Musikvideos

Gerd Hallenberger

Dr. habil. Gerd Hallenberger ist freiberuflicher Medienwissenschaftler.

Zur Geschichte der Musikvideos.

Printausgabe tv diskurs: 23. Jg., 2/2019 (Ausgabe 88), S. 68-69

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Bei diesem medialen Phänomen gibt es gute Gründe, es im Plural anzusprechen: Wer von dem Musikvideo spricht, unterschlägt nicht nur die radikale Vielfalt des Materials, sondern auch die Vielzahl der medientechnischen und medienkulturellen Kontexte, in denen es bis heute aufgetreten ist. „Musikvideos“ im allgemeinen Sinn, also filmische Umsetzungen einzelner populärer Musikstücke, gab es schon lange vor dem Begriff und bei diesen Umsetzungen eine Kombination von ästhetischen und ökonomischen Ambitionen.

Die Frage, wie sich Bild und Musik verbinden lassen, hat bereits in der Frühzeit des Films einzelne Regisseure beschäftigt, die heute als wichtige Vorläufer des Musikvideos gelten, auch wenn sie nicht gerade zeitgenössisch populäre Musik verwendet oder Kurzfilme produziert haben. Was den ersten Fall betrifft, sind vor allem aus den 1920er-Jahren Vertreter des abstrakten Films in Deutschland zu nennen, etwa Oskar Fischinger und Walter Ruttmann. Den zweiten Fall repräsentiert mehr als jeder andere Busby Berkeley, dessen opulente Choreografien von Filmrevuen (z.B. Footlight Parade) ab den 1930er-Jahren ornamentale, geometrisch aufgebaute Körperbilder und innovativen Kameraeinsatz zusammenbrachten.
 


Konventionellere Musikkurzfilme gab es in dieser Zeit auch, und zwar als Teil des Vorprogramms. Einen zusätzlichen Platz außerhalb des Kinos sollten sie einige Jahre später finden: Ab 1940 konnten in den USA in Bars und Gaststätten auf Video-Musikboxen sogenannte Soundies angeschaut und gehört werden. Nach dem Ende dieses kurzlebigen Phänomens blieb manchen Soundies immerhin noch ein Nachleben im neuen Massenmedium Fernsehen. Gleiches galt für einen Nachfolger, den Scopitone. Dabei handelte es sich um eine französische Erfindung, die ab 1960 in mehreren europäischen Ländern und sogar in den USA erfolgreich wurde. Der Scopitone, ebenso wie Parallelerfindungen wie die italienische Cinebox, war ebenfalls eine Musikbox mit Bildschirm, aber im Unterschied zu den Geräten, auf denen Soundies angeschaut werden konnten, war nun eine Anwahl einzelner Titel möglich und das Bild in Farbe.

Von Musikvideos hatte man zu dieser Zeit immer noch nichts gehört. Es entstand aber viel Material, das später im Nachhinein als Pionierleistungen in deren Geschichte eingegliedert wurde – so etwa der aufwendig choreografierte Jailhouse Rock aus Elvis Presleys gleichnamigem Film oder die Eingangssequenz aus D. A. Pennebakers Dokumentarfilm über die 1965er- England-Tournee von Bob Dylan, in der dieser statt zu singen einfach nur Schrifttafeln mit Worten aus seinem Stück Subterranean Homesick Blues hochhält, das parallel dazu zu hören ist. Außer dem Kino sorgte das Fernsehen in den 1960er-Jahren immer häufiger für neues Bildmaterial. Das Medium war allmählich zum tatsächlichen Massenmedium geworden, gleichzeitig gab es eine neue Jugendkultur, in der Musik und visuelle Ausdrucksformen eine zentrale Rolle spielten.

Diese Jugendkultur wurde vom Fernsehen zwar noch sehr verhalten und nur in kleinen Dosen berücksichtigt, aber in Sendereihen wie dem deutschen Beat-Clubund mehr noch dem englischen Top of the Pops konnte noch frei von großem ökonomischem Druck mit visuellen Umsetzungsformen populärer Musik experimentiert werden. Im Falle von Top of the Pops war allerdings ein gewisser Druck als Konsequenz des Konzepts der Sendung nicht unwichtig: Das wöchentlich von der BBC ausgestrahlte Top of the Pops war eine Chartshow und damit von aktuellen Hitparadenplatzierungen abhängig. Häufig waren jedoch Künstler, die dort eigentlich ihren aktuellen Hit aufführen sollten, nicht verfügbar. Für solche Fälle gab es als Notbehelf Tanzgruppen, die das jeweilige Stück wenigstens mit einer Choreografie begleiten sollten. Als weitaus bessere Lösung erwiesen sich sogenannte Promo-Clips, also einmal mehr Musikvideos, die noch nicht so genannt wurden. Für die Beatles, die nach 1966 keine Tourneen mehr unternahmen, waren solche Clips zusätzlich aus einem anderen Grund von großem Wert: Sie ermöglichten mediale Präsenz ohne öffentliche Auftritte.

Das inhaltliche Spektrum, das man heute bei Musikvideos kennt, war im Prinzip bis Ende der 1960er-Jahre schon ausformuliert. Es gab drei Grundformen: In „performativen“ Videos werden Künstler bei einer tatsächlichen oder simulierten Aufführung gezeigt, gerne auch an ungewöhnlichen Orten; „narrative“ Videos präsentieren eine kurze spielfilmartige Handlung, bei der die Künstler oft, aber nicht immer, schauspielern; „assoziative“ oder Konzept-Videos illustrieren Musik oder Songtext mit abstrakten Bildfolgen. Die bei Weitem häufigste Variante sind Mischformen, die Elemente aller drei Typen kombinieren.Zum Musikvideo wurde der Promo-Clip erst etwa 1980, wobei einem Clip entscheidende Bedeutung zugeschrieben wird. Um 1975 einen Auftritt bei Top of the Pops zu vermeiden, ließ die Band Queen ihr Stück Bohemian Rhapsody in kürzester Zeit und mit geringem finanziellem Aufwand, aber vielen kreativen Ideen, filmisch umsetzen. Neu war an diesem Clip nicht unbedingt seine Ästhetik, sondern der Umstand, dass ihm zentrale Bedeutung für den kommerziellen Erfolg des Stücks zugeschrieben wurde.
 


In den 1980er-Jahren, in denen eine sehr stark visuell geprägte Populärmusikkultur auf viele medientechnologische Innovationen (Kabelfernsehen, massenhafte Verbreitung von Videorekorder und CD) traf, galten Musikvideos als Grundvoraussetzung für den Verkauf von Tonträgern und erhielten viele Plattformen – neben TV-Shows wie Formel Eins eigene Spartensender wie MTV. In manchen Fällen wurde sogar sehr viel Geld in Videos investiert, und das Ergebnis war dann ein kleiner Spielfilm wie etwa 1983 bei Michael Jacksons 14-minütigem Video zu Thriller, das damals unglaubliche 500.000 Dollar gekostet hat.

1993 bekam MTV in Deutschland sogar eine lokale Konkurrenz durch VIVA, um speziell deutsche Künstler zu bewerben, aber diese Zeiten sind lange vorbei: Mit dem Verkauf von Tonträgern ist heute kaum noch Geld zu verdienen, die Musik spielt längst im Internet – Videos gibt es bei YouTube und fast jede Musik bei Spotify. Ende 2018 stellte VIVA konsequenterweise den Sendebetrieb ein.