Pornografie und sexuelle Selbstbestimmung
Wertvorstellungen und Tabus im Hinblick auf den Umgang mit Sexualität und Geschlechterrollen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten stark gewandelt. Homosexualität und Transsexualität gelten nicht mehr als kriminell und als Geisteskrankheiten; Sexismus ist zwar immer noch eine alltägliche Erfahrung, genießt aber nicht mehr die uneingeschränkte Akzeptanz wie vor 30 Jahren. An die Stelle der patriarchalen, heteronormativen christlichen Sexualmoral ist die sexuelle Selbstbestimmung als Grundwert getreten. Aber was bedeutet das, und wie spiegelt sich diese Vorstellung im Pornografie‑ und im Sexualstrafrecht?
Was verstehen Sie unter sexueller Selbstbestimmung, was umfasst dieser Begriff?
Im Recht wird sexuelle Selbstbestimmung üblicherweise definiert als Freiheit, selbst entscheiden zu können, ob, wann, wie und mit wem man sexuelle Kontakte eingeht. Diese Definition greift jedoch in vielen Bereichen zu kurz. Denn sie ist orientiert an erwachsenen, mündigen Personen. Die besondere Situation von Minderjährigen oder auch von Menschen mit geistigen Behinderungen bedarf jedoch einer genaueren Betrachtung. So geht es bei Minderjährigen rechtlich auch um die Sicherung der Bedingungen des Wachsens in die sexuelle Selbstbestimmung, etwa als Recht auf sexuelle Bildung. Es stellt sich zudem die Frage, was sexueller Missbrauch ist und wo die Grenze verläuft zu einer altersgemäßen Sexualität, was rechtlich zu akzeptieren ist und was nicht. Menschen mit geistigen und körperlichen Beeinträchtigungen können besondere Bedarfe hinsichtlich der Ermöglichung von Sexualität und des Schutzes vor sexuellen Übergriffen haben, die rechtlich reflektiert werden müssen.
Welche Rolle spielt der Grundwert der sexuellen Selbstbestimmung im gegenwärtigen Sexualstrafrecht?
Die sexuelle Selbstbestimmung ist das wichtigste Kriterium, um zu bestimmen, ob ein Verhalten strafwürdig ist bzw. ob es überhaupt Rechte verletzt. Bis zum Vierten Gesetz zur Reform des Strafrechts (4. StrRG) im Jahr 1973 war das Ziel strafrechtlichen Schutzes bei den Sexualdelikten die Sittlichkeit, d. h. die herrschende Sexualmoral, die auf die Begrenzung sexuellen Verhaltens auf die Ehe gerichtet war, wobei die Ehefrau den sexuellen Bedürfnissen des Mannes gerecht werden musste. Das erklärt auch das Verbot männlicher homosexueller Handlungen, denn diese verstießen gegen die heteronormative Sexualmoral. Seit dem 4. StrRG ist ausdrücklich die sexuelle Selbstbestimmung Ziel strafrechtlichen Schutzes. An diesem Kriterium müssen sich alle Straftatbestände letztlich messen lassen. Es ist immer die Frage zu stellen, ob die Norm moralisiert, also lediglich eine bestimmte sexualmoralische Ansicht schützt, oder ob die Norm sexuelle Selbstbestimmung schützt. Sexuelle Handlungen Erwachsener dürfen dann, unabhängig von der sexuellen Orientierung, grundsätzlich nicht verboten werden, wenn sie konsensual erfolgen.
Bezogen auf die Definition von Pornografie scheint das Konzept von Sittlichkeit aber auch heute noch eine Rolle zu spielen. Man ändert einen Schutzzweck in einem so sensiblen Bereich wie dem der Sexualität vermutlich auch nicht von heute auf morgen, da geht es ja auch um einen gesellschaftlichen Wandel, der sich sehr langsam vollzieht, über Jahrzehnte, und zudem auch um individuelle Vorstellungen bzw. um die Vorstellungen gesellschaftlicher Gruppen, die teilweise weit auseinanderliegen.
Sicher. Das Recht ist Spiegel einer gesellschaftlichen Entwicklung. Bestimmte Auffassungen haben sich rechtspolitisch durchgesetzt, wobei gegensätzliche Wertvorstellungen in der Gesellschaft durchaus fortbestehen. Rechtliche Regelungen, auch strafrechtliche, werden der Verfassung aber nur gerecht, wenn sie der Gewährleistung des Persönlichkeitsrechts in seiner Ausprägung als Recht auf sexuelle Selbstbestimmung dienen.
In welchen Bereichen des Rechts sehen Sie Reformbedarf, wo ist der Schutzzweck der sexuellen Selbstbestimmung noch nicht verwirklicht?
Es gibt einige Normen im Sexualstrafrecht, bei denen sich die Frage stellt, ob sie moralisierend sind, das Verbot des männlichen Exhibitionismus beispielsweise oder das Verbot der Erregung eines öffentlichen Ärgernisses. Teilweise geht es hier tatsächlich um den Schutz vor dem unzumutbaren Aufdrängen von Sexualität, das wird in diesen Normen aber nicht deutlich. Reformbedarf sehe ich bei nicht‑körperlichen sexuellen Belästigungen, die meiner Ansicht nach strafbar sein sollten, wenn eine gewisse Erheblichkeitsschwelle erreicht ist. Darunter kann das sogenannte „Catcalling“ fallen.
Außerdem bedarf es einer grundlegenden Reform der Pornografiedelikte.
Insbesondere müssen Schutzlücken bei der sogenannten bildbasierten sexuellen Gewalt geschlossen werden. Wir haben einen sehr guten rechtlichen Schutz vor realer Kinder‑ und Jugendpornografie. Es gibt einen umfassenden rechtlichen Schutz gegen das Herstellen, den Besitz, den Abruf und das Teilen von Inhalten, die sexualisierte Posen Minderjähriger, nackte Genitalien oder das nackte Gesäß Minderjähriger auf eine sexualisierte Weise oder sexuelle Handlungen von, an oder mit Minderjährigen wiedergeben. Erwachsene indes sind gegen das Herstellen, Besitzen, Abrufen oder Teilen von Bildaufnahmen, die sie sexualbezogen wiedergeben, rechtlich nur punktuell geschützt, wenn es an ihrer wirksamen Einwilligung fehlt. Beispiele sind Revenge Porn oder reale Gewaltpornografie. In diesem Bereich wäre ein Schutzniveau wie bei realer Kinder‑ und Jugendpornografie wünschenswert.
Der Gedanke, dass im Zirkulieren des entsprechenden Bildmaterials auch eine Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung liegt, ist demnach im Recht nur unzureichend verankert? Die entsprechenden medialen Entwicklungen, die dieses Problem erst haben entstehen lassen, sind ja noch relativ neu …
Bei der Kinder‑ und Jugendpornografie gibt es einen umfassenden Schutz vor realen Inhalten, das wird aber meist nicht mit den Rechten derjenigen begründet, die in den Bildern wiedergegeben werden, sondern mit dem Schutz vor zukünftigen Gefahren. Es soll verhindert werden, dass in der Nachahmung solcher Inhalte weitere Kinder missbraucht werden oder dass eine Nachfrage nach neuem Material entsteht, wofür dann wieder Kinder missbraucht werden müssten. Ich denke, dass die schwerwiegendste Rechtsverletzung bezüglich der Zirkulation solcher Bilder darin liegt, dass die Rechte der wiedergegebenen Person verletzt werden, über den sexuellen Missbrauch hinaus, der da möglicherweise gezeigt wird. Genauer wird das Persönlichkeitsrecht der Minderjährigen als Recht am eigenen Bild und als Recht auf Wachsen in die sexuelle Selbstbestimmung bei Kindern und Jugendlichen verletzt. Auch erwachsene Personen, von denen ohne ihre Einwilligung Bildaufnahmen hergestellt oder auf irgendeine Weise genutzt werden, die sie sexualbezogen wiedergeben, werden in ihrem Recht am eigenen Bild in Verbindung mit dem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung verletzt. Jede Person sollte selbst darüber entscheiden können, welche sexualbezogenen Inhalte von ihr hergestellt und genutzt werden. Kinder können gar nicht wirksam in die Herstellung und Nutzung solcher Inhalte einwilligen, Jugendliche nur ganz begrenzt. Eine offene Frage ist z. B., wie erlaubtes Sexting bei Jugendlichen zu bewerten ist. Erwachsene haben diese Entscheidungsbefugnis, aber ihre Entscheidungen müssen auch respektiert werden. Das ist der Kern meiner Überlegungen zur bildbasierten sexuellen Gewalt.
Bildbasierte sexuelle Gewalt ist demnach ein Beispiel dafür, wie im Sexualstrafrecht eher auf Inhalte, die man verbieten möchte, fokussiert wird als auf die sexuelle Selbstbestimmung derer, die dargestellt werden?
Fokussiert wird im Sexualstrafrecht die Wahrnehmung von Inhalten – wie mögen verbotene Inhalte auf die Betrachtenden wirken? Welche Gefahren resultieren daraus, für Minderjährige oder für die sexuelle Aggressivität Erwachsener bei Gewaltpornografie? Das ist ein wichtiges Thema, aber was man nicht übersehen sollte, das sind die Rechte der Personen, die dargestellt werden. Im Zeitalter der Digitalisierung wird dieses Problem besonders dringend. Denn Bildaufnahmen können sehr leicht hergestellt und sehr leicht verbreitet werden. Wenn sie einmal im Internet hochgeladen worden sind, werden sie daraus vermutlich nie wieder vollständig verschwinden. Dadurch haben die Bilder auch ein viel höheres Verletzungspotenzial.
Aus der empirischen Forschung zu realer Kinderpornografie wissen wir, dass das Bewusstsein, dass diese Inhalte jederzeit im Netz für Dritte verfügbar sind, für Betroffene sehr belastend ist und als Perpetuierung des sexuellen Missbrauchs erlebt wird. Neben dem sexuellen Missbrauch haben die Bilder also eine eigene Verletzungsdimension.
Inwiefern ist der Pornografiebegriff des Strafrechts reformbedürftig?
Er ist unbestimmt, moralisierend und letztlich nicht geeignet, um zu beschreiben, was rechtlich an sexuell expliziten und sexualbezogenen Inhalten und an den diesbezüglichen Verhaltensweisen problematisch sein kann. Rechtlich müsste in diesem Bereich differenzierter gedacht werden:
Der erste Problembereich ist die bildbasierte sexuelle Gewalt, d. h. das unbefugte Herstellen und Nutzen von Inhalten, die eine andere Person sexualbezogen wiedergeben. Das betrifft reale Kinder‑ und Jugendpornografie, reale Gewaltpornografie, aber auch Revenge Porn, Upskirting etc. Hier würde ich eher von sexualbezogenen Inhalten sprechen, die unbefugt hergestellt und genutzt werden. Das müsste man dann weiter spezifizieren, z. B. Inhalte, die sexuelle Handlungen an, mit oder vor Kindern zeigen. In diesen Fällen liegt eine schwerwiegende Verletzung des Persönlichkeitsrechts als Verletzung des Rechts am eigenen Bild in Verbindung mit dem Recht auf Wachsen in die sexuelle Selbstbestimmung vor.
Der zweite Themenbereich betrifft gefährliche Wirkungen auf die Konsument*innen: beispielsweise gefährliche Wirkungen auf Minderjährige durch den Konsum sexuell expliziter Inhalte oder auch durch Inhalte, die Sexualität in Verbindung mit Gewalt zeigen. Diesbezüglich erscheint mir der Begriff der sexuell expliziten Inhalte geeigneter als der der Pornografie.
Der dritte Themenbereich ist sexuelle Belästigung. Diese kann auch durch das Zusenden von sexualbezogenen Inhalten erfolgen, Penisbilder z. B., die unverlangt zugesendet werden, oder die ungewollte Konfrontation mit einem sexuell expliziten Film, der einer Person einfach aufs Handy gespielt wird. Weil sexuelle Belästigung nicht an eine bestimmte Form gebunden ist – sie kann ja auch durch körperliche Berührungen, verbale Äußerungen oder das Vorführen sexueller Handlungen erfolgen –, ist auch hier die Verwendung des Pornografiebegriffs nicht sinnvoll. Hier sollte eine Regelung gefunden werden, die alle Formen sexueller Belästigung erfasst.
Im vierten Themenbereich geht es um Ausbeutung bei der Herstellung von Pornografie. Das muss zusammen mit der Regulierung von Prostitution diskutiert werden. Ab wann ist das Erbringen sexueller Dienstleistungen ausbeuterisch – und wie ist das angemessen unter Strafe zu stellen?
Der Pornografiebegriff im gegenwärtigen Sexualstrafrecht bündelt diese vier unterschiedlichen Themenbereiche nur sehr unzureichend. Zu seinen Merkmalen zählt insbesondere nicht die Verletzung des Persönlichkeitsrechts einer wiedergegebenen Person. Es ist sinnvoller, sich an diesen vier Schutzzielen zu orientieren – Schutz vor bildbasierter sexueller Gewalt, Schutz vor gefährlichen Wirkungen auf die Konsument*innen, Schutz vor sexueller Belästigung, Schutz vor Ausbeutung bei der Erbringung sexueller Dienstleistungen – und sich für jedes einzelne Schutzziel zu überlegen, welche Inhalte betrifft das und wie lassen sich die genau bezeichnen.
Der Jugendmedienschutz‑Staatsvertrag (JMStV) schreibt Pornografie als offensichtlich schwer jugendgefährdend fest. Worin liegt Ihrer Ansicht nach das Gefährdungspotenzial pornografischer Darstellungen für Kinder und Jugendliche?
Das muss konkret diskutiert werden im Hinblick auf die Frage, was eine altersangemessene Sexualität ist. Kinder unter 14 Jahren dürfen auf gar keinen Fall ungewollt mit sexuell expliziten Inhalten konfrontiert werden, sie sollten ihnen auch nicht zugänglich sein. Bei Jugendlichen sieht das eventuell schon anders aus. Sexualität ist eine Entwicklungsaufgabe, die Jugendliche ganz unterschiedlich für sich gestalten. Sich ein Bild davon zu machen, wie Sexualität funktioniert, kann dazugehören. Welche Bilder von Sexualität Jugendlichen zugänglich gemacht werden könnten, müsste man konkret diskutieren. Ein Vorschlag wäre z. B., eine andere Schutzaltersgrenze einzuführen. Jugendlichen ab 16 Jahren könnte man die Möglichkeit einräumen, sich sexuell explizite Inhalte anzuschauen, die selbstbestimmte, konsensuale Sexualität zeigen, Inhalte, die nicht geschlechterstereotyp und nicht diskriminierend sind. Da müssten inhaltliche Kriterien und ihre Anwendung auf Inhalte diskutiert werden. Daneben bedürfte es allerdings eines absoluten Konfrontationsverbots zugunsten der Jugendlichen, denn es ist ein großer Unterschied, ob eine Person sich solche Inhalte selbst sucht oder ob sie ihr ungebeten präsentiert werden. Aus der Nutzungsforschung wissen wir aber, dass Jugendliche, insbesondere männliche, durchaus sexuell explizite Inhalte suchen. Zum Zweck der Erregung, aber auch deshalb, weil sie etwas über Sexualität erfahren wollen. Und mit diesem Wissensbedürfnis muss umgegangen werden.
Pornografie vermittelt ein sehr spezielles Bild von Sexualität, meist vollständig entkoppelt von emotionalen Bezügen, von Beziehungen. Die pornografische Fantasie zielt darauf, dass Sex ohne die zwischenmenschliche Ebene möglich und geil ist. Das muss man erst einmal als sexuelle Fantasie identifizieren können, die wenig mit der Realität gelebter Sexualität gemein hat. Für jemanden, der noch kaum sexuelle Erfahrungen mit anderen Menschen sammeln konnte, ist das eventuell schwierig.
Aus der empirischen Forschung ist bekannt, dass Jugendliche diese Unterscheidung auf einer bewussten Ebene durchaus treffen, sie wissen: Die Welt der Pornografie ist fiktiv, die reale Welt der Sexualität ist ganz anders. Das heißt allerdings nicht, dass die pornografische Fantasie nicht trotzdem unterbewusst wirken kann. Wenn sexuell explizite Inhalte begrenzt für Jugendliche ab 16 Jahren freigegeben werden, braucht es, wie gesagt, eine inhaltliche Bewertung, eine bewusste Entscheidung darüber, welche Art von Inhalten zugänglich gemacht werden dürfen.
Eine allgemeine Freigabe von sexuell expliziten Inhalten würde ich nicht befürworten.
Zwingend zu ergänzen sind diese Überlegungen mit einem Recht auf sexuelle Bildung. Das bedeutet, dass Medien‑ und auch Pornografiekompetenzen gefördert werden müssen. Jugendliche müssen in die Lage versetzt werden, sexuell explizite Inhalte kompetent einzuschätzen, etwa im Hinblick auf die Gefahren bei ihrer Nutzung. Sie sollten zudem die rechtlichen Grenzen kennen, auch beim Sexting. Sie sollten wissen, dass man keine Inhalte, die andere darstellen, ohne Einwilligung herstellt und teilt.