Jim Knopf, Gonzo und andere Aufreger
Zur Analyse und Kritik engagierter Pädagogiken
Stuttgart 2023: J.B. Metzler
Rezensent/-in:
Tilmann P. Gangloff
Hauptsache Empörung?
Im Krimi wäre die Sache klar; die Indizienlage ist erdrückend. Indizien sind zwar bestenfalls Hinweise, aber keine Beweise, doch eine Anklage rechtfertigen sie allemal; und für außergerichtliche Vorverurteilungen genügen erfahrungsgemäß bereits Gerüchte. Das Verdikt trifft weltberühmte Autorinnen und Autoren wie Enid Blyton, Astrid Lindgren, Michael Ende, Roald Dahl, Mark Twain oder Karl May, die Anklage lautet Rassismus, Antisemitismus sowie Verbreitung von Klischees und Förderung von Vorurteilen. Das Urteil: Diese Bücher dürfen Kindern, wenn überhaupt, nur noch in bearbeiteter Form zugänglich gemacht werden. Wie bei vielen Themen dieser Art zieht sich ein Riss durch die Gesellschaft: hier die Alten, die die Lektüre ihrer Kindheit nostalgisch verklären, dort die sensiblen Jungen, die nach Ansicht der Älteren am liebsten jedes Produkt der Unterhaltungsindustrie mit sogenannten Triggerwarnungen versehen würden und in ihrem kulturellen Furor weit übers Ziel hinausschießen, weil sie überall diskriminierende Narrative wittern. Was die einen „woke“ nennen, deuten die anderen als übertriebene Empfindlichkeit.
Der Konflikt ist nicht neu
Natürlich ist der Konflikt nicht neu. Über neokoloniale und ethnische Stereotype in den Klassikern von Michael Ende zum Beispiel wurde schon vor 40 Jahren diskutiert. Der Rassismus in den Kinderbüchern der 1968 verstorbenen Enid Blyton wurde bereits zu ihren Lebzeiten angeprangert. Die „Reiseerzählungen“ von Karl May schließlich dürften heutige Jugendliche stilistisch ohnehin kaum noch ansprechen; die „Winnetou“-Trilogie ist vor exakt 130 Jahren erschienen. Ob es angebracht ist, diese Bücher an aktuellen moralischen Maßstäben zu messen, ist ebenso diskutabel wie die Frage, ob sich Kunstwerke generell unter moralischen Gesichtspunkten betrachten lassen.
Was sich gegenüber früheren Debatten allerdings verändert hat, sind die Intensität und die Leidenschaft, mit der seit einigen Jahren gestritten wird. Das Empörungspotenzial scheint heutzutage ungleich größer als früher, weshalb selbst vermeintliche Petitessen gern zum Politikum oder gar zum Skandal erklärt werden. Literatur, Theater und Musik wirken mitunter wie ein Mittel zum Zweck, und auch darum geht es in zwei Aufsatzsammlungen, die sich größtenteils wohltuend sachlich mit der Thematik befassen. Es gibt zwar einige inhaltliche Überschneidungen, aber unterschiedliche Schlussfolgerungen, weshalb sich die beiden Bücher perfekt ergänzen.
Unterschiedlichste Perspektiven
Das gilt auch für die Ansätze: Jim Knopf, Gonzo und andere Aufreger ist streng wissenschaftlich ausgerichtet und befasst sich neben der Literatur unter anderem mit Kulturprodukten wie etwa Kinderspielzeug, Konsumgütern, Karnevalskostümen und kulturellen Praktiken. Der deutlich diskursiver konzipierte Sammelband Canceln enthält auch Meinungsbeiträge aus unterschiedlichsten Perspektiven und Fachbereichen (Kultur- und Literaturwissenschaft, Philosophie, Soziologie, Journalismus), verzichtet aber ebenfalls auf unangemessene Rhetorik oder Polemik. Für einen echten Mehrwert sorgt in den beiden Kompilationen nicht zuletzt die Beschäftigung mit der Metaebene.
Davon abgesehen ist es natürlich wichtig, der Ende-Gefolgschaft im Detail vor Augen zu führen, dass es in Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer (1960) und Jim Knopf und die Wilde 13 (1961) – beide als antirassistisch gerühmt – in Wirklichkeit ziemlich rassistisch zugeht, weil der Autor nun mal, wie es von Verlagsseite entschuldigend heißt, ein Kind seiner Zeit gewesen sei. Sehr interessant sind auch die Auseinandersetzungen mit weniger bekannten Phänomenen. Aus Kreisen, die sich selbst als rechtskonservativ bezeichnen würden, gab und gibt es regelmäßig pseudowissenschaftlich fundierte Proteste gegen angeblich gender-ideologisch motivierte Indoktrinierungsversuche: weil sich beispielsweise die Muppet-Figur Gonzo als Prinzessin verkleidet oder die Sendung mit der Maus eine Frau vorstellt, die in einem früheren Bericht noch ein obdachloser Mann war. Schon allein die analytische Betrachtung der reaktionären Argumentationsstrategien ist ein Gewinn.
Kritik der Kritik
Mindestens so spannend wie die Betrachtung solcher Exempel ist jedoch die Interpretation der aktuellen Auseinandersetzungen als Beleg für Integration, Toleranz und den Abbau von Diskriminierungen: weil Kontroversen dadurch viel offener ausgetragen werden können. Spätestens bei der Kritik der Kritik, also dem Streit um „Cancel Culture“ oder der Politisierung von Pädagogik, scheiden sich allerdings die Geister: Nun wird die Debatte ideologisch und entsprechend unversöhnlich geführt, da linke und rechte Identitätspolitik aufeinanderprallen.
Nicht selten, auch das machen die Beiträge deutlich, scheint es vor allem um die Lust an der Empörung zu gehen. Das gilt nicht zuletzt für die Frage, ob eine zum Teil sogar sinnentstellende Bearbeitung der Klassiker mit einer Entmündigung der Leserschaft gleichzusetzen sei. Gerade Jim Knopf, Gonzo und andere Aufreger setzt sich mit dem Aspekt auseinander, ob es sich um eine natürliche Verschiebung moralischer Standards oder um Anmaßung handele, wenn eine elitäre Gruppe allen anderen vorschreiben wolle, was sie sagen, lesen oder konsumieren dürften. Letztlich geht es wie bei vielen Diskursen dieser Art um Deutungshoheiten über Geschichte und Gegenwart, was wiederum die Rigorosität der Auseinandersetzungen erklärt. Eine differenzierte Debatte dazu steht noch aus, pauschale Antworten auf die aufgeworfenen Fragen sind weder angebracht noch zielführend. Beide Bücher bieten viel Material für einen entsprechenden Diskurs; im besten Fall führt die Lektüre dazu, sich kritisch mit den eigenen Haltungen zu befassen.