Operationaler Realismus

Über die Tiefen der Täuschung in „der“ Digitale

Anne Dippel

PD Dr. Anne Dippel lehrt und forscht am Seminar für Volkskunde/Kulturgeschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Sie studierte Neuere und Neueste Geschichte, Europäische Ethnologie und Kulturwissenschaft in Berlin und London.

Deepfake dient als Waffe. Künstliche Intelligenz (KI) dient als Medium der Mimikry. Die zum Verwechseln ähnlichen Darstellungen von Welt generieren ihre eigenen Vervielfältigungen – und jenseits von Hollywood und Märchenerzählen entsteht eine ganze Dimension des Fantastischen. Scheinen Schwindel und Schwindeln ausgerechnet in einer Zeit vorprogrammiert, in der wir uns noch nie so genau an die Realität berechnend annähern konnten wie heute?

Printausgabe mediendiskurs: 27. Jg., 1/2023 (Ausgabe 103), S. 67-73

Vollständiger Beitrag als:

Deepfake goes viral

Unreal Jason Statham heißt der YouTube‑Kanal, auf dem seit Oktober 2022 die russische Mini‑Series‑Produktion ПМЖЕЙСОН ausgestrahlt wird. Die perfekten Deepfakes von Keanu Reeves, Jason Statham und Margot Robbie sind die Helden der Geschichte, die in näherer Zukunft des Jahres 2027 in Russland angesiedelt ist. Der Plot entfaltet sich rund um die Anpassungen Stathams an den „russischen“ Way of Life. Nach längeren Dreharbeiten ist der Schauspieler in Russland geblieben und hat sich dort angesiedelt. Seine Hollywoodfreunde besuchen ihn, um dabei allerlei Skurriles zu erleben. Weder der Plot noch das Format sind außergewöhnlich. Was die Serie bemerkenswert macht, ist die Tatsache, dass Jason Statham wie Jason Statham aussieht und Keanu Reeves wie Keanu Reeves wirkt – bloß, dass es sich bei beiden um Deepfakes handelt. Andere Schauspieler spielen die Szenen; die Gesichter sind generierte Berechnungen. Statham und Reeves sind Avatare, digitale Phänomene in einem von Vektoren geglätteten Filmprodukt.
 

Screenshot Unreal Jason Stratham


 

Die Serie ПМЖЕЙСОН ist die erste Deepfake‑Miniserie der Welt – und sie ist das zweite aus Russland stammende, verblüffend perfekte Deepfake‑Medienereignis des Jahres 2022 – nach den spektakulären Anrufen eines „Vitali Klitschko“ bei Politiker:innen, der gar nicht Vitali Klitschko war. Sorgen um etwaige Persönlichkeitsrechtsverletzungen machen sich die Produzent:innen nicht. Sie meinen, es sei alles von der Kunstfreiheit gedeckt. Auch wenn die Produktion aufgrund der technischen Einschränkungen, die heutige Deepfake‑Programme noch mit sich führen, nicht trivial gewesen ist, wie die Produzentin anmerkt, zeigt sich am Beispiel der Serie, welch tiefe Umwälzung derzeit die gesamte Entertainment‑Industrie durchmacht. Und nicht nur diese.
 

1 серия ПМЖЕЙСОН (Unreal Jason Statham, 05.10.2022)



Ob es sich bei ПМЖЕЙСОН um ein Deepfake oder ein Cheap Fake handelt, also eine mit mehr Handarbeit und weniger Automatisierung verbundene Simulation, sei als technische Marginalie erwähnt. Dieser Umstand ist im Hinblick auf die darunterliegende mediale Problematik zu vernachlässigen: dass es sich für die menschliche Wahrnehmung scheinbar um eine perfekte optische Illusion handelt – aber eben keine ist. Die Programme, die Deepfakes ermöglichen, arbeiten auf der Basis von Computersimulationen. Sie führen Datenstrukturen und Algorithmen zusammen, schaffen dabei Bilder, denen wir nach kulturellem und sozialem Verständnis Bedeutung zumessen. Was für die KI eine Berechnung von Informationen ist, wird für Menschen etwas, das sie mit ihrem jeweiligen Wissen zu verstehen suchen.
 

In einer Welt voll Vervielfältigungen, Verflüssigungen und Verschränkungen

Wir beobachten die Fluidisierung von Geschlechtern. Wir wissen, dass das individuelle Selbst eine historische Kategorie ist, dass es Veränderungen unterliegt und kulturabhängig ist. Wir sehen, wie Ideen logischer Gesetzmäßigkeit zur Wahrheitsfindung sich vermittels Computersimulationen in spektrale Wahrscheinlichkeitsannäherungen an Wirklichkeit verwandeln. Die digitale Verschränkung von Menschen weltweit löst die Gewissheit der Lokalität auf. Sie lässt darüber nachdenken, was es mit unserer Wahrnehmung macht, dass wir im Homeoffice translokal agieren. Schräge Ansichten von Einzelnen werden in Echokammern verstärkt und verwandeln sich in politisch wirksame Verschwörungstheorien und extreme identitätspolitische Ansichten. Die Welt der Dinge vermehrt sich derzeit exponentiell: Algorithmen, Daten, künstliche Intelligenzen; Infrastrukturen, Hardware, Software – all sie werden Handelnde und tragen zu einer Vervielfältigung von Schein‑Belebtem und ihren digitalen Objekten bei. Der öffentliche Raum wirkt instabil. Meistens bleiben die Diskussionen dieser disparaten Phänomene in der Abarbeitung an modernen Dualismen und Wahrheitsvorstellungen stecken.

Die diskursiv angespannte Lage wird weiter eskalieren. Jedenfalls so lange nicht der aufrichtige Versuch unternommen wird, zu verstehen, wie es kommt, dass auch digitale Medien ihren Anteil daran haben, u. a. eben Computersimulationen. Sie tragen zur Vervielfältigung von Illusionen bei, die populär als Fake bezeichnet werden. Computersimulierten Wirklichkeiten und ihrer illusionären Macht ist eben nicht mehr allein mit Logik und Vernunft beizukommen.
 

Was transportiert sich in Medien mit?

Simulationen erlauben es einerseits, das Wetter so präzise wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit vorherzusagen oder den Verlauf von Pandemien zu berechnen. Andererseits lässt sich mit ihnen schwindeln. Die statistisch genaue Annäherung an Welt durch Daten mithilfe algorithmischer Rechenleistungen schreibt an den Grundprinzipien unserer Weltverhältnisse mit. Die Medien der Computersimulation, beinahe in allen Bereichen der Digitalisierung wiederzufinden, haben ihren Ursprung in der Wissenschaft. Zunächst dienten sie dazu, beispielsweise komplexe subatomare Phänomene berechnen zu können. Das Fermi‑Pasta‑Ulam‑Tsingou‑Experiment wurde 1953 in Los Alamos durchgeführt und war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum Bau der Neutronenbombe.

Elf Jahre später schrieb Marshall McLuhan, dass das Medium die Botschaft sei („the medium is the message“). Deshalb müsse es in den Fokus wissenschaftlicher Untersuchung rücken. Heute erscheint das ein hinlänglich bekannter Satz. Wenn es um digitale, audiovisuelle oder gedruckte Medien geht, sind immer weniger Menschen der Überzeugung, dass Medien reine Prothesen wären, die nicht selbst auch Wirkung zeitigen.

Das erste Mal, dass das Wort „Gadget“ von mehreren Zehntausend Menschen verwendet wurde, war bezeichnenderweise beim Bau der Atombombe in Los Alamos (USA) während des Zweiten Weltkrieges. Heute tragen Milliarden von Menschen „Gadgets“ mit sich – und es werden immer mehr. Transportieren smarte Gadgets etwas aus der Welt, aus der sie auch kommen, in unsere „klassische“, von Newton’schen Gesetzen basierte Realität mit? Der Mechanismus, wie Werkzeuge und Medien funktionieren, ist einfach – so wie der Hammer als Werkzeug die Möglichkeiten seiner Nutzung klar vorschreibt und einen Einfluss auf Nutzer:in und Umgebung hat, so besitzen auch smarte Gegenstände oder Simulationen Wirkmacht. Der Unterschied liegt jedoch darin, dass ein Smartphone ein Medium ist. Es kann vieles sein. Ein solches Gadget verwandelt sich in derselben Hand von einem Kompass in einen Fotoapparat oder eine Spielkonsole. Ein Smartphone kann simulieren, emulieren und realisieren.
 

Zum Verwechseln genau simulieren

Wie finden wir in einer Welt smarter Gegenstände, die von simulationsbasiertem Wissen gekennzeichnet ist, Halt? Um diese Frage formulieren zu können und ihrer dringend notwendigen Beantwortung erste medienanthropologische Anhaltspunkte zu liefern, forschte ich zusammen mit Martin Warnke in der Welt der Quantenoptik und ihrer eventbasierten Simulationsmöglichkeiten durch die Computational Physics. Wir wählten dabei eines der berühmtesten Experimente in der Geschichte der Physik: das Doppelspaltexperiment. Es erlaubte uns, den Einfluss von Simulationen in den Naturwissenschaften ethnografisch zu untersuchen. Die verbreitete Annahme, dass Computersimulationen bloß eine „Pipeline“ seien, durch die theoretische Annahmen gejagt und in Übereinstimmung mit experimentellen Messungen gebracht werden, legten wir dabei ad acta. Im Verlauf unserer Forschung wurde auch die Kontinuität der Wirkung von quantenmechanischen Phänomenen in unserer von Menschen wahrnehmbaren Realität durch simulationsbasierte Medien erkennbar.

Computersimulationen sind keine optischen Medien wie ein klassisches Teleskop oder Mikroskop, das weit Entferntes oder winzig Kleines in Augenschein zu nehmen erlaubt. Sie schreiben an der Art, wie Theorie gebildet werden kann und wie Welt uns erscheint, mit. Genauso, wie sie uns erlauben, Visualisierungen von Natur zu erhalten, die wir ohne sie nicht berechnen könnten. Das Paradoxe ist: Simulationen nähern sich der Welt auf das Genaueste an – und genau deshalb öffnen sie operativen Illusionen Tür und Tor. Die Informatik ist nicht umsonst von Zeichentheorie durchdrungen, denn ohne Semiotik würde sie haltlos.

Im Bereich der naturwissenschaftlichen Expertise herrscht aufgrund der funktionierenden und existierenden Absicherungsmechanismen, die Fälschungen und Täuschungen verhindern, bis heute ein werkzeugartiges Vertrauen in Simulationen vor. Ganz so, als ob Simulationen so berechenbare Werkzeuge wie Hämmer und keine Medien seien. Dieses Vertrauen schwindet rasant, sobald Computersimulationen im Raum des Populären zur Aushandlung von Weltverhältnissen öffentlichkeitswirksam werden. Auch weil die Masse nicht verstehen kann, wie Simulationen funktionieren. Verschwörungstheorien erodieren heutzutage sogar den Status der wissenschaftlichen Expertise – welchen Anteil haben die medialen Bedingungen von Simulationen daran?
 

Wie Beobachtung Phänomene schafft

Welche „Botschaften“ („messages“) werden von den Medien und Technologien, die insbesondere für die Befragung von quantenphysikalischen und hochenergiephysikalischen Phänomenen entwickelt wurden, mittransportiert? Wie Medien unsere Gesellschaft verändern, wird in der Öffentlichkeit noch viel zu wenig debattiert.

In der Quantenwelt geschieht für lebensweltliche Maßstäbe Ungeheuerliches. Ein Objekt wird an einem Ort gemessen, ganz wie ein klassisches Teilchen – aber wenn sein Impuls gemessen wird, verhält es sich wie eine klassische Welle. Die Identität eines Objekts wird gleichsam zu einer Relation der Unschärfe. Wie kann ein und dieselbe Sache zweierlei sein? Wie kann weit Entferntes miteinander verschränkt sein und aufeinander wirken? Diese Beobachtungen aus der Welt der Quanten stellen für Menschen, die ein geografisches Verständnis von Örtlichkeit und der Überwindung der Distanz haben, eine Zumutung dar. Hier kann nichts zur gleichen Zeit an zwei verschiedenen Orten sein. Selbst unsere translokale digitale Kommunikation beweist das, Zeitversetzungen und Übertragungsabbrüche bestimmen unser Miteinander.

Der quantenmechanische Welle‑Teilchen‑Dualismus wird in Gestalt der Erzählung des Katzen‑Gedankenexperiments von Erwin Schrödinger so beschrieben, dass ersichtlich ist, weshalb sich die Phänomene der Quantenmechanik nicht auf unsere Welt übertragen lassen. In der Quantenwelt kann etwas zugleich Welle und Teilchen sein. Teilchen können sich im Zustand der Überlagerung befinden. In unserer Welt findet sich so ein Zustand der Überlagerung nicht: Eine Katze kann nicht zugleich tot und lebendig sein.

Ein zentrales Experiment, um die Quantenmechanik zu untersuchen, stellt das Doppelspaltexperiment dar. Auf der Basis von Statistik zeigt sich hier der Interferenzeffekt, also die wellenartige Überlagerung von Teilchen. Heute werden in quantenoptischen Laboren Teilchen sogar bis hin zur Größe von mehreren Atomen durch ein Lasergitter geschickt. Nur am Anfang und am Ende, der Teilchenquelle und dem Messbildschirm, sind sie Teilchen. Auf ihrem Weg verhalten sie sich als Welle. Wenn viele Teilchen sehr langsam auf einen Weg geschickt werden, sind sie gleichsam Materiewellen. Das Verhalten von Materieobjekten lässt sich statistisch beschreiben, inklusive der Überlagerung einzelner Objekte. Die Beobachtung beeinflusst das Messergebnis mit. Der Moment der Beobachtung schafft gleichsam das Ereignis als solches und bietet eineindeutige Anschauung. Dieses Phänomen nennt die Physikerin und Philosophin Karen Barad „Intra‑Aktion“.

Fallbeispiel: Medien der Physik

Bei hohen Energien beschleunigt, werden Teilchen gleichsam zu Murmeln, deren Flugbahnen beobachtet werden können. Die Gesetze, die es dabei zu beschreiben gilt, werden durch mathematische Gleichungen formuliert. Das mathematische Werkzeug zur Berechnung stellt dabei die Differenzialgleichung dar. Sie erlaubt die Berechnung des Änderungsverhaltens von verschiedenen Größen im Verhältnis zueinander. Differenzialgleichungen ermöglichen die Modellierung von Verlaufsbeschreibungen.
 

Interferenz im Doppelspalt-Experiment von der Seite. Quelle: Darstellung nach Schlipp (1949, S. 216)



Eine eventbasierte Computersimulation kann experimentelle Ergebnisse der Quantenobjekte zum Verwechseln ähnlich simulieren. Sie kommt ohne Differenzialgleichung aus, indem sie die diskrete Berechnung des Weges von jedem einzelnen Quantenobjekt beschreibt. Sie kann den Weg der einzelnen Quantenobjekte so simulieren, dass zwar das Messergebnis und der beobachtete Interferenzeffekt gleich sind, die Teilchen aber durchweg Teilchen bleiben.
 

Kapitza-Dirac-Talbot-Lau-Interferometer von der Seite. (© privat)



Die Simulation liefert somit einen anderen Beschreibungsansatz, als er für das experimentelle Ergebnis entwickelt wurde. Sie verwandelt Teilchen in „messenger“. Die Messenger polarisieren den Detektor. Sie selbst wirken als Medium. Das Interferenzmuster entsteht auch hier durch ein statistisches Aufsummen. Aber es wird durch den polarisierten Detektor ausgelöst, nicht durch das Komplementaritätsprinzip, das quantenphysikalischen Objekten zugleich klassische Wellen‑ und klassische Teilcheneigenschaften zuschreibt. Die Simulation verfährt somit operational, schrittweise – und verändert so das Gesamtergebnis des Datenbestandes. Das Medium des Computers, das objektorientiert funktioniert, etabliert ein operationales Verhältnis zur Realität und wirkt darüber theoriebildend.
 

Befüllung des Kapitza-Dirac-Talbot-Lau-Interferometers mit C-60-Molekülen. (© privat)



Von Agentiellem zu Operationalem Realismus

Queerness kann als ein Wort für die Unschärfe von Identitäten und die Macht der Zuschreibung und Beobachtung in der Lebenswelt gelesen werden. Diese Brücke schlägt die Physikerin und Philosophin Karen Barad. Ihr Konzept des Agentiellen Realismus bringt über Intra‑Aktionen den Welle‑Teilchen‑Dualismus mit der non­binären Geschlechtlichkeit, Performativität von Sprache und Natur zusammen. Ein Phänomen entsteht in unserer „klassischen“ Welt und in der „nicht klassischen“ Welt der Quantenmechanik im Moment der Beobachtung durch die Intra‑Aktion von Beobachtetem und Beobachter:in. Die Fluidität von Wirklichkeit wird begrenzt durch die Realität der Wirkmacht von Worten, von Ereignis, von messbaren Phänomenen. „Nature kicks back“, sagt Barad – das schließt an Haraway an: Sprache materialisiert Welt. Medien spielen hierbei aber keine große Rolle.

Mit dem Ansatz des „Operationalen Realismus“ bauen wir auf diesen Einsichten auf, unterstreichen jedoch die Bedeutung von Medien am Prozess der Wirklichkeitsbeschreibung. Sie wirken gleichsam als Übermittler dieser Unschärferelation. Digitale Medien tragen zur Ausbreitung von Interferenzphänomenen bei. Die Argumentation schließt sich an Erkenntnisse über Wirken und Wesen beispielsweise des Vokalalphabets und Buchdrucks an: Während das Vokalalphabet und der Buchdruck mit ihrer Buchstaben‑Diskretion jedes einzelnen Phonems Ideen von unteilbaren kleinsten Einheiten Vorschub geleistet haben, schafft die binäre Welt der Computersimulation eine Relationierung und Phänomene der Verschränkung durch die objektorientierte, diskrete Setzung eines jeden Einzelnen im Hin und Her der Schaltkreise.

Getreu medientheoretischer Beobachtungen verstärken Computersimulationen also sowohl die Wirkmacht schon existierender schriftlicher und mündlicher Medien und gestalten darüber hinaus Systeme der Wahrnehmung mit. So wird in unserer Forschung etwa die Differenzialgleichung als Medium erkennbar und lässt sich in die Aufschreibesysteme des 19. und frühen 20. Jahrhunderts einordnen. Mit der Ausbreitung von Computersimulationen und den Erkenntnissen der Quantenphysik jedoch verlassen wir die klassische Welt. Individuum und Atom als Unteilbare gehören der Geschichte an, Identitäten entstehen, die jenseits binärer Ordnungen und klarer Lokalisierungen liegen. Wahrheit droht in Relationalität der Beobachterperspektiven unterzugehen – und wir alle geraten in die …
 

… Tiefen der Täuschung …

Computersimulationen erschließen uns nicht bloß neue Erkenntnisse über Natur oder erlauben neue Formen der medialen Illusion. Sie geben eine neue Sicht auf den Raum, der sich auftut, wenn Wahrheit gesucht wird, in dem sich eben auch Fälschungen neben Realisierungen tummeln und jedes Erkennen ein Verkennen mit sich zieht. Es geht hier um Wissen, das sich in den Worten des Wissenschaftstheoretikers Yaron Ezrahi von expertisebasierter Information im öffentlichen Diskurs in performative Outformation verwandelt. Im öffentlichen Diskurs wird es den Gesetzen des Spektakels unterworfen. Daher muss sich vermehrt der Frage zugewendet werden, wie Bedeutung ins Spiel kommt.
 

Interferenzbild von Teilchen auf dem Meßbildschirm, Interferenzgenerierung von Objekten im Computern. Quelle: Eigene Darstellung nach „American Journal of Physics“ (1989, S. 117–120)



In digitalen Medien wird Wahrheit in Räumen der Unschärfe intra‑aktiv ausgehandelt. Sogar Simulationen von Natur, die gleich Wetten auf eine mögliche Wirklichkeit von theoretischen Annahmen wirken, sind davon betroffen. An die medienwissenschaftlichen Überlegungen von Mercedes Bunz anknüpfend, hat Hannes Bajohr vor Kurzem etwa darauf verwiesen, dass sich zwischen der menschlichen Welt der Bedeutung und der digitalen Welt der Nichtbedeutung immer schwerer unterscheiden lässt. So gelangen wir durch Computersimulationen in die Tiefen der Täuschung. Täuschung wird hier nicht im Sinne des „Falschen“, sondern als notwendige Grundbedingung allen Wahrheitsstrebens verstanden. Wahr von Falsch zu unterscheiden, braucht daher neue Formen der Absicherung und des Zusammen‑Spiels.

Klassische Ansätze, die sich allein auf Methoden der Falsifikation berufen, reichen daher für die Zukunft nicht aus. Nachdem die „Science Wars“ der 1980er‑Jahre den Kampf zwischen Natur‑ und Geisteswissenschaften anscheinend entschieden hatten – und eine konservative Wissenschaftsphilosophie möchte noch heute Dienerin dieser ideologischen Siegesgeschichte sein –, beschreiten wir eine neue Welt. In ihr, voller Grenzen und grenzenlos zugleich, hat sich der Graben zwischen den Natur‑ und Geisteswissenschaften geschlossen.

In Zeiten von Deepfake gewinnen rhetorische Tropen, Narrative, Geschichten und Rhetorik neue Bedeutung. Und darüber und davon kann niemand so meisterhaft sprechen wie die Disziplinen der Philosophischen Fakultät. Eben jene Disziplinen, die heute besonders massiv unter Kürzungen leiden müssen. – Und die genau heute besser gefördert und gefordert werden müssten, damit wir in Zukunft noch überhaupt eine Zukunft haben. Wir brauchen mehr interdisziplinäre Forschungen, Kollaborationen auf Augenhöhe, mehr Miteinander.
 

Im medialen Nebel der Lebenswelt das Mögliche wahrnehmen

Die Moderne, mit ihren Naturgesetzen und Wahrheitsversprechen, wurde durch die Postmoderne abgelöst. Wie viele „Post“ müssen noch vor die aktuelle Situation gesetzt werden, bis alle begriffen haben, dassdie Digitale schon längst begonnen hat?

Mehr als eine vage Situationsbeschreibung kann dieser Artikel nicht leisten. Es scheint jedoch deutlich: Erst wenn wirklich und breitflächig auch von denen, die Macht und Geld haben, verstanden wird, in welcher Lage wir uns gerade befinden, werden sich neue Wege etablieren können. Vielfach geschieht das schon. Etwa in der gerade erschienenen Abhandlung von Shintaro Miyazaki. Er schlägt vor, die Digitalität zu „tanzen“. An anderer Stelle erarbeite ich eine spielerische Haltung in der Digitale, die sich mit Miyazakis Ansatz zusammenführen lässt und posthumanistischen Zugängen öffnet. Eines scheint klar: Von autokratischen Herrschaftsmodellen und modernen Dualismen gilt es, sich zu verabschieden. Eine Leugnung der aktuellen Situation bringt nichts. Die althergebrachten Wahrheitskonzepte reichen in Anbetracht von Querfronten und Verschwörungsfantasien nicht aus. Das operationale Verhältnis zur Realität, in das wir alle eingestellt sind, macht das unmöglich.

Damit Menschen Souveräne ihres Handelns bleiben können, müssen sie auch Mehr‑als‑Menschlichem Souveränität zugestehen. Wie in einem MMORPG (Massively Multiplayer Online Role‑Playing Game), jedoch ohne die Gamingarchitekturen, die menschliche Entscheidungen in Bahnen lenken, müssen sie ihre Handlungsspielräume vor dem Hintergrund der aktuellen Situation ausloten. Welche Schritte, Drehungen und Wendungen erlauben Simulationen, ermöglicht KI? Auch so erklärt sich der aktuelle Erfolg von Deepfake‑KIs, von Programmen wie Face Swap, Dall‑E oder ChatGPT. Sie erlauben das freie Spiel.

Und neben aller Freude an Spielerei mit Schwindel und Verkleidung lässt sich etwa in dem weltumspannenden Netz von transindigenen Bewegungen, Menschenrechtsaktivist:innen oder Umweltaktivist:innen mithilfe von „Gadgets“ ein anderes Miteinander beobachten, werden andere Stimmen hörbar. Nur so, durch Eintauchen in die Tiefen digitaler Räumlichkeit und im Bewusstsein einer unumgehbaren Realität des Anthropozän, durch harte Arbeit und spielerisches Tanzen von vielen, die selbst zu Operator:innen des Realen werden, lässt sich den multiplen Krisen der Gegenwart beikommen.