„Mensch, Schiri!“

Der Unparteiische als Wertevermittler und Hassobjekt

Arnd Pollmann

Dr. Arnd Pollmann ist Professor für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice Salomon Hochschule in Berlin .

Ob es um American Football, Basketball, Cricket, Diskuswurf, Eishockey, Fußball, Gewichtheben, Hochsprung, Kickboxen, Rennrodeln, Springreiten, Tennis, Volleyball oder den Zehnkampf geht: All diese und viele weitere Sportwettkämpfe kommen notfalls ohne Zuschauer aus, aber niemals ohne Schiedsrichter. Deren nicht bloß sportliche, sondern auch ethische und gesellschaftliche Vorbildfunktion sollte nicht unterschätzt werden: Sie lehren uns die Regeln des Fair Play. Zugleich aber erweist sich ihre zentrale Aufgabe, spielerisch für Gerechtigkeit zu sorgen, als geradezu paradox und oft auch ärgerlich: Referees sollen einen Wettkampf überwachen und berechenbar machen, der seine ganze Faszination doch daraus zieht, dass sein Ausgang unberechenbar bleibt. Aber auch damit erteilen sie uns eine wichtige Lektion fürs Leben.

Printausgabe tv diskurs: 22. Jg., 4/2018 (Ausgabe 86), S. 38-43

Vollständiger Beitrag als:

Als der Fußballprofi Lothar Matthäus einmal gefragt wurde, was er nach seiner aktiven Zeit als Profi zu tun gedenke, antwortete dieser:

Schiedsrichter kommt für mich nicht in Frage, schon eher etwas, das mit Fußball zu tun hat.“

Diejenigen, die Wettkampfsportarten aktiv selbst betreiben, haben sehr häufig – ebenso übrigens wie viele Fans – ein eher gespaltenes Verhältnis zu den sogenannten Unparteiischen: Man weiß um deren Unentbehrlichkeit, hat sich in aller Regel aber auch schon oft über sie aufgeregt. Markus Merk, ein kluger, renommierter und seit 2008 nicht mehr aktiver FIFA-Referee, im bürgerlichen Beruf Zahnarzt, hat dazu einmal gesagt:

Als Schiedsrichter mag mich keiner, als Zahnarzt auch nicht. Das ist wahrscheinlich eine Perversion, wenn man nicht nur Zahnarzt, sondern auch Schiedsrichter ist.“1

In der Regel weiß man nicht allzu viel über Referees. Außer natürlich: dass sie meist „vollkommen blind“ sind und „nur Mist pfeifen“. Oder man weiß, wie es in einem heute viel zirkulierten Fangesang heißt, „wo dein Auto steht“.

Diese Unkenntnis mag zum einen daran liegen, dass der Unparteiische auf dem Höhepunkt seines Könnens „unsichtbar“ wird: Je besser Referees das betreffende Spiel im Griff haben, desto weniger treten sie in Erscheinung – und umso weniger werden sie selbst mit ihrer Leistung zum Stein des Anstoßes. Und noch in einer zweiten Hinsicht entziehen sie sich der Forschung: Oft sind die Unparteiischen nach dem Wettkampf rasch verschwunden, weil Sportler, Trainer und Zuschauer nicht selten großen Wert darauf legen, und zwar insbesondere in den unteren Spielklassen, „dem Schiedsrichter-Team noch mal kurz zu erklären“, was man von seiner Leistung hält.2 In den letzten Jahren mehren sich gar – passend zu einer eher allgemeinen Verrohung öffentlicher Auseinandersetzungen – beängstigende Indizien dafür, dass der Respekt vor diesen sportlichen Ordnungshütern dramatisch sinkt.3 Woher aber genau rühren diese weitverbreiteten Aggressionen? Im Folgenden soll die These lauten: Ein Großteil jenes Grolls auf die Referees hat mit genau drei zentralen Charakteristika zu tun, die nicht etwa, wie man auf den ersten Blick meinen würde, den schlechten Referee auszeichnen, sondern den guten.
 

Erste Eigenschaft: uneingeschränkte Befugnis

Schauen wir in eines der vielen einschlägigen Regelwerke, die den Referee mit Befugnissen, Aufgaben und Funktionen ausstatten. In Abschnitt 5 der DFB-Fußballregeln heißt es gleich zu Beginn:

Entscheidungsgewalt des Schiedsrichters. Jedes Spiel wird von einem Schiedsrichter geleitet, der die uneingeschränkte Befugnis hat, die Spielregeln beim Spiel durchzusetzen.“

Warum wird, ja, muss dem Schiedsrichter eine solche „uneingeschränkte Befugnis“ eingeräumt werden? Oberstes Gebot der Spielleitung ist nicht etwa die Überwachung der Regeln in einem bestimmten Spiel, sondern der Schutz der Integrität des Regelsystems als solchem. In jedem einzelnen Spiel steht mit der Beachtung der für das Match relevanten Regeln die gesamte Sportart, basierend auf eben jenen festen Regeln, „auf dem Spiel“. Philosophisch dramatischer und frei nach Thomas Hobbes ausgedrückt: Zur Überwachung eines derart heiklen Regelungszusammenhangs bedarf es eines mit äußersten Vollmachten ausgestatteten Souveräns, eines „Leviathans“, dem sich die Untertanen zwar freiwillig, aber doch bedingungslos zu unterwerfen haben. Diese geradezu mystische Vollmacht, die den Unparteiischen in eine fast jenseitige Machtsphäre transzendiert, hat niemand besser auf den Punkt gebracht als Fußballer Andreas Brehme (dessen Elfmeter wir den WM-Sieg 1990 zu verdanken haben): „Wenn der Mann in Schwarz pfeift, kann der Schiedsrichter auch nichts mehr machen.“ 
 

Zweite Eigenschaft: tatsachenbezogene Unfehlbarkeit

In Abschnitt 5 der DFB-Regeln heißt es weiter:

Entscheidungen des Schiedsrichters. […] Die Entscheidungen des Schiedsrichters zu Tatsachen im Zusammenhang mit dem Spiel sind endgültig.“

Hier setzt sich die für das Reglement konstitutive Überhöhung des Schiedsrichters fort. Der Referee erhält einen Freibrief, von dem der Papst nur träumen kann. Mag dieser, der Papst, letzte Instanz in Glaubensfragen sein, der Schiedsrichter hingegen trifft, wie es heißt, „Tatsachenentscheidungen“. Das ist – philosophisch betrachtet – eine geradezu irrwitzige Unmöglichkeit. Denn bei diesen Tatsachenentscheidungen kommt es zu dem, was man einen „umgekehrten Sein-Sollen-Fehlschluss“ nennen kann: Hier wird nicht etwa, was schon schlimm genug wäre, vom Sein auf ein Sollen geschlossen, sondern vom Sollen auf ein Sein: Das Schiedsrichter-Team spricht Recht und setzt damit nachträglich Fakten. So wie das Team entscheidet – so war es dann auch. Ganz gleich, was die Zuschauerinnen und Zuschauer am Bildschirm gesehen haben mögen.4 Das ist ersichtlich eine bizarre Überhöhung, aber doch offenbar eine notwendige, ohne die es auf dem Platz rasch drunter und drüber ginge. Dazu passt, was Kultschiedsrichter Walter Eschweiler einmal gesagt hat: „Die Leistung eines Schiedsrichters ist mit irdischen Gütern nicht zu bezahlen.“
 

Dritte Eigenschaft: unparteiliches Fingerspitzengefühl

Die wohl wichtigste Eigenschaft des Referees ist dessen „Unparteilichkeit“ und damit die von ihm geforderte Neutralität bei der konsequenten Durchsetzung der Regeln. Dabei müssen Unparteiische inmitten eines oft turbulenten Geschehens enorm hohen ethischen Standards genügen, denn wahrhaft unparteilich oder auch „fair“ zu sein, ist gar nicht so einfach! Der Referee muss dazu – wie auf Knopfdruck – von sich und den eigenen Sympathien und Antipathien gegenüber den jeweiligen Sportlerinnen und Sportlern absehen, sich deren individuellen Vorzügen oder Schwächen gegenüber „blind“ zeigen und nur das Regelwerk selbst sehen. Keine der mitunter streitenden „Parteien“ darf bevorzugt oder aber benachteiligt werden, solange diese jeweils die Regeln einhalten. Die Gerechtigkeit, die man als Referee dem Spiel widerfahren lassen muss, ist damit zwar eine Gerechtigkeit, die von dieser Welt ist, die aber doch zugleich auch etwas beinahe Übermenschliches hat. Sie muss die streitenden Parteien alle zu ihrem Recht kommen lassen und dabei gelegentlich doch sehr situationsspezifisch bzw. mit „Fingerspitzengefühl“ entscheiden. Von dem berühmten italienischen Schiedsrichter Pierluigi Collina wird etwa berichtet:

„In der ersten Halbzeit, in der die Torwarte die jeweils eigenen Fans im Rücken hatten, war alles unproblematisch. Dies änderte sich nach dem Seitenwechsel. Wurfgeschosse aller Art gingen auf die Torhüter nieder, die körperliche Unversehrtheit war nicht mehr gewährleistet. Nach einiger Zeit unterbrach Collina das Spiel und rief die beiden Spielführer und die Schiedsrichterassistenten zu sich. FIFA-Regel 5 legte nahe, das Spiel abzubrechen. Als Folge wäre die Gewalt unter den Fangruppen weiter eskaliert. [So] wurden noch einmal die Seiten getauscht, sodass die Torhüter sich wieder auf der Seite befanden, wo ihre Fans standen. […] Das Spiel wurde ohne Zwischenfälle zu Ende geführt.“5
 

Latente Aggressionen

Zurück zu der Frage, woher die unterschwellige Geringschätzung des Referees kommen mag. Es geht dabei ausdrücklich nicht um das eher punktuelle, eruptive, hysterische Gebaren vieler Fans nach einer offenkundigen Fehlentscheidung, sondern um die latente Feindseligkeit, die den Referee insgesamt zu umgeben scheint:

Er ist der abscheuliche Tyrann, dessen Diktatur keine Opposition kennt, und der hochmütige Henker, der seine Schreckensherrschaft mit Operettengesten ausübt. Die Pfeife im Mund, bläst der Schiedsrichter die Willkürwinde des Schicksals und gewährt oder annulliert Tore […]. Es ist sein Job, sich verhasst zu machen. Einzige Einstimmigkeit beim Fußball: Alle hassen ihn.“6

Diese latente Aggression, so ist zu vermuten, kommt nicht etwa daher, dass Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter dauernd etwas falsch machen würden. Vielmehr resultiert sie aus dem Umstand, dass Referees in aller Regel sehr viel richtig machen. Genauer gesagt: Die unterschwellige Respektlosigkeit gegenüber den Unparteiischen ist eine Konsequenz aus den drei oben dargelegten Charakteristika guter Referees. Viele Fans, Trainerinnen und Trainer, aber auch Sportlerinnen und Sportler können genau drei Dinge schwer ertragen:

  • Da Referees als Einzelpersonen in einem letztlich komplexen und unvorhersehbaren Geschehen uneingeschränkte Vollmachten besitzen, können sie mit ihren individuellen Eingriffen in das Geschehen („gewährt oder annulliert Tore“) das betreffende Spiel nicht nur beeinflussen, sondern letztlich sogar entscheiden. Und eben das ist aus Sicht der übrigen Beteiligten tendenziell unverzeihlich.
  • Eine regelrechte Qual kann es sein, die Unwiderruflichkeit „unfehlbar“ getroffener Tatsachenentscheidungen anerkennen zu müssen. Dass autoritär agierende Einzelentscheider („abscheuliche Tyrannen“) Fakten schaffen dürfen, obwohl sie selbst nicht mitspielen, lässt aus so mancher Entscheidung eine Art Kriegserklärung werden.
  • Schwer erträglich ist auch schon die für das Spiel insgesamt konstitutive Unparteilichkeit, sofern man diese als „Indifferenz“ versteht. Dem Referee scheint es egal zu sein, wer gewinnt. Wie kann das sein? Wer derart unparteiisch ist, ist offenkundig nicht für die eigene Mannschaft – und damit „gefühlt“ eher für den Gegner: „[A]lle Schiedsrichter sind Verräter.“7
     

Die Unverfügbarkeit des Geschehens

Neben diesen drei für den Sport notwendigen, aber gelegentlich eben auch enervierenden Charakteristika guter Referees kommt es natürlich trotzdem zu sogenannten Fehlentscheidungen. Ist das dann grundsätzlich ein Problem? Nein, denn der Wettkampfsport lebt nicht nur von seiner durch die Unparteiischen exekutierten Regelhaftigkeit, sondern stets auch davon, dass der Wettbewerb letztlich ein unverfügbares Geschehen bleibt. Im Wettkampfsport, so der Philosoph Martin Seel, vollzieht sich das äußerst spannende „Drama einer stets riskanten Verwandlung von absichtsvollem Tun in absichtsloses Geschehen“.8 Unter Wettkampfbedingungen, so Seel, feiert und bejaht der Mensch mit seinen physischen und psychischen Fähigkeiten zugleich auch die Grenze dieser Fähigkeiten und damit auch die Grenzen der Beherrschbarkeit der Welt. In eben diesem Sinn ist der Sport immer auch eine „Zelebration des Unvermögens“.9 Das ist nicht etwa ein gewichtiger Nachteil des Wettkampfgeschehens, sondern dessen eigentliches Faszinosum. Besonders Fans wollen inmitten eines Geschehens sein, auf dessen Ausgang man zwar Geld wetten, den man aber dennoch nicht vorhersehen kann. Hier sei einmal mehr an den Fußballphilosophen Sepp Herberger erinnert, der einst auf die Frage, warum die Menschen ins Stadion gehen, antwortete: „Weil sie nicht wissen, wie es ausgeht.“

Der Wettkampfsport ist mitreißend nur dann, wenn er zwischen einer berechenbaren Regelhaftigkeit einerseits und einer unberechenbaren Unverfügbarkeit andererseits pendelt. Nicht nur der Fußball, auch viele andere Sportwettkämpfe werden diesen faszinierenden Aspekt einer regelgeleiteten Unvorhersehbarkeit aber nur so lange beibehalten, wie sie sich einen Rest an Unkalkulierbarkeit bewahren. Was aber bedeutet dies mit Blick auf die drei zentralen Tugenden des guten Referees?

  • Stellt man dessen „uneingeschränkte Befugnis“ infrage, z.B. dadurch, dass man einen „Oberschiedsrichter“ einsetzt, der die Autorität des eigentlichen Schiedsrichters bereits durch seine bloße Anwesenheit infrage stellt, untergräbt man das fragile Autoritätsgefüge, dessen jeweils individuelle und auch fehleranfällige Verkörperung durch jemanden, der schließlich „auch nur ein Mensch“ ist, einen wichtigen Reiz des Spiels ausmacht.10
  • Wird nunmehr plötzlich doch infrage gestellt, z.B. durch die Einführung des Videobeweises oder einer Hintertorkamera, dass es der Referee vermag, „unfehlbare Tatsachenentscheidungen“ zu treffen, wird der Geist der oben zitierten Schiedsrichterregeln durchkreuzt. Das gerechtigkeitstheoretische Anliegen dieser Neuerungen mag nachvollziehbar sein, ihre Einführung verkennt jedoch den Sinn des Spiels als eines unverfügbaren Geschehens; eines Geschehens, das immer auch auf die Grenzen der Wahrnehmung des Schiedsrichters bauen muss, um seinen Reiz nicht zu verlieren.
  • Es käme einer sportlichen Horrorvorstellung gleich, wäre der Schiedsrichter nicht länger um „Unparteilichkeit“ bemüht. Die Wett- und Schiedsrichterskandale der jüngeren Vergangenheit haben der Öffentlichkeit lebhaft vor Augen geführt, dass es selbst für den Fan noch etwas Schlimmeres als den Unparteiischen gibt, und zwar den parteiischen Unparteiischen. Diese Spielmanipulationen erweisen sich als ebenso verheerend für den Sport wie etwa das Doping: Der Wettkampfcharakter wird nur noch zum Schein aufrechterhalten und schlägt so in Massenbetrug um.

Gerade weil es im Sport „nicht immer gerecht zugeht“, muss man sich darauf verlassen können, dass zumindest eine Person auf dem Spielfeld ist, die – so gut es geht – für Gerechtigkeit sorgt. Damit ist zum einen gezeigt: Nähme man den Referees jene drei Eigenschaften, für die sie regelmäßig angefeindet werden, bräche das Spiel in sich zusammen. Zum anderen wird deutlich: Alle Menschen, die etwas mehr vom Wettkampfsport verstehen, wissen, dass die latente Aggression gegenüber den Referees zugleich eben doch auch ein stillschweigender Respekt ist. Wie schon angedeutet, mag man den Schiri meist nur deshalb nicht, weil er in der Regel sehr viel richtig macht. Entsprechend wird man geradezu von einer „Hassliebe“ auf den Referee sprechen dürfen. In dieser Hinsicht ähnelt das Verhältnis, das viele sportbegeisterte Menschen zum Referee haben, übrigens jener „Politikverdrossenheit“, die viele Bürgerinnen und Bürger gegenüber den sie repräsentierenden Politikerinnen und Politikern hegen. Und das ist kein Zufall. Denn während der Referee im Spiel für mehr Gerechtigkeit sorgen soll, ist es die ureigene Aufgabe der Politik, dies im Ernst und mithin im gesamtgesellschaftlichen Großmaßstab zu tun.
 

Die gesellschaftliche Spielwiese

Oft werden dem Sport vielfältige gesellschaftliche Vorbild- und Bildungsfunktionen zugewiesen: Im Bereich „Gesundheit und Entwicklung“ dient er der individuellen Ertüchtigung und Charakterbildung. Unter den Stichworten „Identifikation und Integration“ wird die gemeinschaftsfördernde und auch pazifizierende Rolle des Sports diskutiert. Im Zuge internationaler Wettkämpfe sorgt er auch global für „Frieden und Völkerverständigung“. Vor allem aber ist der Sport stets auch ein Vermittler konkreter „Werte und Normen“: Die Aktiven reifen durch den Erwerb wichtiger charakterlicher Tugenden wie Leistungsbereitschaft, Disziplin, Durchhaltevermögen, Mut, Durchsetzungsfähigkeit oder auch Selbstsicherheit. Darüber hinaus kommt es auf dem Wege der Einübung spezifisch moralischer Einstellungen wie Verantwortung, Teamgeist, Solidarität, Respekt, Fairness und Gerechtigkeit zu einer Stabilisierung des gesellschaftlichen Normengefüges insgesamt.

Es ist insbesondere dieser Bereich der Normenvermittlung, in dem Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter eine wichtige Rolle spielen: Betrachtet man den Sport immer auch als eine gesellschaftliche Spielwiese, so sind die dort für die Einhaltung der Regeln Verantwortlichen stets auch Botschafter der Nachricht, dass trotz aller individuellen Unterschiede und rivalisierenden Einstellungen am Ende doch, und zwar durch Normen und Regeln, für sozialen Zusammenhalt gesorgt werden kann. Es ist diese Form richterlicher Unparteilichkeit, die den Wettkampf – als Kollision von teilweiser extremer Parteilichkeit – zuallererst ermöglicht, indem sie den sportlichen Konflikt spielerisch in zivilisierte Bahnen lenkt. Besitzt der Referee folglich auch in dieser Hinsicht eine gesamtgesellschaftliche Vorbildfunktion? Ja! Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter sind nicht bloß die Hüter eines bestimmten Spiels, sondern stets auch die Repräsentanten von Normen, die das soziale, pluralistische Miteinander erst ermöglichen.

Damit stellt sich abschließend die Frage, ob sich entsprechend auch das für den Wettkampf insgesamt typische Pendeln zwischen „berechenbarer Regelhaftigkeit“ und „unberechenbarer Unverfügbarkeit“ auf das gesellschaftliche Leben übertragen lässt. Auch hier muss die Antwort lauten: ja! Denn auch das sogenannte wirkliche Leben spielt sich stets in einem Spannungsfeld von sozialer Normenbefolgung und lebenspraktischer Unkalkulierbarkeit ab. Bei allen berechtigten Forderungen an die Politik, gesellschaftlich für mehr Gerechtigkeit und damit Berechenbarkeit zu sorgen: Als Menschen, die wir jeweils unser Glück versuchen, müssen wir lernen, mit vielfältigen Kontingenzen eigenverantwortlich umzugehen; auch weil im Grunde erst diese lebenspraktischen Unberechenbarkeiten das Spiel des Lebens insgesamt spannend und bunt machen. Beim Sport können wir dies lernen. Und wer das nicht lernt, mag Gefahr laufen, verdrossen, unerbittlich, aggressiv, fanatisch oder gar radikal zu werden – und die Politik allein für das eigene „ungerechte“ Schicksal verantwortlich zu machen.
 

Anmerkungen:

1) Markus Merk, zitiert nach Wittich, E.: Einer geht noch, einer geht noch raus. In: Jungle World, 12/2000 (letzter Zugriff: 22.08.2018)

2) Ebd.

3) Leibfried, D.: Komm gesund wieder“. Gewalt gegen Schiedsrichter. In: Spiegel online, 08.01.2015 (letzter Zugriff: 22.08.2018)

4) Zur Problematik des neuerdings verwendeten Videobeweises s.u.

5) Schlögel, H.: Der Unparteiische. Warum Fußball nicht immer gerecht ist. In: A. Merkt (Hrsg.): Fußballgott. Elf Einwürfe. Köln 2006, S. 88-98, hier S. 93

6) Galeano, E.: Der Ball ist rund. Zürich 2006, S. 20

7) Ebd., S. 16 f.

8) Seel, M.: Die Zelebration des Unvermögens. Aspekte einer Ästhetik des Sports. In: Ders.: Ethisch-ästhetische Studien. Frankfurt am Main 1996, S. 188-200, hier S. 198

9) Ebd., S. 199

10) Gemeint ist der Umstand, dass das Spiel immer auch von der individuellen Persönlichkeit des Schiedsrichters geprägt wird und nicht zuletzt auch deshalb unvorhersehbar bleibt.