Mediale Lebenshilfe
Seitdem es Massenmedien gibt, werden ihnen vor allem drei Grundfunktionen zugeschrieben: Unterhaltung, Information und Bildung. Man kann sich mit ihnen vergnügen, sich über das aktuelle Geschehen auf dem Laufenden halten und allgemein Weltwissen erlangen. Daneben haben sie aber immer schon etwas anderes geleistet – sie haben sich für ihr Publikum als nützlich erwiesen, entweder ganz praktisch mit alltagstauglichen Ratschlägen oder eher abstrakt durch allgemeine Hinweise zur besseren Lebensgestaltung.
Genau genommen gab es so etwas bereits vor der Entstehung der Massenpresse im 19. Jahrhundert, diese Vorläufer wandten sich aber an ein recht kleines Publikum. So richtete sich seit dem 16. Jahrhundert die „Hausväterliteratur“ an den gebildeten, reichen (männlichen) Landadel, um ihn mit landwirtschaftlichen Ratschlägen und Hinweisen zur Führung eines tugendhaften christlichen Hausstandes zu versorgen. Nicht mehr ein adliges, sondern ein aufklärerisch gesinntes bürgerliches Publikum wollten im 18. Jahrhundert die „moralischen Wochenschriften“ wie etwa in England „The Tatler“ oder in Deutschland „Der Patriot“ erreichen. Den für die Zeit fortschrittlichen Ideen entsprechend waren die Adressaten auch nicht mehr nur Männer, so etwa im Falle von „Die vernünftigen Tadlerinnen“ (herausgegeben von Johann Christoph Gottsched). Um 1800 kam eine weitere Publikationsform hinzu, die eine schon etwas größere Leserschaft mit Ratschlägen und teilweise auch neuen politischen Ideen versorgen wollte: der Volkskalender, etwa der Lahrer Hinkende Bote und Der Rheinländische Hausfreund.
Ihrem Publikum hilfreich zur Seite zu stehen, war damit von Anfang an eine Funktion der Massenmedien, sei es in Form von eigenständigen Angeboten oder Beigaben in Print, Radio oder Fernsehen. Selbst als das bundesdeutsche Fernsehen noch ein ganz neues Medium mit einem sehr überschaubaren Publikum war, konnte dieses schon mit Tipps verschiedenster Art rechnen. Einen Tag nach dem offiziellen Sendestart am 25. Dezember 1952 hieß es bereits Der Doktor hat Ihnen etwas zu sagen …, zwei Monate später bat Clemens Wilmenrod erstmals in seiner Kochsendung zu Tisch, kurz danach das Ehepaar Heinrici zum Fernsehtanzkurs. Schwerpunkt der frühen Jahre waren Ratgebersendungen für die (Haus‑) Frau, aber auch allgemeine Verbrauchertipps (Meine Groschen – deine Groschen) kamen nicht zu kurz. Zwar keine klassische Fernsehsendung, dafür aber eminent wichtig war in dieser Zeit der mit dem Deutschen Roten Kreuz gestaltete Suchdienst nach Kriegsvermissten (erster Titel: Wir helfen suchen).
Im Unterschied zum Programm der ARD, zu dem mehrere Sender beitrugen, war für das ab 1963 ausgestrahlte ZDF-Programm eine einzelne Anstalt verantwortlich, weshalb Gründungsintendant Karl Holzamer ein deutlich stringenteres Programmkonzept verfolgen konnte. Nach seinen Vorstellungen sollte das ZDF sein Publikum wesentlich persönlicher ansprechen und sich auf eine andere Art als hilfreich erweisen. Das ZDF sollte nicht bloß Ratschläge und Tipps geben, sondern „Lebenshilfe“. Der Begriff meint eine ganzheitliche, auch geistige und moralische Hilfestellung, die sich nicht zuletzt als Orientierungsangebot in der modernen Welt versteht. Als Konsequenz kümmerte sich das ZDF beispielsweise nicht nur um die Gesundheit seines Publikums (Gesundheitsmagazin Praxis), sondern auch um Erziehungsprobleme (Die Fernseh-Elternschule) und die Angst, Opfer von Verbrechen zu werden (Vorsicht, Falle! Die Kriminalpolizei warnt – Nepper, Schlepper, Bauernfänger [alle Beispiele ab 1964]).
Bei der ARD begann 1961 mit dem Rasthaus über Fragen zu Auto und Verkehr die Reihe der lange laufenden Fernsehratgeber in Magazinform, die mit der Zeit immer mehr Gebiete abdeckten und 1971 die Dachmarke ARD-Ratgeber erhielten. Das Spektrum reichte schon damals von Geld über Gesundheit und Recht bis zu Technik, später kamen u.a. noch Heim und Garten sowie Mode hinzu.
Im Laufe der Fernsehgeschichte veränderte sich der Charakter des Gebotenen langsam, aber nachhaltig. Waren es zunächst primär Experten (also auch: primär Männer), die dem zu belehrenden Publikum auf die Sprünge halfen, kamen sich beide Gruppen im Laufe der Zeit näher – aus mitgeteiltem „Wissen“ wurde erst der „Ratschlag“, der nicht unbedingt angenommen werden musste, aber sollte, dann ein „Service“, wodurch die Nachfragenden in die Rolle des Souveräns gelangten. Mit dem privatrechtlichen Fernsehen kam es zu den paradoxen Trends, dass einerseits vor allem in Talkshows manche Ratgebende kaum mehr Sachwissen besaßen als die Ratsuchenden, andererseits gelegentlich auch wieder hierarchische Distanz betont wurde (Die Super Nanny). In beiden Fällen war jedoch die gebotene Hilfe weniger wichtig als der Unterhaltungswert der betreffenden Sendung, weshalb sich als neue Genrebezeichnung „Helptainment“ etabliert hat.
Ratschläge über das Fernsehen erreichen vorwiegend ein älteres Publikum, für das das Fernsehen noch Leitmedium ist. Vor allem – aber nicht nur – jüngeres Publikum findet Vergleichbares heute hauptsächlich im Internet. Wo die Individualisierung von Lebensweisen und die Pluralisierung von Lebensstilen quantitativ und qualitativ neue Herausforderungen für mediale Beratung hervorgerufen haben, gibt es dank Digitalisierung auch viele neue mediale Orte, an denen diese Hilfe geleistet werden kann – und neue Genres: Morning Routines helfen beispielsweise beim Tagesbeginn, Hauls sind eine Kombination aus Einkaufstipp und Beutepräsentation, How-tos und Hacks unterstützen bei der Lösung von Alltagsproblemen. Zu den Experten und Beratern alten Typs hat sich dabei eine neue Akteursgruppe gesellt: Influencer, die aufgrund der Zugehörigkeit zu ihrer (jungen) Zielgruppe besonders glaubwürdig wirken. Viele Influencerinnen und Influencer treten zwar wie Testimonials („Werbebotschafter“) auf, aber selbst in diesen Fällen leisten sie noch etwas anderes. Da heute Identitätskonstruktion oft mit dem Erwerb und der Nutzung von Waren und Dienstleistungen verbunden ist, bieten Influencer mit ihren Konsumtipps zusätzlich Orientierungshilfe und Sinnangebote – und damit, ganz im Sinn von Karl Holzamer, tätige „Lebenshilfe“.