Live

Gerd Hallenberger

Dr. habil. Gerd Hallenberger ist freiberuflicher Medienwissenschaftler.

Über Aufwand und Wirkung von Live-Events. Wenn auch „Gegenwart“ ein dehnbarer Begriff wird ...

Printausgabe mediendiskurs: 26. Jg., 4/2022 (Ausgabe 102), S. 62-63

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Auf den ersten Blick geht es scheinbar nur um ein Detail, tatsächlich versteckt sich dahinter aber viel mehr: Schreibt man das Wort mit „v“, steht es für einen Kurzschluss von medialer Produktion, Distribution und Nutzung; schreibt man es mit „f“, meint es so universell wie unspezifisch „Leben“ an sich. In der Mediengeschichte ist das Prinzip „live“ mehrfach zu einem wichtigen Faktor geworden, sei es aus technischer Notwendigkeit, sei es aus strategischem Kalkül. In beiden Fällen spielt das Verhältnis von „live“ und „life“ eine zentrale Rolle.
 


Was für das Radio im Verhältnis zu frühen Tonaufzeichnungen galt, traf ebenso auf das Verhältnis des frühen Fernsehens zum Film zu. Während Schallplatte und Film jederzeit einsetzbare Aufzeichnungen zuvor erbrachter Leistungen boten, ermöglichten Radio und Fernsehen, durch Direktausstrahlung „live“ dabei sein zu können. Dieser Umstand hatte zwar wesentlich damit zu tun, dass in der Anfangszeit des Radios Tonaufzeichnungen ebenso kompliziert und aufwendig waren wie in der Anfangszeit des Fernsehens Bildaufzeichnungen, aber in der Medienkonkurrenz erwies er sich als äußerst nützlich. Bis zur Einführung von Tonbandgeräten und Videorekordern waren Radio und Fernsehen primär „Live“‑Medien, bisweilen ergänzt durch Material aus der „Konserve“, von Schallplatten und Filmrollen. Selbst Fernsehspiele waren genau genommen Aufführungen für die gleichzeitige Sendung, und eine Wiederholung verlangte eine erneute Darbietung.

Obwohl auch Netflix heute über Livestreams in einzelnen Sparten nachdenkt, sind doch Radio und Fernsehen die prototypischen „Live“‑Medien: Sie können das Gefühl des Dabeiseins bei etwas Wichtigem bieten, das sich gerade jetzt abspielt, vielleicht sogar unter meiner Beteiligung entscheidet, wenn ich mit abstimmen kann. In solchen Momenten wird aus „live“ „life“, aus einem Medienphänomen ein Teil meines eigenen Lebens, aus Mediennutzung der Anschluss an die Welt da draußen. In dieser Hinsicht ist der große Vorteil von Streaming gleichzeitig ein großer Nachteil. Streamingangebote kann ich jederzeit nutzen, aber meine Zeit‑Autonomie hat den Preis der zeitlichen Beliebigkeit.

Live dabei sein kann man prinzipiell bei zwei Arten von Ereignissen, die jeweils zwei Arten von Spannung bieten. Ereignisse lassen sich in geplante und ungeplante einteilen. Zu letzteren gehören vor allem Unfälle, Katastrophen, Konflikte, der Tod oder Rücktritt wichtiger Persönlichkeiten. Bei geplanten Ereignissen lassen sich zusätzlich zwei Unterformen unterscheiden, primär mediale und primär realweltliche. Typische Medienereignisse sind beispielsweise Castingshows oder der Eurovision Song Contest, wichtige realweltliche Ereignisse sind etwa Hochzeiten von Prominenten, Amtseinführungen von Präsident:innen oder Trauerfeiern. Eine Zwischenposition nehmen Sportveranstaltungen ein – einerseits sind es realweltliche Ereignisse, andererseits orientiert sich ihre Inszenierung an medialen Kriterien. Es würde zwar auch ohne umfangreiche Berichterstattung Olympiaden oder Fußballwettbewerbe geben, sie sähen jedoch deutlich anders aus.
 


In beiden Fällen ist das mediale Publikum nicht einfach so bei einem Ereignis dabei, die entsprechenden Livesendungen sind immer inszenierte Authentizität, nicht nur im Falle von Fernsehshows. Der bei Sportübertragungen betriebene Aufwand ist schon oft beschrieben worden, aber auch bei anderen Ereignissen wird bereits bei der Planung daran gedacht, wie sich die besten Medienbilder herstellen lassen. Ungeplante Ereignisse bieten in dieser Hinsicht zwar weniger Chancen, aber Bildauswahl, Schnitt, Maske und das Casting von Augenzeug:innen beispielsweise lassen doch einigen Gestaltungsspielraum.

Was diese Ereignisse spannend macht, ist ihr Verlauf und/oder ihr Ausgang, wobei im ersten Fall das Ereignis selbst oder die darum produzierte Sendung Quelle der Spannung sein kann – oder beides. Im zweiten Fall richtet sich das Publikumsinteresse primär auf das Resultat: Gelingt das Vorhaben? Wer gewinnt?

In seltenen Fällen kommen alle drei Varianten zusammen. So am 1. April 1998: Kurz vor Beginn des Champions‑League‑Halbfinalspiels von Real Madrid und Borussia Dortmund rissen Fans einen Zaun nieder und zugleich das daran befestigte Tor. Der Spielbeginn verzögerte sich um 76 Minuten, die die RTL-Kommentatoren Marcel Reif und Günther Jauch durch sprachliche Improvisation füllen mussten. Für Spannung sorgte hier später zwar auch das geplante Ereignis, das Fußballspiel, viel mehr aber die Fragen: Wann geht es endlich los? Und: Was macht RTL in der Zwischenzeit? Das Votum des deutschen Fernsehpublikums war dabei eindeutig: Die 76 Minuten Sprachspiele mit Reif und Jauch verfolgten über 12 Mio. Zuschauer, das Fußballspiel nur die Hälfte.

Egal ob geplante oder ungeplante Ereignisse Gegenstand von Livesendungen sind, in jedem Fall begegnet das Medienpublikum diesen Sehangeboten mit erlernten Erwartungen, sowohl hinsichtlich des Ereignisverlaufs wie dessen medialer Inszenierung. Während je nach Art des Ereignisses dessen Verlauf von Hoffnungen und Befürchtungen begleitet wird, dominiert bei der medialen Gestaltung das Vertrauen auf Professionalität. Als Folge wird dem Ereignis selbst ein höheres Maß an Kontingenz zugebilligt als dessen medialer Aufbereitung: In der Welt kann mehr passieren als im Fernsehen. Umgekehrt hat dies zur Folge, dass die Störung des gewohnten Programmablaufs interessanter sein kann als das Programm selbst ‑ siehe oben.

Das Prinzip „live“ ist attraktiv, also ist es auch reizvoll, „live“ bloß vorzutäuschen. So kann man unter Livebedingungen aufzeichnen, was zwar wie „live“ aussieht, trotzdem aber kleinere Schnitte ermöglicht („live on tape“). Oder die Ausstrahlung wird minimal verzögert, um Peinlichkeiten herausschneiden oder sogar Livesendungen zensieren zu können. Aber abgesehen davon ist „live“ ohnehin nie wirklich live: Jeder Signalweg braucht Zeit, was etwa bei Fußballspielen erlebt werden kann, wenn je nach Übertragungsart – Kabel, Satellit, Antenne oder Internet – Torjubel in der Nachbarschaft zu unterschiedlichen Zeitpunkten ausbricht.