Guilty Pleasure!?

Claudia Mikat

Claudia Mikat ist Geschäftsführerin der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).

Claudia Mikat, Geschäftsführerin der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF), über Grenzen von Fremdscham und Häme im Unterhaltungsfernsehen.

Printausgabe tv diskurs: 24. Jg., 4/2020 (Ausgabe 94), S. 1-1

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Für Filme, Fernsehsendungen oder Musikstücke, die man mag und gleichzeitig peinlich findet, hat ein griffiger Anglizismus Eingang in den deutschen Sprachgebrauch gefunden: Guilty Pleasure. Sei es ein kitschiger Song, eine Filmschmonzette oder eine TV-Show: Gemeinsam ist den Titeln auf den Top-Guilty-Pleasure-Listen, dass sie billig oder einfach gestrickt, niveau- oder geschmacklos sind und kein hohes Ansehen genießen, weshalb es einem selbst oft peinlich ist, an dieser Art der Unterhaltung Gefallen zu finden. Sich gegenseitig seine Guilty Pleasures zu gestehen, kann allerdings verblüffende Erkenntnisse ans Licht bringen und Gesprächsrunden erheitern. Schließlich ist es nicht wirklich eine Sünde, einen Hit von George Michael zu mögen oder 30‑mal Pretty Woman gesehen zu haben.

Auch die Freude an neuerdings sogenannten Guilty-Pleasure-Realityformaten im Unterhaltungsfernsehen muss man nicht mehr verstecken. Seitdem Jürgen und Zlatko ins erste Big Brother-Haus einzogen und im Dschungelcamp erste Kleintiere verspeist wurden, nachdem zahlreiche Bauern eine Frau und Bachelorettes einen Mann gesucht haben, nach Hunderten von Model-Walks und Challenges in Luxusvillen, Sommerhäusern oder auf Inselparadiesen sind die Genre-Ingredienzen bekannt. Auch im Feuilleton ernten früher geschmähte Formate inzwischen wohlwollende Kritik.

Die Nutzungsmotive sind so unterschiedlich wie die Menschen selbst. Fans eint das Interesse am Privaten und Intimen und der Blick hinter die Fassade. Die am Reißbrett entwickelten Casts und Konkurrenzsituationen bieten dramatischen Zündstoff, dem die meist aus anderen Realitykontexten rekrutierten B- oder C‑Prominenten b- oder c‑professionell begegnen. Man beobachtet soziale Experimente, die Konflikte zwischen den Teilnehmenden vorprogrammieren, in denen sie sich entblößen und entblöden. Man bewertet ihr Verhalten und gleicht es mit eigenen Maßstäben ab, verhandelt geschmackliche und moralische Grenzen. Es entsteht eine parasoziale Interaktion, eine imaginäre Freundschaft oder Feindschaft. Man lacht oder urteilt über das Geschehen, hat Sympathien und Antipathien, ist fasziniert, was Menschen so treiben und mit sich machen lassen, oder ist froh, weil man sich selbst überlegen fühlt.

Auch wenn ein gewisses Maß an Fremdscham und Häme als unterhaltsam erlebt wird, gibt es Grenzen. Wesentlich für das Vergnügen ist zum einen eine Spielanordnung, die beinhaltet, dass die Mitspielenden die Regeln kennen und das Spiel verstehen – und jederzeit aussteigen können, wenn es ihnen zu viel wird. Hier sind die Macherinnen und Macher in der Verantwortung, die Mitwirkenden authentisch darzustellen und nicht in Situationen zu bringen, die sie nicht kontrollieren können oder die ihren Kontrollverlust noch befördern. Wichtig ist zum anderen, dass der moralische Kompass während des Experiments nicht abhandenkommt. In der Regel wird Fehlverhalten abgestraft, fallen Lästereien auf die Beteiligten zurück, gewinnen nicht die intriganten, sondern die sozial kompetenten Charaktere.

Werden diese Stellschrauben überdreht, berührt das nicht nur Fragen des Kinder- und Jugendschutzes. Es tangiert vor allem auch das moralische Empfinden der Zuschauerinnen und Zuschauer. Man mag den Aufstieg und Fall von sogenannten Prominenten amüsiert beobachten, möchte aber nicht dabei zusehen, wie Menschen in offene Messer laufen. Unterhaltung soll Vergnügen bereiten. Der Grat zwischen noch akzeptablem Vergnügen und ethischen Grenzen ist schmal: Wenn Scham- oder Schuldgefühle überwiegen, ist er überschritten.

Ihre Claudia Mikat