Horizontales Erzählen
Manche Erfindungen sind so gut, dass man sie mehrmals machen kann. Dies gilt auch für die Mediengeschichte – oder hat sie lediglich ein schlechtes Gedächtnis? Diese Frage stellt sich derzeit wegen der Konjunktur des horizontalen Erzählens, einem dramaturgischen Kennzeichen vieler aufwendig produzierter neuerer amerikanischer Fernsehserien, wie etwa Mad Men, Breaking Bad und House of Cards. Während vertikales Erzählen bedeutet, dass ein Handlungsstrang in der gleichen Folge einer seriellen fiktionalen Produktion begonnen und abgeschlossen wird, meint horizontales Erzählen einen folgenübergreifenden Handlungsbogen.
Wer bezweifelt, dass es sich beim horizontalen Erzählen um eine Innovation heutigen Fernsehens handelt, hat die Mediengeschichte auf seiner Seite: Schon die Fortsetzungsromane des 19. Jahrhunderts waren horizontal erzählt, denn ohne große Handlungsbögen keine Neugier auf die nächste Folge. Überall dort, wo die Nutzung eines fiktionalen Medienangebots nicht nur einmalig, sondern immer wieder stattfinden und im besten Fall zur festen Gewohnheit werden sollte, da gab es immer schon horizontales Erzählen: im Heftroman, im Zeitungscomic und nicht zuletzt in den Soap-Operas von Radio und später dem Fernsehen.
Aktuelle Debatten erwecken oft den Eindruck, als handele es sich bei vertikalem und horizontalem Erzählen um absolute Gegensätze. Auf den ersten Blick, also mit dem Blick auf die Grundstruktur einer Fernsehserie, ist dieser Eindruck sogar begründet. Vertikales Erzählen ist episodisches Erzählen, d.h., die zentrale Handlung wird in der jeweiligen Folge abgeschlossen. Es gibt für das Publikum keinen zwingenden Grund, auch die nächste Folge anzuschauen. Dieser Umstand ist für Fernsehsender zwar nicht erfreulich, es gibt aber auch eine kleine positive Nachricht. Bei einer gescheiterten horizontal erzählten Produktion verbietet sich jede Wiederholung; handelt es sich um eine episodische Serie, kann man dagegen die Ausstrahlungsreihenfolge verändern oder eine Episodenauswahl treffen. Mit anderen Worten: Hier lässt sich wenigstens noch etwas retten.
Jenseits der Grundstruktur serieller Narration werden vertikales und horizontales Erzählen jedoch als etwas anderes erkennbar, als Pole eines Kontinuums: Kaum eine vertikale Erzählung verzichtet gänzlich auf horizontale Elemente, und kaum eine im wesentlichen horizontale Erzählung lässt den zufälligen Zuschauer lediglich dieser einen Folge gänzlich unbefriedigt. Schon die allererste Fernsehserie des bundesdeutschen Fernsehens, die ab 1954 live ausgestrahlte Produktion Unsere Nachbarn heute Abend – Familie Schölermann, bestand zwar aus abgeschlossenen Einzelfolgen, die aber zusammen die Wirtschaftswundergeschichte dieser fiktiven Familie erzählten. Generell gilt ohnehin, dass jede über viele Jahre laufende vertikal erzählte Serie zwangsläufig zumindest auch einen schwachen horizontalen Aspekt aufweist, nämlich über ihre Protagonisten, sofern Darsteller und Rollenfigur nicht ausgetauscht werden. Beide werden älter, verändern sich zumindest äußerlich, in der Regel verändern sich aber auch die Lebensverhältnisse. Und selbst wenn Darsteller und Rollenfigur wechseln, muss damit nicht unbedingt auf horizontale Erzählaspekte verzichtet werden. Bekanntestes Beispiel in Deutschland ist der britische Krimiimport Inspector Barnaby (Originaltitel: Midsomer Murders). Als 2011 Inspector Tom Barnaby (gespielt von John Nettles) in Rente ging, übernahm sein Vetter, John Barnaby (Neil Dudgeon), seine Stelle – und so konnte sogar der deutsche Serientitel beibehalten werden.
Horizontales Erzählen als dominantes Merkmal von fiktionalen Fernsehserien gibt es ebenfalls seit vielen Jahren – und das in zwei Varianten, der „kleinen“ und der „großen“. Als „kleine Form“ horizontalen Erzählens lassen sich Mehrteiler und Miniserie bezeichnen, die letztlich eine einzige, lange Geschichte erzählen, die nur aus pragmatischen Gründen in Folgen aufgebrochen wurde. Die „große Form“ repräsentieren Soap-Opera und Telenovela, die beide im Prinzip auf lange Laufzeit und hohe Folgenzahl konzipiert sind, wobei eine Soap-Opera theoretisch unendlich lange laufen könnte, eine Telenovela hingegen einen vorher festgelegten Handlungsendpunkt und in der Regel eine festgelegte Folgenzahl hat.
Wenn also heute vom horizontalen Erzählen als besonderem Merkmal qualitativ herausragender neuerer US-Fernsehserien die Rede ist, könnte vielleicht etwas ganz anderes gemeint sein. Die in diesem Zusammenhang immer wieder aufgeführten Produktionen verbindet tatsächlich viel mehr als lediglich große Handlungsbögen, die Staffeln oder gar die gesamte Serie als narrative Einheit erscheinen lassen. Da sind zunächst der große finanzielle Aufwand bei der Produktion und ambivalente Protagonisten – beides wieder nicht völlig neue Phänomene, da die seinerzeit als „Primetime-Soaps“ titulierten Serien Dallas und Denver-Clan (Originaltitel: Dynasty) schon vor gut 30 Jahren Gleiches anboten.
Wirklich neu ist dagegen, dass auf dem heutigen sehr fragmentierten Fernsehmarkt (plus massiver digitaler Medienkonkurrenz) eine Serie bei der TV-Ausstrahlung nicht mehr riesige Zuschauerzahlen erreichen muss, um als erfolgreich zu gelten. Ein begrenztes, aber loyales Publikum, das die Serie in egal welchem Medium verfolgt – auch als Stream, Download oder auf physischem Datenträger –, genügt. Wenn kleinere Publika als früher der Normalfall sind, müssen Fernsehserien nicht mehr zwangsläufig den Mainstream bedienen, selbst radikale Konzepte haben Chancen. Voraussetzung ist jedoch eine aufwendige Gestaltung der Serienwelt, wie beispielsweise die Welt der Werbung der 1960er-Jahre in Mad Men. Dann kann man in die Serienwelt eintauchen, geradezu darin leben, so wie auch in komplexen Games, und dank der horizontalen Erzählweise wird aus den einzelnen Serienfolgen eine einzige geschlossene Erzählung, die echte Fans sogar zum Binge Watching, zum „Komaglotzen“ ganzer Staffeln, verleiten kann.