Parasoziale Interaktion mit Seriencharakteren

Lothar Mikos

Dr. Lothar Mikos ist Professor i. R. für Fernsehwissenschaft an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF (Potsdam) und Honorarprofessor für Publizistik und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Sein Forschungsschwerpunkt ist die digitale Transformation des Fernsehens.

Parasoziale Interaktion ist ein wesentlicher Aspekt der Medienrezeption. Es ist ein Zeichen für die starke Teilnahme am Geschehen in Serien, wenn die Zuschauer*innen zu den Charakteren besondere Beziehungen aufbauen, um mit ihnen parasozial interagieren zu können. Neuere Tendenzen der digitalen Medienwelt befördern dies, indem soziale Medien einen nicht unwesentlichen Anteil an der Interaktion mit dem Publikum haben. In der Jugendserie DRUCK des öffentlich-rechtlichen Contentnetzwerkes FUNK haben die Charaktere eigene Accounts in den sozialen Medien, denen die Zuschauer*innen folgen können. Das kann die parasoziale Interaktion mit ihren parasozialen Beziehungen befördern.

Printausgabe mediendiskurs: 26. Jg., 3/2022 (Ausgabe 101), S. 14-18

Vollständiger Beitrag als:

Einleitung

Das Konzept der parasozialen Interaktion bezeichnet ein Phänomen der massenmedialen Kommunikation. Es geht zurück auf einen Aufsatz der Chicagoer Wissenschaftler Donald Horton und R. Richard Wohl, der 1956 in der Zeitschrift „Psychiatry. Interpersonal and Biological Processes“ unter dem Originaltitel Mass Communication and Para-Social Interaction. Observations on Intimacy at a Distance erschien. Der Ort der Publikation, eine psychiatrische Zeitschrift, hat in der Folge zu Missverständnissen geführt. In der Rezeption des Ansatzes wurde parasoziale Interaktion oft als eine psychische Auffälligkeit des Publikums gesehen. Das ging jedoch an den Annahmen von Horton und Wohl vorbei, die in der parasozialen Interaktion eine grundlegende Bedingung für gelungene Kommunikation mit den Zuschauer*innen sahen. Allerdings haben die beiden Soziologen bestimmte Bedingungen genannt, unter denen es zu parasozialer Interaktion kommt.
 

Das Konzept der parasozialen Interaktion

Horton und Wohl entwickelten das Konzept in Bezug auf die Rezeption von Unterhaltungsshows im Fernsehen. Da werden die Zuschauer*innen zum Mitmachen aufgefordert, z. B., indem sie bei Quizshows mitraten. Auf diese Weise sind die Personen vor dem Bildschirm nicht nur Zuschauer* innen, sondern auch Mitmachende. In der simultanen Übernahme beider Rollen, deren sich die Zuschauer* innen bewusst sind, kommt es dann zur parasozialen Interaktion mit den handelnden Figuren im Fernsehen, zu einer „Intimität auf Distanz“, wie es die Begründer dieses Konzepts genannt haben (vgl. Horton/Wohl 2002), oder, wie es der Soziologe Chris Rojek (2016) genannt hat, zu einer „vorgestellten Intimität“. Die Beziehungen zwischen den Figuren im Fernsehen und den Zuschauer*innen sind den Interaktionssituationen im Alltag ähnlich: Beide handeln so, als ob ein direkter, persönlicher Kontakt vorliegen würde. Die parasoziale Beziehung wird als Illusion einer Face-to-Face-Beziehung gesehen (Horton/Wohl 2002, S. 74). Aber diese Illusion ist real. Sie ist konstitutiv für die Rezeption – und die Zuschauer*innen sind sich dieser Situation bewusst. Sie wissen, dass es sich um eine soziale Beziehung zweiter Ordnung handelt (vgl. Rojek 2016, S. 15). Denn nur aufgrund des Bewusstseins einer Differenz zwischen Face-to-Face-Situationen in der Alltagswelt und im Fernsehen können die Zuschauer*innen die Illusion einer Face-to-Face-Beziehung aufrechterhalten und entsprechend handeln.
 


Die parasoziale Beziehung wird als Illusion einer Face-to-Face-Beziehung gesehen.



Eine Bedingung für parasoziale Interaktion und den Aufbau parasozialer Beziehungen ist das wiederholte Auftreten der Figuren in Film und Fernsehen. Denn nur mit der Zeit können durch Wiederholung solche Beziehungen entstehen. Neben den Beziehungen zu den Moderator*innen von Fernsehshows wie Günther Jauch, Barbara Schöneberger, Anne Will oder Linda Zervakis können auch parasoziale Beziehungen zu den Charakteren in Serien entstehen.


Parasoziale Interaktion mit Seriencharakteren

Bei den Serien ist auch die Bedingung der Wiederholung in der Zeit, in der die Charaktere auftreten, erfüllt. Das setzt voraus, dass die Zuschauer*innen die Figuren kennen. Diese Kenntnis kann in einzelnen Spiel- und Fernsehfilmen im Rahmen der Narration und der Dramaturgie inszeniert sein, sodass eine „intime“ Nähe zur Heldin oder zum Helden entsteht. In Serien wird dies durch die serielle Struktur möglich. Das wiederholte Auftreten der Figuren führt aufseiten der Zuschauer*innen zu einer „intimen“ Kenntnis ihrer Eigenschaften und Charakterzüge (vgl. Liebers 2021; Mikos 1996). So bauen Zuschauer z. B. parasoziale Beziehungen zu Serienfiguren wie dem Arzt Elias Bähr in In aller Freundschaft – Die jungen Ärzte, Daenerys Targaryen in Game of Thrones oder Daphne Basset in Bridgerton auf. Auch zu den Kommissar*innen der Tatort-Folgen werden parasoziale Beziehungen aufgebaut. Die Zuschauer*innen können aufgrund ihrer erworbenen Kenntnis über die Kommissar*innen mit Karin Gorniak, Lena Odenthal, Nina Rubin, Peter Faber oder Frank Thiel und Prof. Dr. Dr. Karl-Friedrich Boerne parasozial interagieren.
 

Trailer Bridgerton (Netflix, 14.12.2020)



Einen Sonderfall stellen die parasozialen Beziehungen zu Stars und Celebrities dar (vgl. Brown 2020; Turner 2014; Weingart 2021). Die parasoziale Interaktion mit Filmstars wie Scarlett Johansson, Jennifer Lawrence, Chris Hemsworth oder Samuel L. Jackson ist ebenso möglich wie die mit Reality- und Show-Celebrities wie Evelyn Burdecki, Heidi Klum, Janin Ullmann, Oliver Pocher oder Paul Janke. Von den parasozialen Beziehungen zu Pop- und Rockstars wollen wir hier erst gar nicht reden. Besonders deutlich wurden diese Formen der parasozialen Beziehungen und der parasozialen Interaktion im April und Mai dieses Jahres während des Verleumdungsprozesses, in dem Amber Heard und Johnny Depp Intimes aus ihrer toxischen Beziehung preisgaben. Auf dem YouTube-Kanal „Law & Crime“ konnten die Anhörungen live verfolgt werden. In diesen sechs Wochen des Prozesses hatten die Zuschauer*innen aufgrund der täglichen „Nähe auf Distanz“ genügend Zeit, um mit den beiden Stars parasozial zu interagieren und eine parasoziale Beziehung aufzubauen, wenn sie es nicht bereits vorher mit der Starperson Heard oder Depp getan hatten. In den sozialen Medien bildeten sich schnell das „Team Depp“ und das „Team Heard“, wobei letzteres zahlenmäßig mit den Anhänger*innen von Johnny Depp nicht mithalten konnte. Nach der Verkündung des Urteils wurde in den Medien betont, wie sehr die Kommunikation in den sozialen Medien zumindest die öffentliche Meinung über den Prozess beeinflusst hatte.
 

Johnny Depp v. Amber Heard: The Only Unbiased Account of The Trial & Evidence (Law & Crime Network, 21.06.2022)



Die Rolle sozialer Medien

Das Beispiel zeigt, welch große Bedeutung sozialen Medien bei der Kommunikation von Stars und Celebrities mit den Fans zukommt. Über die sozialen Medien lassen sich die parasozialen Beziehungen pflegen, und durch Kommentierungen ist es möglich, mit den Stars parasozial zu interagieren. Das wird auch von den Produktionsfirmen so gesehen. So gibt es z. B. für die tägliche Serie Gute Zeiten, schlechte Zeiten einen eigenen Instagram-Account. Daneben haben die Schauspieler*innen noch eigene Accounts, auf denen sie auch das Geschehen in der Serie thematisieren. Das trifft ebenso auf Berlin – Tag & Nacht zu, wo die Schauspieler ebenfalls eigene Accounts auf Instagram haben.
 


Soziale Medien fördern die parasoziale Interaktion und tragen zur Entstehung parasozialer Beziehungen bei.



In der Jugendserie DRUCK des öffentlich-rechtlichen Contentnetzwerkes FUNK findet die Einbeziehung der sozialen Medien bereits im Drehbuch statt. Dort sind die Charaktere aus der Serie mit eigenen Seiten auf Instagram und WhatsApp aktiv. Zusätzlich werden Inhalte auch auf Snapchat, Tumblr und Spotify verbreitet (vgl. Hartmann/Mikos 2020, S. 264 ff.). Die Instagram-Profile der Charaktere und ihre WhatsApp-Nachrichten sind dabei direkt in die Erzählung integriert und Teil des Drehbuches. Für die Veröffentlichung wird ein wöchentlicher Plan erstellt, an welchem Tag zu welcher Uhrzeit welcher Charakter eine WhatsApp-Nachricht oder einen Instagram-Post absetzt. Ebenso ist festgelegt, wann die nächste Episode auf YouTube gezeigt wird. Lea von den Steinen hat dazu festgestellt: „Damit bieten sich soziale Medien besonders an, um Erzählwelten Inhalte hinzuzufügen, die von den Fans direkt kommentiert und weiterverbreitet werden können“ (von den Steinen 2022, S. 39). Mit anderen Worten: Soziale Medien fördern die parasoziale Interaktion und tragen zur Entstehung parasozialer Beziehungen bei. Das lässt sich dann in den Kommentaren der Zuschauer*innen sehen. Claudia Töpper (2021) hat am Beispiel von Kommentaren auf der Facebook-Seite von Germany’s Next Topmodel gezeigt, wie die Fans Emotionen verhandeln und sich zu den Kandidatinnen in Beziehung setzen.
 

Schlussbemerkungen

Parasoziale Interaktion und parasoziale Beziehungen entstehen beim Fernsehen und Filmreihen oder in Bezug auf Stars und Celebrities. Die sozialen Medien haben dazu geführt, dass diese Beziehungen jetzt auch in den Kommentaren öffentlich einsehbar geworden sind, während früher nur Leserbriefe an die Sender oder Fanclubs davon Zeugnis ablegten. Die Beziehungen zwischen Stars und Charakteren sind nicht nur – wenn auch auf Distanz – intimer geworden, sondern teilweise bereits in die Erzählwelten von Serien integriert.

Grundsätzlich erfüllen parasoziale Beziehungen eine ähnliche Funktion wie Beziehungen in der sozialen Realität. Sie tragen zur Identitätsbildung von Kindern und Jugendlichen bei, denn: „In jeder parasozialen Interaktion lernt der beobachtende Interaktionspartner […] etwas über den anderen, die Medienfigur, aber auch etwas über sich selbst. Jene Erfahrungen werden abgespeichert. Sie überdauern auf diese Weise einzelne flüchtige Interaktionssituationen. Über die Zeit formt das Wissen über den anderen und die typischen Erfahrungen, die ein Zuschauer von sich selbst in der Interaktion mit dem anderen gemacht hat, eine parasoziale Beziehung“ (Hartmann 2017, S. 16 f.). Man könnte auch sagen, die parasoziale Interaktion mit Stars, Celebrities, Fernsehdarsteller*innen und Seriencharakteren kann die Charakterbildung von Kindern und Jugendlichen fördern, denn in der Auseinandersetzung mit den „anderen“ in den Medien lernen sie viel über sich selbst.
 

Literatur:

Brown, W. J.: Celebrity involvement: parasocial interaction, identification and worship. In: A. Elliott (Hrsg.): Routledge Handbook of Celebrity Studies. London/New York 2020, S. 255–270

Hartmann, C./Mikos L.: Der Adaptionsprozess von DRUCK. In: F. Krauß/M. Stock (Hrsg.): Teen TV. Repräsentationen, Lesarten und Produktionsweisen aktueller Jugendserien. Wiesbaden 2020, S. 255–269

Hartmann, T.: Parasoziale Interaktion und Beziehungen. Baden-Baden 20172

Horton, D./Wohl, R. R.: Massenkommunikation und parasoziale Interaktion. Beobachtungen zur Intimität über Distanz. In: R. Adelmann/J.-O. Hesse/J. Keilbach/M. Stauff/M. Thiele (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse. Konstanz 2002, S. 74–104

Liebers, N.: Romantische parasoziale Interaktionen und Beziehungen mit Mediencharakteren. Ein theoretischer und empirischer Beitrag. Baden-Baden 2021

Mikos, L.: Parasoziale Interaktion und indirekte Adressierung. In: P. Vorderer (Hrsg.): Fernsehen als „Beziehungskiste“. Parasoziale Beziehungen und Interaktionen mit TV-Personen. Opladen 1996, S. 97–106

Rojek, C.: Presumed Intimacy. Para- Social Relationships in Media, Society and Celebrity Culture. Cambridge/Malden 2016

Steinen, L. von den: Transmediales Erzählen in der Jugendserie DRUCK. Rezeption und Wahrnehmung des Charakters David auf Instagram. Masterarbeit im Studiengang Medienwissenschaft der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF (Potsdam) 2022

Töpper, C.: Mediale Affektökonomie. Emotionen im Reality TV und deren Kommentierung auf Facebook. Bielefeld 2021

Turner, G.: Understanding Celebrity. Los Angeles u. a. 20142

Weingart, B.: Star Studies. In: B. Groß/T. Morsch (Hrsg.): Handbuch Filmtheorie. Wiesbaden 2021, S. 589–609