Immer noch keine Lobby
Warum das Kinderfernsehen (fast) komplett aus der Öffentlichkeit verschwunden ist
Warum haben Kinder in diesem Land keine Lobby? Weil sie, wie Medienwissenschaftler Gerd Hallenberger lakonisch feststellt, „keine Autos kaufen“. Maya Götz sieht die Wurzeln des Missstands allerdings nicht in der Ökonomie, sondern in der Politik. Diese Haltung, sagt die Leiterin des beim Bayerischen Rundfunk angesiedelten Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI), „ist in Deutschland institutionell so tief verankert, dass die Gesellschaft gar nicht merkt, wie kinderfeindlich sie ist. Natürlich gibt es Institutionen, die auf Kinderarmut, Kinderpornografie oder Kinder als Opfer häuslicher Gewalt hinweisen. Das sorgt dann jedes Mal für Schockmomente und löst Entrüstung aus, ändert aber nichts an der Grundproblematik. Dass Kinder in vielerlei Hinsicht Opfer sind, wird nicht in politisches Handeln übertragen.“
Bester Beleg: die Schulferien
Kein Wunder also, „dass die Bedürfnisse, Fähigkeiten und Vorlieben von Kindern in unserer Gesellschaft zu wenig berücksichtigt werden“, wie Margret Albers feststellt. Die einstige Leiterin des Kindermedienfestivals Goldener Spatz ist heute Präsidentin der European Children’s Film Association (ECFA). Ihr „Lieblingsbeleg“ für die fehlende Lobby sind die Schulferien: „Länge und Terminierung haben nichts mit der Lernkurve von Kindern zu tun, sondern ihren Ursprung insbesondere darin, dass in vorindustrieller Zeit Kinder als Arbeitskräfte auf dem Feld gebraucht wurden. Dass daran auch im 21. Jahrhundert festgehalten wird, ist erschütternd und macht die Unsichtbarkeit von Kindern im gesellschaftlichen Diskurs überdeutlich.“
Das spiegelt sich auch im Fernsehen wider. „Kinderprogramm führt im medialen Gesamtangebot nach wie vor ein Nischendasein“, sagt Udo Hahn, Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing und Vorsitzender der Jury Kindermedien beim Robert Geisendörfer Preis, dem Medienpreis der evangelischen Kirche. Selbstverständlich habe diese Altersgruppe Anspruch auf ein qualitätvolles Angebot, doch in der Praxis sei dieses Anrecht wenig wert, wie die Entwicklung der letzten Jahre zeige; daran ändere auch der KiKA nichts. „Dass die Interessen von Kindern wenig Beachtung finden, ist ein Grundübel unserer Gesellschaft“, wie auch die Bekämpfung der Pandemie vor Augen geführt habe:
Die Rechte von Kindern werden allzu oft ignoriert. Was nicht mit Blick auf ihre medialen Bedürfnisse initiiert wird, hat negative Auswirkungen auf ihre Entwicklung. Neben einer entsprechenden finanziellen Ausstattung braucht es die Förderung von Projekten, die Kinder in ihrer Lebenswelt ansprechen, eine kindgerechte Perspektive einnehmen und Bildung und Unterhaltung besser verknüpfen.“
In diese Richtung argumentiert auch Hallenberger: „Je mehr Geld eine Gesellschaft in die Bildung steckt, desto mehr fördert sie damit Kreativität und das Denken in Alternativen sowie als Konsequenz zukünftigen gesellschaftlichen Zusammenhalt und zukünftige Lebensqualität. Fernsehen für Kinder ist immer auch Bildungsfernsehen, denn alle ihre Fernseherlebnisse tragen zur Erweiterung ihres Weltwissens bei, in allen Genres. Gerade in Deutschland ist man sich dieses Umstands bewusst und fördert engagiert Angebote, die Spaß und Lerneffekte verbinden.“ Trotzdem sei die Altersgruppe bei uns „so wenig wohlgelitten wie in wohl keinem anderen europäischen Land“.
Ein eigener Sender für jedes Kind
Dass mittlerweile jedes Kind, wie der frühere RTL-Chef Helmut Thoma noch zu analogen Zeiten spottete, seinen eigenen TV-Kanal habe, ist nur scheinbar ein Widerspruch. Es gibt Menschen, die selbst die KiKA-Gründung (1997) für einen unfreundlichen Akt halten: weil das Kinderfernsehen in den beiden Hauptprogrammen zunehmend als Störfaktor empfunden worden sei. Frauke Gerlach weist jedoch zunächst auf einen Vorteil hin:
Eltern wissen, wo sie zuverlässig qualitätsorientiertes Kinderfernsehen finden; der KiKA ist in dieser Hinsicht eine gute Adresse.“
Allerdings sieht die Direktorin des Grimme-Instituts „ein grundsätzliches Problem der zunehmenden Verspartung und Segmentierung“. Sie vergleicht das mit der Lektüre einer gedruckten Zeitung, in der man mit Interesse auf Artikel und Themen stoße, nach denen man nicht gesucht habe: „Solche zufälligen Begegnungen mit dem Kinderfernsehen sind heute nicht mehr möglich. Der gleiche Effekt ergibt sich bei Angeboten, die durch Algorithmen auf die individuellen Sehgewohnheiten zugeschnitten sind.“
Spätestens mit der Auslagerung ist das Kinderprogramm aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden, auch wenn Albers anmerkt, das Kinderfernsehen sei ohnehin meist erst dann in den Blick der Öffentlichkeit geraten, „wenn es skandalisiert wurde“, etwa bei den Diskussionen um die Serien Power Rangers und Teletubbies.
Day Of The Dumpster, S01A | E01 (Power Rangers Official, 03.02.2023)
Dass das audiovisuelle Angebot für Kinder heutzutage so reich und vielseitig wie nie und auf zahlreichen Plattformen zugänglich sei, „ist dagegen keine Meldung wert, was auch wohl daran liegen mag, dass sich das Fernsehen generell in der Kulturöffentlichkeit der Feuilletons schwertut.“ Gerlach bezweifelt zwar, dass das Kinderfernsehen zum Beispiel vor 15 Jahren in der Öffentlichkeit präsenter als heute gewesen sei, aber seither habe sich die Medienlandschaft zudem grundlegend verändert: „Damals gab es eine viel umfassendere medienkritische Auseinandersetzung. Mittlerweile hat die Zahl der Medienseiten in den Qualitätszeitungen stark abgenommen. Dort wird der Fokus natürlich eher auf Produktionen für Erwachsene gelegt.“
Ähnlich argumentiert Michael Stumpf, Leiter der ZDF-Hauptredaktion Kinder und Jugend:
Die Berichterstattung über Kindermedien trifft auf eine Pressewelt, in der die Redaktionen ihr Personal reduzieren müssen. Deshalb gibt es in den Verlagshäusern möglicherweise auch weniger Kindermedien-Expertise.“
Aus diesem Grund würden Kinderformate häufiger von Empörungswellen in den digitalen Netzwerken als vom klassischen Journalismus aufgegriffen. Quantität spielt auch im Hinblick auf das Angebot eine Rolle. Es sei heute eine viel größere Herausforderung als vor 20 Jahren, „ein Schulhofthema zu setzen“, sagt KiKA-Programmgeschäftsführerin Astrid Plenk. Trotzdem gelinge es regelmäßig, Gesprächsstoff zu schaffen. „Außerdem fragen wir uns ständig, für wen wir eigentlich unser Programm machen und welche Interessen unsere Zielgruppe hat.“
Keine Verfehlungen erlaubt
Thorsten Braun, Geschäftsführer des privaten Kindersenders SUPER RTL, schätzt die Situation zwar im Prinzip genauso ein, betont jedoch die Bedeutung von Eigeninitiative: „Grundsätzlich wünschen wir uns natürlich, dass dem Kinderfernsehen in der Öffentlichkeit eine höhere Relevanz beigemessen wird. Dennoch liegt es auch an uns, die knapp besetzten Redaktionen von der Attraktivität unserer Themen zu überzeugen. Als Marktführer haben wir die Erfahrung gemacht, dass ein einfacher Programmhinweis nicht ausreicht. Wenn wir aber gute Geschichten rund um unsere Programme bieten, werden sie auch aufgegriffen.“ Dass SUPER RTL selten Gegenstand öffentlicher Kontroversen sei, ist nach Ansicht Brauns eine Folge der besonders starken Regulierung durch die Landesmedienanstalten: „Wir bewegen uns in einem rechtlich klar definierten Rahmen, in dem man sich keine Verfehlungen erlauben darf.“
Ein gutes Vierteljahrhundert nach dem Start des Kinderfernsehens in Deutschland ist die Medienlandschaft allerdings nicht mehr mit den damaligen Rahmenbedingungen zu vergleichen. „Die Räume, Formate und Verbreitungswege, über die Inhalte für Kinder bereitgestellt werden, haben sich im Zuge der fortschreitenden Medienkonvergenz verändert“, sagt Thomas Krüger, Präsident des Deutschen Kinderhilfswerks:
Das traditionelle lineare Fernsehen wird zunehmend durch non-lineare Verbreitungswege und -formate abgelöst, beispielsweise durch Streaming- und Videoplattformen wie Netflix und YouTube, durch Mediatheken oder Videos auf Social Media.“
Darin sieht Krüger, der auch Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung ist, einen weiteren Grund dafür, warum sich der Berichterstattungsfokus verlagert habe: „Der Bereich Social Media ist für Kinder spannend, besteht doch dort neben der reinen Rezeption auch die Möglichkeit, interaktiv mit den Inhalten umzugehen, etwa über Funktionen wie das Kommentieren oder Teilen.“ Aufgrund dieser zunehmenden Verlagerung der kindlichen Bewegtbildnutzung in Online- und App-Welten befasse sich auch die journalistische Berichterstattung über die Mediennutzung der Kinder eher mit neueren Formaten wie TikTok, YouTube oder Netflix. Der SPD-Politiker plädiert daher für „eine engagierte Debatte über Qualitäten von Kinderfernsehangeboten und die Gewährleistung dieser Angebote beispielsweise über öffentlich-rechtliche Strukturen“.
Vor diesem Hintergrund provoziert Hallenberger mit der Frage, ob Kinder heutzutage überhaupt noch Kinderfernsehen bräuchten, da die Zielgruppe doch überwiegend im Netz unterwegs sei. „Wenn Kinderfernsehen für Kinder also immer unwichtiger wird: Warum überhaupt noch Geld in den KiKA investieren?“ KiKA-Chefin Plenk lässt sich durch die Provokation nicht aus der Ruhe bringen. Kinder, bestätigt sie, seien bei ihrer Mediennutzung in der Tat vielseitig: „Ihre tägliche Medienzeit umfasst mehr als 120 Minuten. Früher waren das 90 Fernsehminuten, heute verteilt sich die Zeit auf TikTok, YouTube, Podcasts und den KiKA-Player.“ Gerade die 10- bis 13‑Jährigen nutzten häufig sogenannte Drittplattformen, deshalb sei es wichtig, „dass der KiKA auch auf YouTube präsent ist, stets verbunden mit der Prämisse: Auf kika.de gibt’s noch viel mehr tolle Angebote zu entdecken.“
Strukturell marginalisiert
Unterstützung bekommt Plenk durch Gudrun Sommer, langjährige Leiterin von doxs!, einem Festival für Dokumentarfilme für Kinder und Jugendliche. „Kinderfernsehen“, sagt sie, „wird nicht gesellschaftlich marginalisiert, sondern strukturell und finanziell.“ Der vermeintliche Bedeutungsverlust sei daher ein Defizit an Ressourcen, nicht an Bedeutung. Dennoch erreiche das Kinderfernsehen sogar unter diesen vergleichsweise schwierigen Bedingungen sein Publikum: weil es dem Programm überzeugender als den Redaktionen fürs Erwachsenenprogramm gelinge, Fernsehen
nicht nur für die Zielgruppe, sondern auch mit ihr neu zu denken und zu entwickeln. Vielleicht wäre es konsequenter, die Bedeutung des Kinderfernsehens in der Öffentlichkeit stärker daran festzumachen, wie viel Aufmerksamkeit ihm eine Teilöffentlichkeit, nämlich die Kinder selbst, beimisst.“
Auch deshalb fordert ARD-Programmdirektorin Christine Strobl, „dass ARD und ZDF ein gemeinsames Angebot in der digitalen Welt etablieren müssen.“ Es genüge nicht, die Kinder mit kika.de, CheckEins (das Angebot für Kinder und Familie in der ARD-Mediathek) oder ZDFtivi zu erreichen: „Wir müssen uns viel stärker vernetzen und den Kindern eine digitale Heimat bieten. Nur eine solche gemeinsame Plattform wäre mit anderen Kinderprogrammanbietern wie Disney dauerhaft konkurrenzfähig.“
Diesem Wettbewerb, sagt Brauen, begegne SUPER RTL mit einer konsequenten Multiplattform-Strategie, die sowohl auf digitale als auch auf analoge Präsenz setze: „Wir sind mit unserer Dachmarke Toggo überall dort, wo die Kinder sind.“ Die Inhalte würden über Websites, Apps, Games oder Live-Events erlebbar gemacht: „Auf diese Weise bleiben wir konstant in direktem Kontakt mit den Kindern, selbst wenn sie nicht mehr täglich linear fernsehen.“ Steigende Nutzungszahlen in diversen Bereichen belegten, „dass Kinderunterhaltung für die junge Zielgruppe höchst relevant ist und bleibt. Es gibt so viele Anbieter, die sich um Vielfalt und qualitativ hochwertige Inhalte kümmern. Das sollte doch Anreiz genug sein, Kindern und Kindheit in der Öffentlichkeit mehr Lobby und Aufmerksamkeit zu schenken.“
Quellen:
Persönliche Interviews mit den erwähnten Personen.