Nicht gleich

Warum Rassismus und Sexismus entwicklungsbeeinträchtigend sind

Aida Ben Achour

Aida Ben Achour ist Diplom-Kommunikationswirtin. Sie arbeitet als freie Dozentin für Vision Kino im Projekt „Film Macht Mut“ zum Thema „Rassistische Narrative im Film“.

Dass Diskriminierungsformen sich krankhaft bei Kindern auswirken können, ist schon lange bekannt. Es ist wichtig, anzuerkennen, dass sich unsere Gesellschaft massiv verändert hat und somit auch die Anforderungen an Filmproduktionen.

Printausgabe mediendiskurs: 27. Jg., 4/2023 (Ausgabe 106), S. 58-61

Vollständiger Beitrag als:

In einem Clip von HipHop.de mit dem Titel Es gibt 1.000 Antworten auf die Flüchtlingsfrage. Die einzig wahre liefert ein 4Jähriger! tritt der kleine Niclas auf. Das Szenario entwickelt sich wie folgt: Zwei junge Männer, einer davon mit offensichtlicher Migrationsgeschichte und bekannt als Rapper Fard aus Gladbeck, sitzen auf einer Betonmauer, ein Mikrofon in der Hand, bereit zum Interview. Niclas stolpert ins Bild, er trägt ein Basecap, eine enge Jeans und ein schwarzes bedrucktes T-Shirt, auf dem „Detroit“ steht. Nach einem High Five mit dem Kind steigt Fard direkt ein:

„Alles klar, Niclas? Wie geht’s dir?“
Niclas antwortet mit einem kindlichen Ja und: „Mir geht’s gut.“
„Und, bist du im Kindergarten schon?“
Niclas nuschelt auf Nachfragen vor sich hin: „Ich war das letzte Mal schon im Kindergarten.“
„Und? War gut im Kindergarten?“, fragt Fard weiter und Niclas antwortet erneut knapp und trocken: „Ja.“
Dann setzt Fard zu der alles entscheidenden Frage des Clips an: „Sind da auch Ausländer?“
Die Antwort des 4‑jährigen Niclas fällt unerwartet schlicht und ehrlich aus: „Nein, da sind Kinder.“
Fard reagiert überrascht und erfreut zugleich und sagt: „Gutes Argument, da sind nur Kinder. Seht ihr, wie frei er antwortet? Gute Antwort, Niclas!“, lobt er den kleinen Jungen.
 

Es gibt 1.000 Antworten auf die Flüchtlingsfrage. Die einzig wahre liefert ein 4-Jähriger! (Hiphop.de, 14.08.2015)



Das Video ist gerade einmal 34 Sekunden lang und wurde zu einem Hit im Netz. Es ist aus dem Jahr 2015 und also schon ein bisschen in die Jahre gekommen, doch zur Beantwortung der Frage dieses Textes kann das Video einiges beitragen. Warum es sich viral derart schnell verbreitete, ist schnell erläutert:

Als Betrachter des Videos waren wir gerührt von der Spontaneität des Jungen, der all unsere Wünsche zu Chancengleichheit und Gerechtigkeit so offen und direkt auf den Punkt brachte. In einer idealen Welt, unbelastet von Vorurteilen und Diskriminierung, sollten alle Kinder frei aufwachsen können.
 

Diskriminierungen machen krank

Doch leider sind Rassismus und Sexismus nach wie vor so weit verbreitet, dass ihre Auswirkungen auf Kinder tiefgreifend und belastend sind. Rassismus und Sexismus beeinträchtigen die Wahrnehmung, das Selbstbewusstsein, kurzum die psychische Gesundheit und Verfassung. Betroffene erleben sowohl bei Sexismus als auch bei Rassismus Ohnmachts- und Minderwertigkeitsgefühle, aber auch Beleidigungen durch das Zuschreiben von Unfähigkeit. Die traumatischen Erfahrungen aus Diskriminierungen, rassistischen und sexistischen Erlebnissen sind lang anhaltend und äußerst nachhaltig. Häufige Folge­erkrankungen sind Depressionen. Das Erleben der beiden Diskriminierungsformen zugleich, also intersektional, trifft häufiger Frauen oder Homosexuelle und führt natürlich zu entsprechend stärkeren Traumatisierungen. Betroffene müssen oft ein Leben lang mit den erlernten Erfahrungen und Gefühlen zurechtkommen. Zudem werden Diskriminierungs­erfahrungen auch in Erzählungen von Eltern auf Kinder übertragen. Somit werden diese auch auf indirekte Weise durch die Kinder wieder erlebt.
 


Die traumatischen Erfahrungen aus Diskriminierungen, rassistischen und sexistischen Erlebnissen sind lang anhaltend und äußerst nachhaltig. Häufige Folgeerkrankungen sind Depressionen.



Wenn wir nun auf den kleinen Niclas zurückkommen, ist es gut möglich, dass der 4‑Jährige zu einer Gruppe gehört, die sehr wahrscheinlich nicht persönlich von Alltagsrassismus betroffen ist. Er ist weiß und wird männlich gelesen. Soweit wir das dem Video entnehmen können, zählt Niclas somit zu einer privilegierten Gruppe. Was man nicht weiß, ist, welchem sozialen Milieu oder welcher Religionsgemeinschaft er angehört oder ob er sich eines Tages einem anderen Geschlecht zugehörig fühlt oder homosexuell ist. Noch ist also auch Raum für potenzielle Diskriminierungen. So weit die Theorie.

Kinder haben sehr feine Antennen und ein ausgeprägtes Gespür für Gerechtigkeit und die Verteilung von Machtverhältnissen. Sowohl geschlechtsspezifische Ungleichbehandlungen als auch die Ungleichbehandlung wegen Hautfarben nehmen Kinder wahr.

Das afroamerikanische Forscher- und Psychologenpaar Kenneth und Mamie Clark belegte erstmals im Jahr 1947, wie sich rassistische Zuschreibungen und Segregation bei Kindern auswirkten. Mit dem viel zitierten „Puppentest“ oder auch „Doll Test“ belegten die beiden, wie Kinder positive und negative Attribute und Eigenschaften auf weiße und schwarze Puppen verteilten. Wenig überraschend war, dass gerade die schwarzen Kinder die negativen Eigenschaften – z. T. unter Tränen – den schwarzen Puppen zuwiesen.1

Dass der soziale Status der Familien einen prägenden Einfluss auf das sozial, kulturell und kognitiv heranwachsende Kind hat, ist längst eine Binsenweisheit. Wahrnehmung, Bildungschancen und die Entwicklung von Empathie hängen maßgeblich davon ab, in welchem sozialen Milieu Kinder aufwachsen und was innerhalb eines sozialen Milieus mit positiven Codes besetzt ist.

Natürlich sind die USA und Deutschland historisch in keiner Weise miteinander vergleichbar. Doch wenn es um die Wirkung von Rassismus auf Kinder geht, ist die Forschung in den USA schon weiter vorangeschritten – und die Untersuchung der Clarks nach wie vor aktuell. Immerhin hat man hierzulande gerade erst begonnen, im Hinblick auf die Erziehung und die Vermittlung kultureller Inhalte rassismus- und diversitätskritischer zu denken. Der Blick in die Fernseh- und Filmlandschaft zeigt, dass diese ethnozentrisch durch deutsche, europäische und US-amerikanische Perspektiven geprägt sind.
 

Wir müssen lernen, die Perspektiven zu wechseln

Geht es um die kulturelle Bildung bei den Kleinsten, scheint aus der Perspektive vieler Eltern nur das gut genug zu sein, was man selbst als Kind vermittelt bekam. Man greift auf längst in die Jahre gekommenes Material – Bücher, Fernsehserien und Filme – zurück. Einige dieser Kinderbücher von einst wurden neu aufgelegt und erfuhren in den letzten Jahren eine regelrechte Renaissance, von Anlehnungen an die in die Jahre gekommenen Winnetou-Schinken, zuletzt in Form von Der junge Häuptling Winnetou, bis hin zu Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer von Michael Ende.

Das Buch Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer, das im Jahr 1960 verfasst wurde, galt als das antirassistische Kinderbuch seiner Zeit. Es wurde über 5 Mio. Mal verkauft und in verschiedene Sprachen übersetzt. Betrachtet man es heute aus antirassistischer Perspektive, so ist es nicht nur in die Jahre gekommen, sondern vielmehr ein Buch, das sowohl Rassismus als auch Sexismus formvollendet reproduziert.
 

Trailer Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer (Warner Bros. DE, 22.01.2018)



Obwohl in der beliebten Verfilmung aus dem Jahr 2018, anders als im Originaltext von Michael Ende, auf die Verwendung des N-Wortes verzichtet wird, ist es den Filmemachern nicht gelungen, das White-Savior-Element herauszunehmen, denn sonst wäre die gesamte Erzählung obsolet. Zudem reproduziert der Film klassische, altmodische Rollenbilder, in denen sich Frauen vornehmlich um Kinder zu kümmern haben (in der Figur von Frau Waas), gerettet werden müssen (Prinzessin Li Si) oder sprichwörtlich als Drache wie namentlich durch die Drachenfigur „Frau Mahlzahn“ verkörpert werden. Zur Belustigung der Zuschauer werden Asiaten als Winzlinge gezeigt, die zu allem Überfluss auch noch Ping Pong heißen und kulinarische Kuriositäten aus Insekten servieren. Der Film in Regie von Dennis Gansel enthält darüber hinaus homofeindliche Momente, die durch König Alfons den Viertel-vor-Zwölften und den Wächter des Palastes von Mandala repräsentiert werden. Man kann also sagen, dass der Film fast die gesamte Palette gesellschaftlicher Minderheiten zeigt, nur leider durchweg defizitär! Und da liegt das Problem: Die Geschichte hat sich überholt. Wie inzwischen erkannt, stammt das „Sich-lustig-Machen“ über die sogenannten „anderen“ aus einer Zeit, die der Vergangenheit angehört. Man verletzt, produziert Vorurteile und Diskriminierungen.
 

Die Gesellschaft hat sich verändert

Die Gesellschaft hat sich seit den 1960er-Jahren erheblich verändert. Frauen gehen heutzutage allen nur erdenklichen Professionen nach. Es sei daran erinnert, dass gerade auch Frauen maßgeblich an der Mondlandung beteiligt waren. Aus keinem asiatischen Land ist bekannt, dass es einen Vornamen gibt, der an Tischtennis erinnert, und Regenbogenfamilien wollten sicherlich nicht so repräsentiert werden, wie es durch den gezeigten Alfons den Viertel-vor-Zwölften geschieht oder durch den Wächter des Palastes von Mandala. Schwarze Jugendliche und Heranwachsende sollten keine defizitären Darstellungen mehr sehen, sondern Vorbilder erleben dürfen, die Mut machen und ihnen alle nur erdenklichen Möglichkeiten eröffnen.

Zudem haben diverse Formen von Zuwanderung die Gesellschaft seit Mitte des letzten Jahrhunderts erheblich verändert. Dies reicht über die Anwerbeabkommen der sogenannten Gastarbeiter im Westen und der Vertragsarbeiter im Osten bis hin zu ehemaligen afroamerikanischen Soldaten, die in Deutschland stationiert waren und hier eine neue Heimat gefunden haben. Binationale Familien, Expatriates wie z. B. die Banker der EZB, darunter seinerzeit Mario Draghi oder im Moment Christine Lagarde, Beschäftigte großer Tech-und IT-Unternehmen sowie natürlich EU-Bürger und damit auch Bürger aus ehemals von Europa besetzten Kolonien leben in Deutschland. Diese gesellschaftliche Diversifizierung ist ein Fakt und irreversibel!
 


Die gesellschaftliche Diversifizierung ist ein Fakt und irreversibel.



Statistisch haben 24,3 % der in Deutschland lebenden Menschen eine Migrationsgeschichte. Dies entspricht einer Zahl von 20,2 Mio. Personen (Statistisches Bundesamt 2023).

Der Begriff der Migrationsgeschichte meint, dass mindestens ein Elternteil Migrationserfahrung hat. In diesen Zahlen sind nicht die Menschen inbegriffen, deren Vorfahren schon in der 3. oder 4. Generation in Deutschland leben und die selbstverständlich bei Geburt einen deutschen Pass erhalten. Sichtbar ist die Migrationsgeschichte allenfalls vielleicht noch durch den Phänotyp.

Es ist davon auszugehen, dass ein weitaus größerer Teil der Menschen in Deutschland eine Migrationsgeschichte oder internationale Geschichte hat, besonders in Ballungszentren und Großstädten.

Wenn man bei einer sich weiter ausdifferenzierenden und vielfältigen Gesellschaft auf die kulturelle Bildung und insbesondere auf Filmproduktionen schaut, stellt sich die Frage, aus wessen Perspektive heute Filme für Kinder gemacht werden sollten. Wir nehmen die Welt um uns herum durch die Brille der Medien wahr. Welche Stoffe werden geschrieben, wer spielt welche Rolle, wer macht den Film und nicht zuletzt: Wer sitzt bei der Filmförderung in der Jury und entscheidet über das Vorhaben?

Natürlich sollen Filme für alle Kinder produziert werden, aber die Narrative müssen sich verändern. Die Perspektiven marginalisierter Gruppen sollten einbezogen werden, um der Reproduktion von Rassismus und Sexismus und anderen Stereotypen und Vorurteilen entgegenzuwirken – gerade mit dem Wissen, welche Wirkungen Rassismus und Sexismus auf betroffene Individuen haben können. Achtung und Achtsamkeit sind hier die Schlüsselwörter, man kann aber auch in Rapper-Manier von Respekt sprechen.

Niclas jedenfalls hat es geschafft. Er wurde innerhalb kürzester Zeit zum Superstar eines kurzen Clips. Er hat gesagt, was sich alle wünschen und worin ihm alle recht geben. Im Kindergarten sind Kinder. Was denn sonst? Das Wer und das Woher sind nicht wichtig. Den Unterschied macht die Gesellschaft, das Kollektiv.

Arbeiten wir also daran, besser zu werden, damit Niclas recht behält.
 

Anmerkung:

1) Weitere Informationen zum „Doll Test“ sind abrufbar unter: https://www.gordonparksfoundation.org


Literatur:

Statistisches Bundesamt: Pressemitteilung Nr. 158, 20.04.2023. Abrufbar unter: https://www.destatis.de