen sah, erlebte er etwas für ihn Unerwartetes und Neues. Durch die größere Zahl an Werbeunterbrechungen und zusätzliche Trailer für folgende Sendungen veränderte sich seine Wahrnehmung des Gesamtangebots: Es war nicht mehr ein „Programm“, zusammengesetzt aus einzelnen separaten Sendungen, die von störenden Beigaben unterbrochen wurden, sondern ein „Flow“ von Sendestücken. Diese Sendestücke, zwischen die keine optischen „Trenner“ gesetzt wurden, waren zwar unterschiedlicher Art, sie ergänzten sich aber zu einem televisionären Ganzen – die Werbung beeinflusste dabei die Wahrnehmung des folgenden Filmteils, ebenso die Trailer für kommende Angebote des Senders und umgekehrt.

Zu diesem Zeitpunkt war die Optimierung von „Flow“ längst eine wichtige Zielgröße der Programmplanung von Radio- und Fernsehsendern geworden, nämlich als „Audience Flow“. In der Senderkonkurrenz ist jeder Wechsel des Angebotstyps eine Gefahrenstelle – wie lässt sich beispielsweise verhindern, dass beim Werbeblock in der Serienfolge weggeschaltet wird? Besonders gefährlich wird es beim Wechsel von einer Sendung zur nächsten – wie lässt sich ein möglichst großer Teil des Publikums mitnehmen? In Prozentwerten ausgedrückt, ist dies der Audience Flow, und es gibt viele Strategien, ihn zu fördern: etwa durch thematisch verwandte Anschlussprogramme, Beibehaltung des Genres oder durch ein zwar auf den ersten Blick andersartiges Angebot, das aber bei der gleichen Zielgruppe beliebt ist.
 


Wer „im Flow“ ist, vergisst die Welt um sich herum, sei es bei der Arbeit, im Spiel oder beim Sport.



So unterschiedlich diese beiden Perspektiven sind, sie haben einen gemeinsamen Nenner und der verweist auf eine dritte Verwendungsweise des Begriffs. Wo Williams im „Flow“ eine Grenzaufhebung bei der Wahrnehmung von Bewegtbildangeboten entdeckt und „Audience Flow“ für die Überwindung des Blicks auf abgegrenzte Publika lediglich einzelner Sendungen steht, kennt die Psychologie noch eine andere Variante. Auch in diesem Fall geht es um Entgrenzung, nämlich um das Aufgehen in der aktuellen Tätigkeit. Wer „im Flow“ ist, vergisst die Welt um sich herum, sei es bei der Arbeit, im Spiel oder beim Sport.

Ist ein Publikum im Flow, stimmt auch der Audience Flow, denn das Publikum hat ein Flow-Erlebnis, das über das Erleben eines Einzelangebots hinausgeht. Mediengeschichtlich hat sich so eine dritte Form der Wahrnehmung von Angebotsfülle etabliert: Was mit dem Nebeneinander distinkter Einzelstücke begann, führte im nächsten Schritt zu deren Organisation zu einem Programm, sei es als Buch-, Film-, Radio- oder Fernsehprogramm, nun kam als Novum das Angebotskontinuum hinzu. Das Ideal war das nahtlose Angebot mit nahtloser Nutzung, und bis heute ist medientechnologisch, medienökonomisch und medienästhetisch viel geschehen, was sich als kleine Schritte auf dem Weg zu diesem Ziel interpretieren lässt – und medienkulturelle Folgen hatte.

In den 1980er-Jahren ermöglichten Spartensender beim Fernsehen und Formatradio zunächst, Lieblingsangebote wahlweise zu jedem beliebigen Zeitpunkt und damit auch rund um die Uhr nutzen zu können. Der verlässlich gleichartige Angebotsfluss beispielsweise beim Musikradio war die Voraussetzung dafür, sich gegebenenfalls den ganzen Tag lang ein homogenes akustisches Umfeld zu schaffen – und damit ein musikalisches Flow-Erlebnis, etwa mit den größten Hits des letzten Jahrzehnts. Diese damaligen Innovationen waren jedoch nur ein bescheidenes Vorspiel, wenn man an die heutige Medienlandschaft denkt.

Neue Technologien veränderten nicht zuletzt das Verhältnis von zeitgebundener und zeitunabhängiger Nutzung. Vor Internet und Streaming war bei audiovisuellen Medien zeitsouveräne Nutzung zwangsläufig mit einem Medienwechsel und erheblichem Aufwand verbunden. Wer nicht einfach das laufende Fernsehprogramm sehen wollte, musste zuvor einen Datenträger (Videokassette, DVD oder anderes) bespielen, ausleihen oder kaufen und dafür passende Hardware vorhalten. Kein Wunder, dass die zeitgebundene Nutzung die mit großem Abstand häufigste Variante war – und selbst ein analoger Videorekorder wurde erst in den 1980er-Jahren zum Massenartikel. Dieser Aufwand hat sich erübrigt, seitdem ein aktueller Fernseher zusätzlich ein Computer mit Internetzugang ist, und überdies ohnehin eigentlich überflüssig, da sich auf Laptop, Tablet und Smartphone die gleichen audiovisuellen Angebote nutzen lassen. Heute steht zeitgebundenes, also lineares Fernsehen unter Druck und gilt gar als Auslaufmodell, da zeitsouveräner Medienumgang immer leichter wird und als Konsequenz auch immer häufiger geschieht.
 


Algorithmen errechnen ein individuelles Angebot für individuelle Nutzung bei individuellem Abruf, das hoffentlich nicht abgelehnt wird.



Noch gravierender sind jedoch zwei andere Veränderungen. Was die Strukturierung der Angebotsseite betrifft, mussten früher zum einen letztlich Menschen entscheiden, wie sich Flow-Erlebnisse ermöglichen lassen. Egal wie viel Computerunterstützung bereits in den letzten Jahrzehnten zum Einsatz kam, Programmplanung blieb Menschensache. Heute spielen dagegen an vielen Stellen Algorithmen eine wesentliche Rolle. Ob bei Spotify, Netflix und Artverwandtem oder YouTube: Algorithmen errechnen aus früheren Nutzungsvorgängen Empfehlungen und spielen sie – bei entsprechender Einstellung – nach dem aktuellen Musikstück oder Video automatisch ab. Dadurch ändert sich zum anderen die Art des Flow-Angebots. Was Raymond Williams in seinem Hotelzimmer in den USA erlebte, war ein individuelles Erlebnis mit einem Angebot, das gleichzeitig viele andere Menschen sehen konnten, weil es massenmedial verbreitet wurde. Algorithmen errechnen dagegen ein individuelles Angebot für individuelle Nutzung bei individuellem Abruf, das hoffentlich nicht abgelehnt wird. Und damit haben wir eine neue Qualität von „Flow“: das für eine einzige Person konfigurierte Flow-Angebot 2.0.