„Jugendschutz ist kein Elternschutz!“

Barbara Weinert im Gespräch mit Benedikt Hommann

Werbeclips für Erotikversandhäuser, die im Tagesprogramm privater Fernsehsender ausgestrahlt wurden, waren für viele besorgte Eltern Grund, sich bei den Sendern zu beschweren. Die Sendergruppe ProSiebenSat.1 hat darauf reagiert und die Richtlinie Kinderaffine Umfelder ins Leben gerufen. Benedikt Hommann ist Juniorredakteur in der Abteilung „Jugendschutz“ der ProSiebenSat.1 TV Deutschland GmbH. tv diskurs sprach mit ihm über die neue Richtlinie.

(Beachten Sie zu dem Thema auch das Gespräch mit Dr. Frank Herrath in tv diskurs 77)

Printausgabe tv diskurs: 20. Jg., 4/2016 (Ausgabe 78), S. 82-830

Vollständiger Beitrag als:

Zahlreiche Zuschauer haben sich in den vergangenen Monaten nicht nur bei der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF), sondern auch bei den Sendern über die Ausstrahlung von vermeintlich anzüglichen Werbespots, beispielsweise für Erotikversandhäuser wie amorelie.de beschwert. Wie gehen Sie mit diesen Beschwerden um?

Die Jugendschutzbeauftragten der einzelnen Sender sind rechtlich dazu verpflichtet, auf Zuschauerbeschwerden zu reagieren und möglicher Kritik an unserem Programm nachzugehen. Das gehört zur täglichen Arbeit. Dennoch waren wir sehr über das hohe Beschwerdeaufkommen überrascht, das uns zur „Dildo-Werbung“ erreicht hat – um im Ton der Beschwerdeführer zu bleiben.

Was sind das genau für Vorwürfe?

Hauptsächlich beschweren sich Eltern, die zusammen mit ihren Kindern in der Werbepause eines Spielfilms oder einer Show einen Werbeclip zu einem Erotikversandhaus wie amorelie.de gesehen haben. Wirklich problematische Inhalte sind da aus jugendschützerischer Sicht nicht zu erkennen. So sieht der Zuschauer eine junge, selbst bewusste Frau, die fröhlich durch ihr Schlafzimmer tänzelt und glücklich in ihr Bett fällt. Am Ende des Spots erscheinen dann Gegenstände, die erst auf den zweiten Blick als luststeigernde Geräte zu identifizieren sind. Werbung, die sich ausschließlich an Erwachsene richtet.

Trotzdem haben Eltern ein Problem damit?

Was wir von den Eltern am häufigsten hören, ist: „Warum und wie soll ich meinem Kind erklären, was ein Dildo ist?“ „Wieso werden wir mit so etwas überhaupt im Tages- oder Hauptabendprogramm konfrontiert?“ Das sind nachvollziehbare Fragen, aber sie sind natürlich aus Sicht der Eltern gestellt, nicht der Kinder. Ein Kind, das so etwas sieht, hat heutzutage zwar die Möglichkeit, via Smartphone oder Tablet gezielt nach derartigen Inhalten zu suchen. Ob es davon angesprochen oder gar sozialethisch desorientiert wird, ist allerdings eine ganz andere Sache. Der Sexualpädagoge Dr. Frank Herrath hat in der vorherigen Ausgabe der tv diskurs den Sachverhalt gut umrissen: Das Betrachten eines kurzen Clips führt nicht automatisch zu einer Gefährdung der psychosexuellen Entwicklung bei Kindern. Eine negative Wirkungsvermutung findet vor allem im Kopf der Erwachsenen statt.

Kann ich als Zuschauer, der sich beschwert, überhaupt etwas erreichen?

Wir nehmen Beschwerden zu unseren Programmen immer ernst. Gerade auch in diesem Fall. Die Kollegen der Abteilung „Jugendschutz“ haben sich bereits vor Ausstrahlung darauf geeinigt, derartige Werbespots der FSF vorzulegen. Letztlich haben wir für alle Spots eine Freigabe für das Tagesprogramm erhalten und sind damit rechtlich abgesichert.

In der Kommunikation mit den Zuschauern verweisen wir auf diese Entscheidungen. Nur: Die Diskussion wird nicht selten emotional geführt. Vor allem die Eltern berufen sich auf ihre eigene Sicht der Dinge. Sie wollen solche Clips weder für sich noch für ihren Nachwuchs. Aus diesem Grund haben wir uns als Sendergruppe dazu entschieden, die Richtlinie Kinderaffine Umfelder ins Leben zu rufen.

Was versteckt sich hinter dieser Richtlinie?

Das Ziel ist es, bestimmte Programme, die gezielt jüngere Zuschauer ansprechen, als „kinderaffin“ zu kennzeichnen. In diesen Sendungen sollen Werbespots wie der von amorelie.de u.Ä. nicht mehr erscheinen. Damit wollen wir den Eltern entgegenkommen und so das Beschwerdeaufkommen reduzieren.

Aber müssten Sie dann nicht eher von „elternaffinen Umfeldern“ sprechen, schließlich kommt doch die Kritik von den Erwachsenen?

Das ist richtig, aber Jugendschutz ist kein Erwachsenen oder Elternschutz! Es ist nicht unsere Aufgabe, Erziehungsfragen zu übernehmen. Das liegt in der Verantwortung der Eltern. Andererseits wird beispielsweise ein Sender wie SAT.1 als Familiensender wahrgenommen. Wenn Familien das Programm einschalten, wollen sie eine entsprechende Unterhaltung. Das steht ihnen auch zu.

Woher wissen Sie, was Kinder besonders anspricht?

Die Gruppe der 3- bis 12-Jährigen ist sehr unterschiedlich, was das individuelle Mediennutzungsverhalten angeht. Zusammenfassend kann man sagen, dass all diejenigen Programme, in denen Kinder als handelnde Protagonisten, ebenso Tiere oder Animationscharaktere im Mittelpunkt stehen, von jüngeren Zuschauern gezielt angesteuert werden. Das gilt auch für Sendungen, die das kindliche Lebensumfeld mit Schule, Familie und Freunden besonders abbilden.

In der Praxis ist die Einschätzung, ob ein Programm kinderaffin ist, natürlich nicht immer ganz einfach. Nehmen Sie z.B. Die Simpsons. Die Serie richtet sich zuallererst an Erwachsene, nur sie verstehen die vielen Anspielungen und Seitenhiebe auf Gesellschaft, Zeitgeschehen und Medien. Trotzdem wissen wir aus Untersuchungen des Bereichs „Audience Research“, dass auch unter 12-Jährige die Serie gern schauen. Sie erfreuen sich am Slapstickhumor, an den Streichen von Bart Simpson oder den skurrilen Nebenfiguren. Bei Jungen ist Bart nicht ohne Grund eine der beliebtesten Medienfiguren.

Was wäre dann beispielsweise eine Sendung, die nicht kinderaffin ist?

Jüngere Kinder interessieren sich z.B. für Liebesgeschichten nicht wirklich. Das ist ein Thema, das erst mit dem Jugendalter deutlich an Relevanz gewinnt – bei Mädchen früher als bei Jungen. Es ist also davon auszugehen, dass Romanzen in der Primetime von jüngeren Zuschauern kaum bewusst angesteuert werden. Ein weiteres interessantes Beispiel sind die sogenannten Young-Adult-Filme wie die Tribute von Panem-Reihe. Hier agieren Jugendliche oder junge Erwachsene in entsprechend erwachseneren Sujets. Das Liebesthema ist prominent vertreten. Man kann natürlich nicht ganz ausschließen, dass jüngere Zuschauer mal in so ein Programm hineinzappen. Auf die Mehrheit trifft das aber sicherlich nicht zu. Ein spannender Grenzfall sind die Harry Potter-Filme, in denen die Protagonisten, gemeinsam mit dem Publikum, über die Jahre hinweg erwachsener geworden sind und auch die Liebe gesucht und gefunden haben. Da das Thema „Freundschaft“ in Verbindung mit Magie und Fantasy sehr vorherrschend ist, kann man durchaus über ein kinderaffines Umfeld diskutieren.

Wie werden die Überlegungen in die Praxis umgesetzt?

Die Bewertung, ob eine Sendung kinderaffin ist oder nicht, nehmen die Jugendschutzbeauftragten der Sender vor. Kinderaffine Umfelder können Inhalte betreffen, die zwischen 6:00 und 22:00 Uhr einstarten, also in der Zeit, in der Kinder üblicherweise fernsehen. Zum einen werden diese Programme, z.B. Superkids in SAT.1 oder die Anime-Schiene auf ProSieben MAXX, bei uns in der Datenbank entsprechend gekennzeichnet. Zum anderen prüfen die Kollegen unseres Vermarkters Seven One Media bei der Planung von Werbespots, ob ein Clip eher zu einem erhöhten Beschwerdeaufkommen führen könnte. Im genannten Sinne problematische Werbung wird dann nicht mehr in den kinderaffinen Umfeldern eingebucht.

Benedikt Hommann ist Juniorredakteur in der Abteilung „Jugendschutz“ der ProSiebenSat.1 TV Deutschland GmbH.

Barbara Weinert ist Redakteurin der tv diskurs.