Jubiläen

Gerd Hallenberger

Dr. habil. Gerd Hallenberger ist freiberuflicher Medienwissenschaftler.

Gerd Hallenberger über Jubliläen

Printausgabe mediendiskurs: 26. Jg., 2/2022 (Ausgabe 100), S. 76-77

Vollständiger Beitrag als:


Egal, ob das Leben ein Fluss ist wie ein Fluss oder einfach nur dahinfließt: Das Leben impliziert Bewegung, Veränderung. Aber Bewegung und Veränderung vollziehen sich oft so langsam, dass wir gar nicht merken, ob oder wo sich etwas verändert. Sicher, gelegentlich gibt es einschneidende Ereignisse, Brüche, volatile Prozesse, sei es in unserer kleinen privaten Welt oder der großen Welt um uns herum, von der wir zugleich ein Teil sind. Der Normalfall ist jedoch das Normale, der Alltag, die Routine, scheinbar ist jeder Tag wie der andere.

Aber der Fluss ist vielfältig strukturiert: Es gibt Arbeitstage und Wochenenden, es gibt religiöse und säkulare Feiertage (wie den Ersten Mai), Brauchtum (wie etwa Karneval), den Sommerschlussverkauf und die Urlaubszeit. So hat jedes Jahr eine Struktur, und aus einem ganz einfachen Grund ist auch kein Jahr wie das andere. Unsere Lebenszeit ist endlich, wir werden geboren, erwachsen und sterben schließlich. Vor diesem Hintergrund werden Jubiläen wichtig: individuell, gesellschaftlich – und auch medial.

Bei Jubiläen geht es letztlich um profane Zahlenmystik im Alltagsgebrauch – was auch immer der Gegenstand ist, jede durch die Zahl 5 teilbare jährliche Wiederkehr eines Ereignisses eignet sich heute im Prinzip dazu, feierlich begangen zu werden. Zwar werden die Zahlen 10, 25, 50 und 100 bevorzugt, aber auch das 35‑Jährige Bestehen einer Firma oder ein 70. Geburtstag qualifizieren sich als Jubiläum. Jedes Jubiläum hat eine doppelte zeitliche Perspektive, es verweist auf den Ausgangs- und den Erinnerungspunkt. Einerseits informiert es, wann etwas oder jemand in die Welt gekommen ist, andererseits zeigt es, dass dies heute noch von Interesse ist.

Wir alle leben zwar im Jetzt, Jubiläen weiten jedoch den Horizont, sorgen für temporale Perspektivierung. Das kann aus verschiedenen Gründen äußerst nützlich sein, kulturell wie ökonomisch. Jubiläen können überraschen: Was denn, in der Bundesrepublik Deutschland gab es erst 1984 Privatfernsehen? Was denn, die erste kommerzielle Filmvorführung fand schon 1895 statt? Medienjubiläen erinnern daran, wie sehr sich unsere Medienlandschaft in relativ kurzer Zeit verändert hat. Und gleichzeitig daran, wie viel trotz aller Veränderungen doch gleich geblieben ist.

Medienjubiläen sind natürlich keine Besonderheit elektronischer Medien, auch in der Welt des Gedruckten werden Jubiläen gerne gefeiert. So freute sich der „Manchester Guardian“ 1921 auf eine für Tageszeitungen typische Weise über sein 100‑Jähriges Bestehen – mit einer umfangreichen Beilage zu seiner Geschichte plus einer Reproduktion der ersten Ausgabe. Die „Süddeutsche Zeitung“ leistete sich 1995 zu ihrem 50. Jubiläum gleich eine Chronik in Buchform, eine Ausstellung und einen Katalog zur Ausstellung. Schriftstellerinnen und Schriftsteller können sogar auf drei Wegen zu Jubiläen gelangen – über ihren Geburtstag, den Todestag oder das Ersterscheinungsdatum wichtiger Werke. Der jeweilige Anlass transportiert nicht nur die kulturelle Leistung und Bedeutung des oder der Gefeierten in den Wahrnehmungshorizont der Gegenwart, er hat auch erhebliche ökonomische Relevanz. Jubiläen ermöglichen Verlagen beispielsweise die Veröffentlichung von Sonderausgaben, Werkeditionen und  Neuübersetzungen. Vergleichbares gilt auch für neuere technische Medien.

Ebenso wie Spotify den Erwerb von Musik auf physischen Trägern für viele Menschen  überflüssig gemacht hat, sorgen Netflix und Wettbewerber sowie Onlinemediatheken für einen massiven Absatzrückgang bei DVDs und Blu-ray-Discs.

Einen von relativ wenigen Hoffnungsschimmern im Kampf gegen die Übermacht des Streamings bieten Jubiläen. Die Hoffnung richtet sich dabei weniger auf das Gewinnen neuer Publikumsgruppen als auf den Sammlermarkt. Wer sich für die jeweiligen Filme oder Musikalben interessiert, kennt sie bereits und hat sie – vor allem, wenn es um Musik geht – oft auch schon einmal käuflich erworben. Jubiläen bieten aber die Chance, das Vertraute in modernisierter Form und mit attraktiven Beigaben ein weiteres Mal anzubieten. Dass diese Idee funktionieren kann, hat sich schon bei der Ablösung der Vinylplatte durch die CD in den 1980er‑Jahren gezeigt – sehr viele Musikfans kauften die gleichen Platten gerne erneut, jetzt als kleine silberne Scheiben, wenn sie denn ein paar Bonustracks oder zusätzliches Bild- und Textmaterial im begleitenden Booklet bekamen.
 

FOX Heimkino: James Bond 007: Bond 50 – Die Jubiläums-Collection Trailer (2012)



Geht es um Filmreihen, werden heute zu Jubiläen gerne Sammeleditionen herausgebracht, die vorher oft nur einzeln erhältlich gewesene Filme bündeln (plus Bonusmaterial), etwa zu 50 Jahren James Bond. Im Falle von Musik sollen Fans dagegen bevorzugt durch umfangreiche Materialsammlungen zu einzelnen Veröffentlichungen begeistert werden: Zum 50. Jubiläum der letzten LP der Beatles, Let It Be, gab es eine Neuedition mit fünf CDs, einer Blu-ray-Audiodisc und einem Bildband. Das 50. Jubiläum des Kultalbums In the Court of the Crimson King der Band King Crimson wurde sogar mit einer Box gewürdigt, die neben neuem Druckmaterial gleich 20 CDs, vier Blu- ray-Discs, eine DVD und eine Audio-DVD enthielt.

Jubiläen sind auch für das Fernsehen in mehrfacher Hinsicht interessant: Erstens laden sie dazu ein, durch Wiederholungen, Sondersendungen oder Zusammenschnitte alten Sendematerials an wichtige Produktionen, Medienumbrüche oder herausragende Fernsehpersönlichkeiten zu erinnern. Zweitens sind sie aus monetären Gründen nicht zu unterschätzen – was man schon im Archiv hat, muss nicht neu produziert werden. Drittens haben Jubiläen für das Publikum einen besonderen Reiz: Fast alle heute lebenden Menschen sind mit dem Fernsehen groß geworden – die einen schon, die anderen noch. Jubiläen veranschaulichen, welchen großen Anteil an unserer eigenen Biografie unsere Medienbiografie hat.

Geburtstagsshows sind wie eine Zeitreise in unsere Vergangenheit, in eine Zeit, als wir noch jünger waren, vielleicht sogar: jung. Wenn das ZDF Thomas Gottschalk zu seinem 70. Geburtstag mit einer großen Show „Happy Birthday, Thomas Gottschalk!“ zuruft, geht es auch ein Stück weit um uns selbst – darum, dass für viele von uns Thomas Gottschalk ein medialer Lebensbegleiter war, für manche länger, für manche kürzer. Und zum Glück sind wir alle noch da.