Serien im Niemandsland

Das Stammpublikum von ARD und ZDF wird zu Zuschauern zweiter Klasse

Tilmann P. Gangloff

Tilmann P. Gangloff ist freiberuflicher Medienfachjournalist.

„Digital first. Bedenken second“ lautete eine Parole, mit der die FDP 2017 Wahlkampf gemacht hat. Zumindest den ersten Teil des Slogans hat sich auch die ARD zu eigen gemacht, als sie 2020 mit ihrer Serienoffensive nicht weniger als einen „Paradigmenwechsel“ ausrief, wie der ARD-Fiction-Koordinator Jörg Schönenborn (WDR) das damals nannte: „Online first“ (vgl. dpa 2020). In Anlehnung an die FDP-Devise ließe sich ergänzen: „Senioren second“. Viele neue Serien strahlt das Erste nach dem Start in der Mediathek zwar auch linear aus, aber oft zu nachtschlafender Zeit. Medienwissenschaftler Gerd Hallenberger bezeichnet das als „Altersdiskriminierung“.

Online seit 14.12.2023: https://mediendiskurs.online/beitrag/serien-im-niemandsland-beitrag-772/

 

 

Die Serie 37 Sekunden ist eine potenziell preiswürdige Produktion über eine junge Musikerin, die ihren Mentor wegen Vergewaltigung anzeigt; sie wurde im August erst ab 22:50 Uhr ausgestrahlt. Die nettesten Menschen der Welt, eine originelle Mystery-Anthologie von Grimme-Preisträger Alexander Adolph, lief im Juli sonntags gar erst ab 0:05 Uhr, zu einer Zeit also, da die meisten Menschen hierzulande längst im Bett sind. Gerd Hallenberger betrachtet das als „reine Alibi-Ausstrahlung. Das ist wie das Verklappen von Giftmüll auf hoher See, wo es niemanden stört, weil es keiner mitbekommt. Vermutlich dachte man sich bei der ARD, so etwas wie die Mysteryserie interessiert den älteren Teil des Publikums sowieso nicht, was natürlich eine Frechheit ist. Wer heute über 60 ist, hat seine Jugend in den 70ern verbracht, aber die ARD hat offenbar noch ein Altenbild aus den 50ern vor Augen. Für mich sind solche Sendetermine altersdiskriminierend.“
 

Gezielt für die Mediathek

Eine Sprecherin der ARD-Programmdirektion rechtfertigt die späten Sendezeiten mit dem Hinweis, diese Serien seien gezielt für die Mediathek produziert worden. Sie richteten sich „vornehmlich an eine jüngere Zielgruppe, die wir dort ansprechen wollen“, schließlich werde mit der Mediathek nachweislich ein anderes Publikum als mit dem linearen Fernsehen erreicht:

Deshalb setzten wir auch unterschiedliche Schwerpunkte in der Programmplanung für die beiden Ausspielwege. Die Angebote in der Mediathek sind zielgruppenspezifischer und diverser als die im Vollprogramm des Ersten.“

Den 37-Sekunden-Sendeplatz um 22:50 Uhr an einem Dienstag bezeichnet die Sprecherin als „prominent“. Im Ersten liefen jeweils drei Folgen; die Sehbeteiligung sank am ersten Abend von gut 0,9 auf knapp 0,4 Mio. und am zweiten von knapp 0,5 auf knapp 0,3 Mio. In der Mediathek ist die Serie drei Millionen Mal aufgerufen worden (Stand für alle Abrufzahlen: Mitte November).

Die sechs Folgen von Die nettesten Menschen der Welt waren weitaus weniger gefragt (650 000 Aufrufe). Die TV-Ausstrahlung startete um 0:05 Uhr mit 0,4 Mio. und endete gegen 2:00 Uhr mit 140 000 Zuschauern. Kaum besser erging es Mitte Oktober Axel Ranischs verblüffend facettenreicher Serie Nackt über Berlin, in der zwei Jungs ihren Rektor entführen. Das Erste begann mit der Ausstrahlung am 13. Oktober um 22:20 Uhr; die letzte der sechs Folgen, die im Schnitt etwas mehr als 230 000 Zuschauer erreichten, endete um 2:50 Uhr. Immerhin hatte ARTE die Serie am Tag zuvor bereits ab 20:15 Uhr gezeigt (90 000 Zuschauer).

Die Entscheidung der ARD, Nackt über Berlin nicht zur sogenannten Primetime auszustrahlen, ist allerdings nachvollziehbar: Wenn der jugendliche Held in eine Traumwelt abdriftet, verwandelt sich die Inszenierung in ein Bühnenstück, in dem der schwule junge Mann allerlei nicht immer jugendfreie Abenteuer erlebt. In den Mediatheken von ARD und ARTE hatte die Serie 380 000 beziehungsweise 200 000 Abrufe. Hallenberger kritisiert neben der späten Sendezeit jedoch auch die von den Sendern als Binge-Watching beworbene En-bloc-Ausstrahlung: „Wenn sämtliche Episoden am Stück ausgestrahlt werden, hat eine Serie eine viel kleinere Chance, wahrgenommen zu werden. Würde sie auf mehrere Abende verteilt, könnten Zufallseinschalter auf den Geschmack kommen und die verpassten Folgen in der Mediathek aufrufen. Je unüberschaubarer das Gesamtangebot an Bewegtbildern ist, umso wichtiger wird die Wahrnehmbarkeit.“
 

„Umgekehrt zum klassischen Fernsehen“

Laut ARD sind 65 % der Mediatheknutzer jünger als 60 Jahre. Damit sei das Verhältnis „fast genau umgekehrt zum klassischen Fernsehen“, sagt die Sprecherin der Programmdirektion. Aus Sicht des Senderverbunds ist die „Online first“-Strategie ohnehin ein Erfolg. Als Beleg dient vor allem Asbest. In der Knastserie von Kida Khodr Ramadan landet ein talentierter Kicker nicht bei den Profis, sondern im Gefängnis. Linear wurde Asbest beim ARD-Digitalsender ONE versendet, aber in der Mediathek hatte die Serie laut ARD über 9,2 Mio. Streamviews. Mit dem Format sei es gelungen, „ganz neue Nutzergruppen für die Mediathek zu begeistern und Menschen anzusprechen, die wir sonst nur sehr schwer erreichen, vor allem das junge eher männliche migrantische Milieu, dessen Mitglieder nicht klassischerweise die ARD nutzen“. Die Serie sei zudem überdurchschnittlich oft auf anderen Geräten genutzt worden: „Wir hatten deutlich mehr Abrufe über Spielekonsolen und Smartphones als üblich.“ Auch die Comedyserie Almania sei mit 5,4 Mio. Streamviews sehr erfolgreich gewesen.
 

Trailer Asbest (ARD, 20.01.2023)



„Streamview“ ist ein Begriff der Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung; Synonyme sind „Videoabruf“, „Videoaufruf“ oder „Sichtung“. Gemessen wird allein der technische Aufruf eines Videos, es gibt also keine Mindestnutzungsdauer. Bei Serien liegt die durchschnittliche Verweildauer eines Abrufs laut ARD-Mediaforschung bei circa 60 % der Länge des jeweiligen Inhalts: „ein sehr guter Wert“. Lediglich bei der ersten Folge sei sie etwas geringer: „Hier probieren die Nutzer noch aus, ob ihnen ein Format zusagt.“ Insgesamt erreiche die ARD-Mediathek täglich 2,2 Mio. Menschen und verzeichne somit die größte Reichweite unter den Streamingportalen der deutschen Fernsehsender.

Kein Wunder, dass ARD-Programmdirektorin Christine Strobl die Strategie „Online first“ verteidigt:

Um mit unseren Inhalten wieder alle Menschen zu erreichen, brauchen wir eine starke ARD-Mediathek mit einem eigenständigen Programmangebot. Relevante und hochwertige Serien tragen ganz wesentlich zum Erfolg der Mediathek bei.“

Erfolge wie Asbest zeigten, „dass es sich lohnt, neue Wege einzuschlagen und mehr Vielfalt zu wagen“. „Online first“ sei außerdem keineswegs seniorenfeindlich: „Unsere Programmreform betrifft das klassische Fernsehen genauso wie die Mediathek, beides ist uns sehr wichtig. Wenn wir Programm in die Mediathek einstellen, bevor wir es im Fernsehen zeigen, so entsteht daraus für die Fernsehzuschauerinnen und -zuschauer keinerlei Nachteil, im Gegenteil, es eröffnet ihnen eine zusätzliche Möglichkeit, diese Filme und Serien schon früher anzuschauen.“ ZDF-Programmdirektorin Nadine Bilke argumentiert ähnlich: „Um unseren Auftrag zu erfüllen, müssen wir die Menschen dort ansprechen, wo sie unsere Inhalte suchen.“ Auch das ZDF verfolge daher die Strategie, „für Jüngere zunehmend fiktionale Inhalte mit Blick auf die ZDF-Mediathek und eine lineare Ausspielung bei ZDFneo herzustellen, denn in der Kombination der Ausspielwege können möglichst viele Menschen in Deutschland erreicht werden“. Auch der ältere Teil des Publikums nutze zunehmend die Möglichkeit, Sendungen zeitversetzt anzuschauen.
 

Eine Woche warten

Allerdings gibt es durchaus Menschen, die Mediatheken nur aus den entsprechenden Hinweisen im laufenden Programm kennen, wenn etwa beim Start einer neuen Serie mitgeteilt wird, dass sie bereits komplett in der Mediathek abrufbar sei. Teile des Publikums fühlen sich dann womöglich wie Zuschauer zweiter Klasse: Alle anderen können weiterschauen, sie müssen eine Woche auf die nächste Folge warten. Moderne Fernseher bieten zwar die Möglichkeit, mit einem Knopfdruck in die Mediathek zu wechseln, aber die Geräte sind längst nicht in jedem Haushalt mit dem Internet verbunden. Hallenberger moniert zudem:

Wer nicht haargenau weiß, was er sucht, wird es in der ARD-Mediathek nicht finden, denn wenn man bloß durch die verschiedenen Rubriken wandert, wird es schnell komplett unübersichtlich.“

Als größtes Manko betrachtet der Medienwissenschaftler das Fehlen einer Suchfunktion innerhalb der einzelnen Rubriken: „Die gibt es nur auf der Startseite. Deshalb kann das Suchergebnis je nach Begriff verwirrend umfangreich sein, zumal ganze Sendungen und einzelne Segmente kunterbunt durcheinander präsentiert werden.“ Es sei keineswegs eine Frage des Alters, davon recht bald überfordert und ermüdet zu sein: „Hier findet sich nur zurecht, wer regelmäßig durch die Mediatheken navigiert. Alle anderen dürften rasch die Lust verlieren. Das ist genauso wie bei den TV-Sendern: Wer nicht weiß, dass der Sender auf Kanal 878 ein tolles Programm bietet, wird ihn höchstwahrscheinlich nie entdecken.“

Andererseits könnten es sich ARD und ZDF natürlich nicht leisten, ganze Altersgruppen aus den Augen zu verlieren, sagt Marcus S. Kleiner, Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der SRH Berlin University of Applied Sciences: „Alle Medienunternehmen müssen auf den Medienwandel reagieren und diesen nach Möglichkeit mitgestalten. Der Fokus sollte dabei immer auf den Bedürfnissen des Publikums liegen. Dieses Publikum ist aber nicht homogen, es besteht im Gegenteil aus vielen Publika, für die Senderbindung und Sendertreue heute die Ausnahme und permanenter Sender- und Medienwechsel die Regel ist.“ Für ältere Menschen gelte das allerdings oft nicht. Kleiner hat zwar Verständnis dafür, dass ARD und ZDF ihr Streamingangebot ausbauen, warnt aber auch davor, das Stammpublikum dabei aus dem Blick zu verlieren:

Sonst entsteht eine öffentlich-rechtliche Zweiklassengesellschaft, die vor allem dem älteren Publikum schadet.“

ARD-Programmdirektorin Strobl widerspricht: „Es geht darum, der ganzen Bevölkerung in Deutschland ein attraktives Angebot und relevante Informationen zu bieten. Viele Deutsche nutzen inzwischen überwiegend Streamingdienste. Wir müssen da sein, wo sich unsere Nutzerinnen und Nutzer aufhalten. Es muss unser Anspruch sein, unsere Inhalte und unsere journalistische Kompetenz so umzusetzen, dass wir relevant sind und bleiben.“ Bilke vom ZDF versichert ergänzend, man habe dennoch nicht vor, mit Streamingdiensten wie Netflix zu konkurrieren: „Als öffentlich-rechtlicher Sender haben wir einen ganz anderen Auftrag. Wir informieren, bilden und unterhalten.“
 

„Ab Taste zehn beginnt das Niemandsland“

Anders als der ARD-Zweitverwertungskanal ONE, den weite Teile des Publikums vermutlich nicht mal dem Namen nach kennen, hat sich die ZDF-Tochter ZDFneo seit der Gründung im Jahr 2009 nicht zuletzt dank diverser Auszeichnungen ein junges Image und eine gewisse Bekanntheit erworben. Zwar gilt auch in Mainz bei neuen Serien die Devise „Online first“, aber dank ZDFneo werden sie bei der TV-Ausstrahlung oft bereits um 20:15 Uhr gezeigt. Hallenberger lässt das jedoch nicht gelten: „Die Fernsehgewohnheiten vieler Menschen orientieren sich nach wie vor am ‚Relevant Set‘. Fernbedienungen haben in der Regel Tasten für die Programmplätze eins bis neun. Ab zehn beginnt das Niemandsland. Neo dürfte nur in den allerwenigsten Haushalten einen der ersten Plätze belegen.“ Tatsächlich hatte der im Juni in Doppelfolgen ab 20:15 Uhr ausgestrahlte sechsteilige Psychothriller Der Schatten, mit 4,3 Mio Abrufen ein großer Mediathekerfolg, bei ZDFneo im Schnitt nur gut 180 000 Zuschauer (Marktanteil: 0,8 %). Selbst bei der ZDF-Wiederholung an einem Augustdonnerstag um 23:20 Uhr waren es mehr (320 000 / 6,3 %).

Die kurzweilige sechsteilige Comedyserie Ready.Daddy.Go über einen schwulen Single, der unbedingt Vater werden will, war bei ZDFneo (0,39 Mio. / 1,9 %) hingegen erfolgreicher als in der Mediathek (im Schnitt 157 000 Abrufe pro Folge), und das, obwohl sie erst ab 21:45 Uhr gezeigt wurde. Zu noch späterer Sendezeit (23:15 Uhr) lief die sechsteilige Serie Aufgestaut mit Wayne Carpendale und Daniel Donskoy über die Wut von Autofahrern, die im Stau stehen, weil „Klimakleber“ die Straße blockieren (270 000 Zuschauer bei ZDFneo, im Schnitt 121 000 Abrufe pro Folge in der Mediathek). Dass die ziemlich gruselige Horrorserie Was wir fürchten (im Schnitt 80 000 Zuschauer pro Folge) erst um 22:20 Uhr gestartet ist, geschah allerdings aus Gründen des Jugendschutzes. Das erklärt vielleicht auch, warum die Mediathekzahlen mit im Schnitt 60 000 Abrufen pro Folge relativ überschaubar sind: Die Serie ist nicht ohne Weiteres rund um die Uhr abrufbar.

Die linearen Sendeplätze, erläutert Florian Kumb, Leiter der ZDF-Hauptabteilung Programmplanung, „werden formatspezifisch festgelegt“. Dennoch ist ihm wichtig zu betonen, dass junge Serien durchaus auch bei ZDFneo reüssieren könnten. Als Beleg dient die zweite Staffel von Doppelhaushälfte (bis zu 0,64 Mio., Marktanteil: 2,7 %).
 

Trailer Doppelhaushälfte – Staffel 2 der Comedyserie (ZDFneo, 21.04.2023)



In der Mediathek verzeichneten die acht Episoden der Comedyserie bis Mitte November im Schnitt knapp 420 000 Zuschauer. ZDFneo hatte 2022 laut ZDF einen Markanteil von 2,6 % und zählte damit zu den zehn erfolgreichsten deutschen TV-Programmen; diese Rechnung geht aber nur auf, wenn die Marktanteile der Dritten Programme kumuliert werden. Insgesamt hat die ZDF-Mediathek laut Kumb rund zwei Millionen tägliche Nutzer, davon seien 68 % unter 60 Jahre: „Mit Blick auf die Online-Vorabeinstellung zeigt sich unserer Erfahrung nach eine eindeutig positive Wirkung auf die Gesamtnutzung.“
 

Und die Privatsender?

Dies entspricht auch der Vorgehensweise der Privatsender, deren lineares Publikum ebenfalls immer älter wird. Während man im TV in der Zielgruppe 14 bis 59 Jahre wachsen wolle, sei das streamende Publikum auf RTL+ jünger, erklärt ein RTL-Sprecher:

Deshalb sind wir weitestgehend komplementär aufgestellt.“

RTL+ biete „sehr junge Dating-Reality“ (darunter Temptation Island, Ex on the Beach, Princess Charming oder das neue Erotik-Reality-Format Stranger Sins) und erreiche damit „eine große, junge Fanbase. Im linearen TV würden wir diese Programme am Publikum vorbei senden“. Andere Reality-Formate wie Der Bachelor oder Die Bachelorette liefen auf RTL+ ebenfalls erfolgreicher als bei RTL. Im linearen Programm werde man vermehrt auf Krimireihen setzen und den Tödlichen Dienst-Tag ausbauen. Beim größtenteils kostenpflichtigen RTL+ wolle man dagegen „mit aus der Masse herausstechenden Must-see-Inhalten punkten, die mit einer auffälligen Prämisse oder ganz besonderen Schauwerten, vor allem aber immer mit einem besonderen Unterhaltungsversprechen daherkommen“. Auch Serien wie Der König von Palma und Sisi (jeweils zwei Staffeln) seien bei RTL+ signifikant erfolgreicher gewesen als bei der TV-Ausstrahlung. Konkrete Abrufzahlen nennt RTL nicht.

Natürlich buhlen sämtliche Onlinedienste um das gesamte Publikum, aber ähnlich wie im Sport gibt es mehrere Ligen. Größter Konkurrent für RTL+ ist vermutlich nicht Netflix oder Prime Video, beide derzeit uneinholbar enteilt, sondern Joyn. Der Streaminganbieter von ProSiebenSat.1 soll laut Geschäftsführer Tassilo Raesig „die Entertainment- und Lifestylemarke Nummer eins für die ganze Familie werden: für Kinder, die Gen Z, Erwachsene und Best Ager“, und noch dazu „komplett kostenlos“ (das Zusatzangebot Joyn Plus+ ist dagegen kostenpflichtig). Dabei werde nicht nur auf ein klassisches Mediathekenangebot gesetzt: Joyn biete auch einen großen Live-TV-Bereich mit über 65 Sendern; beide Nutzungsarten erfreuten sich großer Beliebtheit. In den kommenden Monaten könnten sich die Nutzer auf Markenverlängerungen bekannter TV-Formate freuen (Quiz Taxi – Joyn Edition, The Voice Rap). Darüber hinaus werde es deutlich mehr eigene Reality-Formate sowie weitere Nachrichten- und Sportangebote geben.

Die Eigenproduktionen müssten in erster Linie für die Joyn-Nutzer attraktiv sein, meint Raesig. Würden sie dann auch noch linear überzeugen, wäre das ein willkommener Bonus, der aber nicht über Erfolg oder Misserfolg eines Formats entscheide: „Wir wissen, dass die Nutzer und Nutzerinnen im Digitalen viel komplexere Ansprüche an Inhalte haben. Deshalb heben wir die Grenzen von linearem Fernsehen, Fernsehen auf Abruf und sogar Social Media auf, um ein vollständig integriertes und immersives Angebot zu schaffen.“ Auf diese Weise soll die Reichweite von Joyn („Video-Views, Sehdauer, Unique User“) in den nächsten zwei Jahren verdoppelt werden. Im zweiten Quartal 2023 hat das Angebot laut Raesig über 7,5 Mio. „Monthly Active User“ erreicht, Menschen also, die in den zurückliegenden 30 Tagen mindestens einmal aktiv auf Joyn waren. Mit Ausnahme der Comedyserie jerks. sind die erfolgreichsten Joyn-Formate allerdings bekannte Fernsehmarken: Germany’s Next Topmodel, Wer stiehlt mir die Show? und The Voice Kids.
 

Ausnahme: der Tatort

Die Funktion der Internetvideotheken hat sich also deutlich verändert. Früher boten sie die Möglichkeit, verpasste Sendungen nachzuholen. Das gilt natürlich immer noch, aber die Öffentlichkeitsarbeit gerade der ARD lässt die Mediathek vor allem als Premierenplatz erscheinen, was wiederum wie eine Abwertung der linearen Ausstrahlung wirkt. Allerdings gibt es eine prominente Ausnahme: Tatort und Polizeiruf 110 sind nicht vorab zu sehen. Es sei, erläutert die ARD-Sprecherin, „ein lieb gewordenes Ritual, sich den Sonntagskrimi im Fernsehen anzusehen und sich danach über das Gesehene auszutauschen. Mit dieser Tradition wollen wir durch eine Online-first-Platzierung derzeit nicht brechen.“ Die mit großem Abstand erfolgreichste Serie in der ARD-Mediathek ist übrigens Babylon Berlin: Die bisherigen 40 Folgen sind insgesamt 85 Mio. Mal abgerufen worden.
 

Anmerkung: Dieser Artikel erschien zuerst bei epd medien.

Quellen:

Die im Text verwendeten Einschaltquoten und Abrufzahlen stammen von den jeweiligen Sendern. Die Zitate stammen aus Interviews, die der Autor an jeweils mehreren Terminen im Oktober und im November mündlich und schriftlich mit den Gesprächspartner:innen geführt hat.

dpa: Mediathek. Online first: ARD verkündet „Paradigmenwechsel“. In: ZEIT ONLINE, 31.08.2020. Abrufbar unter: www.zeit.de (letzter Zugriff: 12.12.2023)