„Inhaltswarnungen können den entsprechenden Rahmen liefern!“

Elizabeth Ávila González im Gespräch mit David Austin

Im November 2021 veröffentlichte das British Board of Film Classification (BBFC) eine neue Studie über Rassismus und Diskriminierung in Filmen und Fernsehsendungen. 70 Teilnehmende, darunter vor allem Menschen, die direkt von Diskriminierung betroffen sind, wurden nach ihrer Meinung zur Alterseinstufung von Szenen in aktuellen und älteren Inhalten befragt. mediendiskurs sprach mit dem Direktor des BBFC, David Austin, über die Motivation für die Studie und die wesentlichen Ergebnisse.

Printausgabe mediendiskurs: 26. Jg., 2/2022 (Ausgabe 100), S. 78-81

Vollständiger Beitrag als:


Gab es einen konkreten Anlass für das BBFC, die Studie über Rassismus und Diskriminierung durchzuführen?

Nicht direkt, aber wir haben wahrgenommen, dass soziale Bewegungen zur Bekämpfung von Rassismus und Diskriminierung in den letzten zwei Jahren eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit für diese Themen bewirkt haben. Viele Organisationen, darunter auch VoD-Plattformen, haben auf unterschiedliche Weise darauf reagiert und sich bemüht, das Publikum zu informieren und vor ungewollten Inhalten zu schützen. Als britische Aufsichtsbehörde für Film und Video ist es unsere Pflicht, die Sorgen der Menschen im Vereinigten Königreich ernst zu nehmen und ihre Erwartungen in unsere Alterseinstufungen und Inhaltsempfehlungen einfließen zu lassen. Wir haben deshalb diese Studie durchgeführt: um herauszufinden, was die Menschen im Vereinigten Königreich über Fragen der Diskriminierung in Filmen, Serien, Musikvideos usw. denken, wie wir ihrer Meinung nach Altersfreigaben für diese Inhalte vergeben und das Publikum am besten über diese Themen informieren können.

Warum sind in der Studie die Bevölkerungsgruppen überrepräsentiert, die als besonders betroffen von Diskriminierung gelten? Haben Sie den Meinungen und Antworten dieser Gruppe eine erhöhte Bedeutung beigemessen?

Wir wollten verstehen, wie diejenigen, die direkt von Rassismus betroffen sind, über die Darstellung ihrer Gruppe in Filmen denken, aber wir haben die Meinung aller gewichtet. Das haben wir in ähnlicher Weise schon in früheren Forschungen gemacht, z. B. im letzten Jahr bei einer Studie über Darstellungen von häuslicher Gewalt und der Frage nach den Konsequenzen für die Klassifizierung. Bei solchen Themen arbeiten wir dann vor allem mit Bewertungsinformationen.
 

Focus Features: Won't You Be My Neighbor? (2018)



Welche neuen Erkenntnisse gibt es in Bezug auf die Wahrnehmung von Diskriminierung?

Diskriminierung ist seit Langem einer der zentralen Aspekte bei der Alterseinstufung und ein Thema, das wir bereits in früheren Forschungsprojekten untersucht haben – zuletzt im Rahmen unserer Forschung zu den Leitlinien für 2019, bei der verschiedene Formen von Diskriminierung, einschließlich Rassismus und Trans-Themen, in unterschiedlichen Kontexten untersucht wurden. Wie schon 2019 zeigt auch das aktuelle Forschungsprojekt, dass die Menschen in Großbritannien Diskriminierung – insbesondere Rassismus – mit großer Sorge begegnen, und zwar sowohl in der Gesellschaft als auch in den Medien.

Einige Menschen meinen allerdings, dass man Kindern durchaus Beispiele von Rassismus und Diskriminierung zeigen sollte, um sie auf das wirkliche Leben  vorzubereiten, in dem sie diesem Verhalten begegnen werden. Andere wollen dagegen Kinder so lange wie möglich vor einer diskriminierenden und rassistischen Realität abschirmen und schützen. Beide Gruppen, insbesondere Eltern, wünschen sich aber Inhaltswarnungen, damit sie fundierte Entscheidungen über ihren Medienkonsum treffen können.

Wie bewerten Sie üblicherweise Inhalte mit diskriminierenden Aussagen und inwieweit verändert sich die Praxis durch die Studienergebnisse?

Wir bewerten stets den Kontext, in dem die filmisch aufbereiteten Vorfälle erscheinen, und berücksichtigen die verschiedenen Faktoren, die zu einer höheren oder niedrigeren Alterseinstufung führen können. Gewalttätiges und bedrohliches Verhalten oder die Verwendung einer besonders beleidigenden Sprache verstärken etwa ein diskriminierendes oder rassistisches Verhalten. Eine klare Verurteilung des Verhaltens, Sympathie mit den Opfern oder ein dokumentarischer oder historischer Hintergrund können dagegen als „mildernde“ Faktoren wirken, die dazu beitragen, die Szene in einen Deutungsrahmen zu setzen und ihr möglicherweise einen pädagogischen Mehrwert zuzugestehen.
 


Insbesondere Eltern wünschen sich Inhaltswarnungen, damit sie fundierte Entscheidungen über ihren Medienkonsum treffen können.



Ein großer Teil unserer Arbeit besteht nun darin, ältere Filme und Fernsehsendungen zu sichten. Diese Inhalte werden entweder neu aufgelegt oder zum ersten Mal in den Kinos gezeigt. Es ist eine Herausforderung, diese potenziell „veralteten“ Titel anhand der aktualisierten Vorgaben in unseren Leitlinien zu bewerten. Deshalb wollten wir herausfinden, was die Zuschauerinnen und Zuschauer über ältere Filme und Serien denken, inwieweit sie dieses Material in den geschichtlichen Kontext einordnen, ob sie der Meinung sind, dass es restriktiver eingestuft werden sollte, und welchen Wert Inhaltswarnungen für sie haben.

Was sind die zentralen Ergebnisse?

Die Forschung zeigt, dass das Publikum sehr gut in der Lage ist, ältere Filme und Fernsehsendungen als „ein Produkt ihrer Zeit“ zu erkennen. Dies macht beleidigendes oder potenziell schädliches Verhalten nicht unproblematisch, ist aber wichtig, um die Absicht dahinter einzuordnen und sich zu distanzieren. Die Befragten sind nicht unbedingt der Meinung, dass ältere Inhalte eine höhere Altersfreigabe benötigen, aber sie legen großen Wert auf Inhaltswarnungen, damit sie die potenziell verletzenden Inhalte bewusst wahrnehmen und sich gegebenenfalls entziehen können, besonders wenn sie diese mit jüngeren Familienmitgliedern ansehen. Inhaltswarnungen können den entsprechenden Rahmen liefern, um missverständliche Interpretationen oder eine eventuelle Vorbildwirkung zu verhindern.

Ein wichtiges – und ermutigendes – Ergebnis der Studie ist schließlich das Maß an Empathie, das die Menschen im Vereinigten Königreich für Menschen aufbringen, die Diskriminierung erfahren. Selbst in Fällen, in denen sich Befragte durch einen gezeigten Film oder Clip nicht persönlich verletzt fühlten, schätzten sie das Verhalten als potenziell verletzend für andere ein. Auch dies zeigt, wie wichtig Bewertungsinformationen sind, wenn es darum geht, das Publikum, vor allem Familien, zu informieren und ihnen eine Orientierung zu geben, was richtig für sie und ihre Kinder ist.

Informationen über die Bewertungsgründe werden in Großbritannien auf den Filmplakaten veröffentlicht. Wo platziert man sie im Onlinebereich und wie sehen dort die Informationen aus?

Informationen zu jedem klassifizierten Inhalt werden auf unserer Website und in unserer App veröffentlicht. Für Onlineinhalte ist das BBFC satzungsgemäß nicht zuständig. Die Regierung prüft allerdings derzeit, ob eine Alterseinstufung wie in Deutschland auch auf Plattformen vorgeschrieben werden sollte, aber bislang sind Altersfreigaben nicht verpflichtend. Doch wenn Sie z. B. auf Netflix/UK gehen, werden Sie dort 100 % der Inhalte mit einer BBFC-Klassifizierung und BBFC-Bewertungsinformationen finden.
 

Horrible Histories/BBC: The Rosa Parks Song (Troublesome Twentieth Century , 2020)



Bei Darstellungen von Rassismus, Diskriminierung oder häuslicher Gewalt werden Triggerwarnungen in Deutschland diskutiert. Empfiehlt das BBFC bei bestimmten Inhalten solche Warnhinweise?

Man kann sagen, dass die Altersfreigabe mit der Information über den Inhalt bereits eine Art Triggerwarnung ist. Wenn es zum Inhalt beispielsweise heißt: „Darstellung von Magersucht“, „Selbstverletzung“ oder „Drogen“, dann weist man die Zuschauerinnen und Zuschauer eben darauf hin, bevor sie den Film sehen. Im Kino erscheint vor dem Film eine schwarze Karte mit der Bewertung und den Angaben zum Inhalt. Auch auf der DVD-Verpackung kann man die Altersfreigabe und die Inhaltsinformationen sehen. Auf Netflix werden diese Informationen in den ersten Sekunden eingeblendet, was aber nicht obligatorisch ist.

Wie ist die Information über Inhalte im Fernsehen geregelt?

Das BBFC ist für Fernsehinhalte außerhalb von Plattformen nicht zuständig. Meine persönliche Erfahrung ist, dass es oft angesagt wird, wenn eine Sendung Inhalte enthält, die einige Zuschauer als verstörend empfinden könnten. Manchmal werden auch Warnhinweise gegeben oder es wird auf weitere Informationen auf einer Website oder eine Organisation verwiesen, die sich mit dem Thema befasst.

Kommen wir zurück zu der Studie und zu den Beispielen, die Sie verwendet haben. Welche Filme haben Sie den Teilnehmenden beispielsweise zum Thema „Rassismus“ gezeigt?

Wir haben eine Reihe von Filmen und Fernsehsendungen verwendet, z. B. Horrible Histories, eine Sendung, die Kindern auf lustige Art und Weise Geschichte vermittelt, und zwar die Folge über die Bürgerrechtsbewegung in den USA der 1960er‑Jahre. Ein anderes Beispiel ist der Film Won’t You Be My Neigbor, in dem es um den Rassismus in den USA der 1950er‑Jahre geht. In beiden Fällen sprachen sich die Eltern für eine Inhaltsinformation aus, um über das Gesehene aufzuklären, es für ihre Kinder einzuordnen oder um diesen Inhalt einfach noch ein oder zwei Jahre lang zu meiden. Für beide Elterngruppen ist wesentlich, darüber selbst zu entscheiden.

Gab es auch Fälle, bei denen man sich eine andere Altersfreigabe gewünscht hat?

Die meisten Befragten waren mit den Einstufungen des BBFC im Allgemeinen zufrieden, aber es gab auch Stimmen für eine andere Alterseinstufung.

Dem Film Won’t You Be My Neighbor haben wir wegen des rassistischen Inhalts eine 12 gegeben. Hier sprachen sich viele für die niedrigere Freigabe PG1 aus, weil Rassismus und Diskriminierung in dem Film durch den dokumentarischen Kontext und die antirassistische Botschaft stark relativiert und in der Wirkung abgemildert werden.

Das Biopic Race dagegen, ein Film über den amerikanischen Leichtathleten, der als Schwarzer bei den Olympischen Spielen 1936 in Deutschland antrat, wurde von uns wegen der positiven Geschichte mit PG bewertet, obwohl das N‑Wort darin vorkommt. Hier meinten die Teilnehmenden, sie würden sich so unwohl mit diesem Wort fühlen, dass sie eine Freigabe ab 12 Jahren angemessener fänden. Das ist ein deutliches Ergebnis der Studie: Unter bestimmten Umständen kann eine Freigabe PG trotz des N‑Wortes möglich sein, aber grundsätzlich werden Inhalte mit dem N‑Wort mindestens ab 12 klassifiziert.
 

Movieclips Trailers: Race (2015)



Nach welchen Kriterien haben Sie die Filme für die Studie ausgewählt?

Wir haben zunächst nach Material gesucht, das den Punkt illustriert, nach dem wir fragen wollen – also Rassismus. Wir haben ein Archiv mit Hunderttausenden von Filmen und Fernsehsendungen und somit eine Menge Inhalte, aus denen wir Beispiele auswählen können. Bei den konkreten Fällen handelt es sich dann meist um schwierige Entscheidungen, also Inhalte, die zwischen zwei Alterskategorien lagen, die öffentlich diskutiert wurden oder zu denen es viele Rückmeldungen oder Beschwerden gab. Bei Race beispielsweise ist uns die Entscheidung seinerzeit nicht leichtgefallen, eben wegen des N‑Wortes. Jetzt, drei oder vier Jahre später, haben wir die britische Öffentlichkeit dazu befragt und wissen nun, dass wir in Zukunft einen Film dieser Art besser mit einer 12 einstufen sollten.

Haben Sie in der Studie noch andere Aspekte von Rassismus thematisiert?

Ein weiteres Thema, das wir untersucht haben, ist die angenommene ethnische Identität. Heute würden wir argumentieren, dass jede Form von Blackfacing beleidigend und inakzeptabel ist, aber in der Wahrnehmung der Zuschauenden ist entscheidend, ob die Darstellung respektvoll oder herabsetzend ist. Die Darstellung von Alec Guinness, der in Lawrence of Arabia einen Araber spielt, wird von den Teilnehmenden beispielsweise als respektvoll eingeschätzt, weil die Figur aufrichtig und ehrenhaft erscheint. Mickey Rooneys Darstellung eines Japaners in Breakfast at Tiffany’s wirkt dagegen grotesk und ist eine Stereotypisierung der japanischen Person.

Die Teilnehmenden wollen hier keine veränderte Altersfreigabe, aber Hinweise auf die rassistische Stereotypisierung bzw. die angenommene ethnische Identität des Schauspielers. Das wird das BBFC von nun an umsetzen.
 

Das Interview ist in der englischsprachigen Version mit dem Titel Rating information can provide the appropriate framework! abrufbar unter: https://mediendiskurs.online.


Anmerkung:

1) PG (Parental Guidance = Elterliche Begleitung) meint, dass der Inhalt für jede Altersgruppe erlaubt ist. Eltern werden aber darauf hingewiesen, dass manche Szenen für Kinder unter 8 Jahren nicht geeignet sind.


Weiterführende Informationen:

BBFC: BBFC release research findings into classification of racism and discrimination in films and TV. London 2021. Abrufbar unter: https://www.bbfc.co.uk

BBFC: Discrimination Research. London 2021. Abrufbar unter: https://darkroom.bbfc.co.uk

BBFC: Discrimination Research (Grafik). London 2021. Abrufbar unter: https://darkroom.bbfc.co.uk

 

 

David Austin ist Direktor des British Board of Film Classification (BBFC).

Elizabeth Ávila González hat Internationales Recht mit Fokus auf Menschenrechte und Medien in Dresden, Paris und Wrocław studiert und ist jugendschutzrechtliche Referentin bei der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).