Sexueller Kindesmissbrauch als Thema in den Medien

Zwischen Voyeurismus, Hass und Aufklärung

Nicola Döring, Roberto Walter

Sexueller Missbrauch an Kindern findet meist durch vertraute Erwachsene statt. Zu lange wurde dieses Problem tabuisiert. Erst seit 2010 wird Missbrauch in der medialen Öffentlichkeit deutlich stärker in den Fokus und von der Politik viel ernster genommen. Der vorliegende Beitrag gibt einen Überblick über die Thematisierung des sexuellen Kindesmissbrauchs durch unterschiedliche Akteure in verschiedenen Medien. Dabei werden Chancen und Risiken anhand von Beispielen aufgezeigt.

Printausgabe mediendiskurs: 27. Jg., 1/2023 (Ausgabe 103), S. 38-43

Vollständiger Beitrag als:

Sexueller Kindesmissbrauch

Sexueller Kindesmissbrauch (kurz: SKM) liegt vor, wenn Minderjährige durch sexuelle Handlungen, denen sie nicht zustimmen oder nicht zustimmen können, viktimisiert werden (Fegert u. a. 2013; Stompe/Schanda 2017). SKM findet am häufigsten durch vertraute Erwachsene in Familien und Institutionen statt. Missbrauchstaten werden zudem durch Fremde sowie unter Gleichaltrigen begangen. Dabei hat SKM unterschiedliche Merkmale und Schweregrade: So gibt es einmalige, wiederholte oder gar jahrelange Übergriffe. Missbrauch kann mit und ohne direkten Körperkontakt (z. B. Onlinemissbrauch), mit und ohne Penetration, mit und ohne Produktion und Verbreitung von Missbrauchsbildern (sogenannter Kinderpornografie) stattfinden.

In einer bevölkerungsrepräsentativen Umfrage in Deutschland berichteten 13 % der Erwachsenen retrospektiv, als Kind sexuell missbraucht worden zu sein (Häuser u. a. 2011). Das ist das sogenannte Dunkelfeld. Nur ein kleiner Teil dieser Taten wird angezeigt und erscheint dann in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS), also im Hellfeld. Die PKS verzeichnet für das Jahr 2021 insgesamt 15.507 amtlich erfasste Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern, Jugendlichen und Schutzbefohlenen in Deutschland (BKA 2022, Zeile 51). Diese erfassten Missbrauchstaten wurden deutlich häufiger von Männern (94 %) als von Frauen (6 %) begangen (ebd.).
 

Sexueller Missbrauch — Wie erkenne ich Anzeichen von sexuellen Gewalterfahrungen bei Kindern? (UBSKM, 11.07.2022)



Sexueller Kindesmissbrauch in den Medien

Angesichts der Tatsache, dass die Mehrzahl der von sexuellem Kindesmissbrauch betroffenen Menschen Mädchen sind, die im familiären oder sonstigen sozialen Umfeld von Männern viktimisiert werden, ist es seit Dekaden ein Anliegen der Frauenbewegung, die Öffentlichkeit für sexuellen Kindesmissbrauch als eine Form der sexualisierten Gewalt zu sensibilisieren, etwa durch Beiträge in den Massenmedien, Bücher, Broschüren und Kampagnen. Diese Sensibilisierung ist jedoch nur eingeschränkt gelungen, denn die Öffentlichkeit zeigte sich teilweise desinteressiert und skeptisch (Weatherred 2015, S. 19).

SKM wurde erst dann als ernstes Problem sehr breit von Medien und Politik aufgegriffen, als systematischer sexueller Missbrauch in einer Vielzahl angesehener Institutionen wie Kirchen, Sportvereinen und Schulen bekannt wurde (ebd.). Dementsprechend kam es auch in Deutschland relativ spät, nämlich erst im Jahr 2010, zu einer echten Zäsur in der öffentlichen Debatte über sexuellen Kindesmissbrauch. Denn 2010 wurde jahrzehntelanger sexueller Kindesmissbrauch an Hunderten von Kindern und Jugendlichen, überwiegend Jungen, an mehreren prestigeträchtigen Schulen enthüllt (Behnisch/Rose 2011): Im Fokus standen das von Jesuiten geführte Canisius-Kolleg in Berlin (Berichterstattung zuerst durch die „Berliner Morgenpost“), das Internat der Benediktinerabtei Ettal (Berichterstattung zuerst durch die „Süddeutsche Zeitung“) sowie die reformpädagogisch orientierte Odenwaldschule in Ober-Hambach/Heppenheim (erste Berichterstattung bereits 1999, was jedoch medial ohne Resonanz blieb, und dann erneut 2010 mit einem großen medialen Echo, jeweils durch die „Frankfurter Rundschau“).

Die damalige Bundesregierung richtete als Reaktion auf diese als „Missbrauchsskandal“ etikettierten geballten Enthüllungen institutionellen sexuellen Missbrauchs noch 2010 den „Runden Tisch Sexueller Kindesmissbrauch“ ein sowie das Amt der/des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), das bis heute besteht (www.ubskm.de). Auch die 2016 eingerichtete „Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“ ist bis heute tätig (www.aufarbeitungskommission.de). Die Aufarbeitungskommission gibt allen von sexuellem Kindesmissbrauch in Institutionen, Familien und anderen Kontexten betroffenen Menschen die Möglichkeit, ihre Geschichte zu erzählen, damit diese dokumentiert wird und zur gesellschaftlichen Aufarbeitung beitragen kann. Die Websites von UBSKM und Aufarbeitungskommission bieten eine Fülle von Informationen – einschließlich wissenschaftlichen Studien – für die interessierte Öffentlichkeit. Es werden auch vielfältige Materialien für die Presse bereitgestellt, die eine fortlaufende und fundierte Medienberichterstattung über SKM fördern sollen.


Chancen der öffentlichen Kommunikation über SKM

Von einer verstärkten öffentlich-medialen Thematisierung des sexuellen Kindesmissbrauchs verspricht man sich – über die notwendige Information der Öffentlichkeit hinaus – diverse Chancen:

Stärkung der Betroffenen

Berichterstattung trägt zu einer Enttabuisierung bei, die es Betroffenen erleichtert, sich zu äußern, Hilfe und Unterstützung zu finden, was wiederum zu deren Empowerment beiträgt. Tatsächlich gibt es Belege dafür, dass Berichte in Massenmedien sowie auch auf Social-Media-Plattformen, in denen von Missbrauch betroffene Menschen respektvoll zu Wort kommen, ihre Erfahrungen schildern und politische Forderungen artikulieren können, ermutigend wirken: Andere Betroffene fühlen sich dadurch weniger allein und können bestärkt werden, ihr Schweigen über den Missbrauch ebenfalls zu brechen und darauf zu vertrauen, dass sie Gehör und Verständnis finden (Kitzinger 2004). Ein Beispiel ist die YouTube-Reportage Missbrauch im Turnverein: Wie Betroffene sich wehren von STRG_F, einem Format aus dem öffentlich-rechtlichen FUNK-Netzwerk. In der 2022 veröffentlichten Reportage äußern sich die von sexuellem Missbrauch durch ihren Trainer betroffenen jungen Turnerinnen aus Weimar. Der bereits rund 1,5 Mio. Mal geklickte YouTube-Beitrag zeigt die Betroffenen als starke Protagonistinnen, die den Missbrauch offengelegt, in ihren Familien Rückhalt gefunden und eine Verurteilung des Täters erwirkt haben. Sie können somit als Rollenmodelle für andere Betroffene fungieren.
 

Missbrauch im Turnverein: Wie Betroffene sich wehren (STRG_F, 17.05.2022)



Hilfeangebote für Angehörige und potenzielle Täter*innen

Ebenso verspricht man sich von öffentlicher Kommunikation über SKM eine Sensibilisierung des Umfeldes, damit etwa Eltern, Nachbarn, Fachkräfte in Pädagogik, Medizin und Justiz frühzeitig Anzeichen von Missbrauch erkennen und wissen, wie sie adäquat reagieren können. Sensibilisierung schließt aber auch potenzielle Täter*innen ein, die medial ebenfalls auf Hilfeangebote verwiesen werden können. Ein Positivbeispiel ist der Artikel auf „Zeit Online“ vom 3. August 2022 über den Missbrauchsfall in Wermelskirchen, der mit einer interaktiven Informationsbox endet und Anlaufstellen für Betroffene, Angehörige und potenzielle Täter*innen nennt. (Siehe Abb. 1)
 

Abb. 1: Berichterstattung über Missbrauchsfälle wird durch Infoboxen mit Hilfeangeboten noch nützlicher. Quelle: www.zeit.de 



Enthüllung weiterer Taten

Investigative journalistische Berichterstattung kann dazu beitragen, verheimlichte Missbrauchsfälle offenzulegen, wie dies im Jahr 2010 in der Berichterstattung über die drei genannten Schulen in Deutschland geschah. Hier hat sich die Presse national und international große Verdienste erworben. Gewürdigt wurde dies durch zahlreiche Ehrungen. So gewann beispielsweise die „Berliner Morgenpost“ für ihre Aufdeckung des Missbrauchssystems am Berliner Canisius-Kolleg den „Wächterpreis der deutschen Tagespresse“ der Stiftung „Freiheit der Presse“. Für die Aufdeckung von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche in den USA erhielt der „Boston Globe“ den Pulitzer-Preis. Der „Indianapolis Star“ wurde dafür geehrt, den jahrzehntelangen Missbrauch an Dutzenden von minderjährigen Turnerinnen durch den Sportarzt Larry Nassar sowie dessen Vertuschung durch den Turnverband USA Gymnastics aufgedeckt zu haben. Diese Positivbeispiele verantwortungsvoller Berichterstattung zeigen, dass und wie die Presse mit Betroffenen zusammenarbeiten und Missbrauchssysteme in anerkannten Institutionen aufdecken kann.

Aufbau und Erhalt von Präventions- und Interventionsmaßnahmen

Medialer Druck kann dazu beitragen, dass politische Konsequenzen gezogen und wirkungsvolle Präventions- und Interventionsmaßnahmen ergriffen, evaluiert und dauerhaft finanziert werden. Kritische Berichterstattung sollte beispielsweise verfolgen, inwiefern Betroffene von Missbrauch die von den Kirchen versprochenen Entschädigungen tatsächlich erhalten und inwiefern für sie passgenaue therapeutische Begleitung verfügbar ist. Darüber hinaus ist besonders wichtig zu vermitteln, dass zur Bekämpfung des Missbrauchsproblems die Bestrafung überführter einzelner Täter und Täterinnen kein ausreichender Lösungsansatz ist. Benötigt werden vielmehr auch Präventionsmaßnahmen wie Schutzkonzepte in Einrichtungen und präventive Täterarbeit, damit es gar nicht erst zum Missbrauch und auch nicht zu dessen jahrzehntelanger Vertuschung kommt. Medienberichte können entsprechende Aufklärungsarbeit über wirkungsvolle Präventionsmaßnahmen leisten. Ein Beispiel ist der YouTube-Bericht von „Zeit Online“ mit dem Titel So lernen Pädophile, mit ihrer Neigung umzugehen (2019), der die wichtige Arbeit des Präventionsnetzwerkes „Kein Täter werden“ anhand von Interviews mit Patienten und Therapeuten nachvollziehbar vorstellt.
 

So lernen Pädophile, mit ihrer Neigung umzugehen (Zeit Online, 16.08.2019)



Akteure der öffentlichen Kommunikation über SKM

Mit einer qualitätsvollen und sensiblen Berichterstattung über SKM agieren Nachrichtenmedien im öffentlichen Interesse und dienen der Aufklärung (Döring/Walter 2020). Vonseiten UBSKM und Betroffenenrat werden der Presse diverse praktische Handreichungen und Hilfen sowie Stockfotos für eine betroffenensensible Berichterstattung gegeben (www.ubskm.de). Neben den in den Massenmedien tätigen Journalist*innen können auch weitere Akteursgruppen wertvolle Beiträge zur öffentlichen Kommunikation über SKM leisten:

  • Betroffene können sich jenseits der Nachrichtenmedien als Expert*innen in eigener Sache äußern, etwa über autobiografische Bücher oder Beiträge auf ihren eigenen Social-Media-Accounts. So hat Andreas Huckele seine Erfahrungen mit Missbrauch an der Odenwaldschule in dem Buch Wie laut soll ich denn noch schreien? Die Odenwaldschule und der sexuelle Missbrauch veröffentlicht, zunächst unter dem Pseudonym Jürgen Dehmers. Inzwischen engagiert sich Huckele unter seinem Klarnamen politisch für die Anliegen von Betroffenen und teilt sein Expertenwissen über eine Website mit Blog (www.andreas-huckele.de).
  • Fachkräfte aus Medizin, Justiz, Psychologie oder Pädagogik können Wissen über SKM ebenfalls über Bücher und soziale Medien verbreiten oder Aufklärungskampagnen starten. So wurde bereits vor über zehn Jahren durch die erste UBSKM-Aufklärungskampagne „Sprechen hilft!“ dafür geworben, das Schweigen rund um Missbrauch zu brechen und sich an telefonische Anlaufstellen (heute: Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch) zu wenden. Auch das Präventionsnetzwerk „Kein Täter werden“ nutzt eindrückliche Werbespots, um seine Zielgruppe zu erreichen, nämlich Menschen, die sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlen, aber bislang noch nicht straffällig geworden sind und kein Kind missbrauchen wollen (www.kein-taeter-werden.de). Sehr viel mediale Aufklärungsarbeit leisten zudem die auf sexualisierte Gewalt spezialisierten Fachberatungsstellen, die vor allem über die unterschiedlichen Hilfs- und Unterstützungsangebote für Betroffene und Angehörige informieren, z. B. mittels ihrer Websites, Flyer und Broschüren. Zugang zu diesen Präventionsmaterialien gibt u. a. die Bundeskoordinierung Spezialisierter Fachberatung (BKSF) über ihre Website (www.bundeskoordinierung.de). (Siehe Abb. 2)
     

Abb. 2: Plakate der UBSKM-Kampagne 2010: „Sprechen hilft!“ -- Quelle: https://beauftragte-missbrauch.de


  • Nicht zuletzt ist daran zu denken, dass die öffentliche Kommunikation über SKM zielgruppengerecht erfolgen und neben Erwachsenen auch unterschiedliche Gruppen von Jugendlichen und Kindern einbeziehen sollte. Dazu gehören u. a. Kinder mit Behinderungen, die überproportional häufig viktimisiert werden. Zielgruppenspezifische Kinder- und Jugendbücher über SKM sind daher wichtig. So hat die Schweizer Fachstelle Limita (www.limita.ch) zur Prävention sexueller Ausbeutung von Menschen mit Beeinträchtigungen den Comic Alles Liebe? Eine Geschichte über Freundschaft, Achtsamkeit und Gewalt mitherausgegeben. In diesem Comic geht es u. a. darum, wie die 15-jährige lernbeeinträchtigte Lena von ihrem Ausbilder sexuell belästigt wird. Das Buch ist in leichter Sprache verfasst und wird ergänzt durch ein Begleitmanual mit Anregungen dazu, wie Fachkräfte den Comic mit der Zielgruppe besprechen können. Dem Buch gelingt es, den Schock des Missbrauchs zu vermitteln, aber auch Lösungsansätze aufzuzeigen.
  • Künstler*innen können durch die Verarbeitung des Themas in fiktionalen Romanen oder Filmen das Publikum auf einer anderen Ebene erreichen als Fachbeiträge. So wurde beispielsweise das Missbrauchssystem an der Odenwaldschule in dem fiktionalen Fernsehfilm Die Auserwählten (2014) von Christoph Röhl dargestellt. Der auf dem Gelände der Odenwaldschule gedrehte Film vermittelt dem Publikum die Schulatmosphäre der 1970er-Jahre greifbarer, als die meisten Sachbeiträge es erreichen.
  • Breite Öffentlichkeit: Nicht zuletzt wird die mediale Repräsentation des Missbrauchsproblems auch durch das Publikum mitgeformt. Denn Auflagen, Quoten und Klickzahlen bestimmen, ob und – wenn ja – welche Formen der Thematisierung des Missbrauchsproblems produziert und verbreitet werden. In sozialen Medien bestimmt das Publikum zudem durch Likes oder Dislikes, durch öffentliche Kommentare sowie durch die Produktion und Verbreitung von Memes, wie das Missbrauchsproblem sichtbar gemacht wird. Denn das Publikumsverhalten in sozialen Medien steuert über die Plattform-Algorithmen das Ranking der Suchergebnisse und die Beitragsvorschläge (Döring 2018).
     

Risiken der öffentlichen Kommunikation über SKM

Den beschriebenen Chancen öffentlicher Kommunikation über SKM stehen Risiken gegenüber. Diese werden kommunikationswissenschaftlich vor allem durch systematische Inhalts- und Qualitätsanalysen des Medienmaterials ermittelt. Dabei lassen sich etablierte Dimensionen journalistischer Qualität wie Relevanz oder Sachgerechtigkeit auf das Missbrauchsthema anwenden (Döring/Walter 2020; Scheufele 2005).

Episodisches statt thematisches Framing

Bislang liegen zwei Übersichtsarbeiten vor, die mehr als 30 Presseanalysen von 1995 bis 2017 zusammenfassen (Weatherred 2015; Popović 2018). Der Befund ist eindeutig: Zu oft ist die Berichterstattung über sexuellen Kindesmissbrauch auf einzelne Kriminalfälle bezogen (sogenanntes episodisches Framing) und endet mit der Täterbestrafung. Dabei wird eine ganzheitlichere gesellschaftliche Problemanalyse (sogenanntes thematisches Framing) vernachlässigt.

Sensationalistische und voyeuristische Darstellungen

Sexualisierte Gewalt ist ein Thema, das starke Emotionen auslöst und damit die von den Medien angestrebte öffentliche Aufmerksamkeit einbringt. Daher verwundert es nicht, dass die Berichterstattung oft voyeuristische und reißerische Elemente enthält, da diese immer wieder schnellen Aufmerksamkeitserfolg einbringen. Das gilt für die Darstellung im Text, aber auch für die verwendeten Bilder, etwa die Stockfotos (Döring/Walter 2021). So werden nicht selten Stockfotos verwendet, die Betroffene von Missbrauch objektifiziert und sexualisiert darstellen, da eine Täterperspektive eingenommen und beispielsweise zwischen die Beine eines leicht bekleideten Mädchens fotografiert wird. (Siehe Abb. 3)
 

Abb. 3: Stockfotos (hier von Adobe Stock), die zur Illustration der Medienberichterstattung in der Presse verwendet werden, sind definitionsgemäß plakativ. Nicht selten nehmen sie eine Täterperspektive ein und stellen Betroffene objektifizierend und sexualisierend dar. Quelle: https://stock.adobe.com



Missachtung der Betroffenen

Fragt man von Missbrauch betroffene Menschen, welche Anforderungen sie an eine gute SKM-Berichterstattung stellen, so werden immer wieder der Verzicht auf ein reißerisches Ausschlachten der Taten sowie ein respektvoller Umgang verlangt (Baugut/Neumann 2020; Kavemann u. a. 2019). Denn voyeuristische Fragen im Interview oder unnötige Tatdetails in der Berichterstattung können Betroffene reviktimisieren, retraumatisieren und eine Form des medialen Übergriffs darstellen. Auch lehnen es Betroffene meist ab, wenn sie eindimensional als bemitleidenswerte Opfer präsentiert werden und dabei ihre Stärken und auch ihre politischen Forderungen ausgeblendet bleiben. Beliebte Phrasen wie: „Missbrauch ist Mord an der Seele“ sind daher problematisch. Denn sie scheinen empathisch die Grausamkeit von Missbrauchstaten zu unterstreichen, stellen aber gleichzeitig allen Betroffenen pauschal eine hoffnungslose Prognose aus und zementieren ihren Opferstatus.

Dämonisierung der Täter*innen

Eine sensationalistische Berichterstattung dämonisiert darüber hinaus die Täter*innen, die nicht selten als „Monster“ oder „Kinderschänder“ etikettiert oder als dunkle Kapuzenmänner mit Stockfotos illustriert werden. Durch eine solche Dämonisierung werden beim Publikum Hass und sadistische Strafwut geschürt, die sich gerade in sozialen Medien in Drohungen bis hin zu Aufrufen zur Selbstjustiz aufschaukeln können (Döring 2018; 2022; Krupp 2021). Auf Social-Media-Plattformen sind entsprechend auch fragwürdige Trends zu beobachten wie selbst erklärte „Pädophilen-Jäger“ („Pedohunters“), die sich im Netz als Minderjährige ausgeben, um eigenmächtig tatsächliche oder vermeintliche Missbrauchstäter zu überführen, was typischerweise mit öffentlicher Bloßstellung und Bedrohung einhergeht und im Extremfall bis hin zu Mord und Suizid führen kann (Hussey u. a. 2022). Ein rationaler Diskurs über wirkungsvolle Prävention kommt zu kurz oder wird sogar erschwert, wenn in Hassbeiträgen alle „Pädophilen“ zu lebensunwerten „Monstern“ deklariert werden, die somit in der Praxis dann kaum adäquate psychosoziale und medizinische Betreuung nachfragen und finden werden.

Stereotype und Verschwörungsmythen

Eine stereotypisierende Berichterstattung birgt zudem das Risiko der Fehlinformation der Bevölkerung. Etwa, wenn die Angst vor dem gefährlichen Fremdtäter geschürt und dadurch die viel wahrscheinlicheren Taten im sozialen Nahraum negiert werden. Oder wenn die Darstellung von Tätern als „Bestien“ den Blick darauf verstellt, dass reale Täter oft sozial kompetent und sympathisch auftreten und dass ein Mann, bei dem „man sich das gar nicht vorstellen kann“, ein Täter sein kann. Problematisch ist auch die Instrumentalisierung des Missbrauchsthemas im Kontext von rechtsradikalem Fremdenhass (z. B. erfundene Missbrauchsfälle, die angeblich durch „Asylanten“ oder „Flüchtlinge“ begangen wurden) oder Verschwörungsmythen wie „Pizzagate“ (Mythos, dass Hillary Clinton in einer Pizzeria in den USA einen Kinderporno-Ring betreibe) und „Adrenochrom“ (Mythos, dass in unterirdischen Anlagen in den USA entführte Kinder missbraucht und ihnen das Stoffwechselprodukt Adrenochrom entnommen werde, um von Hollywoodstars als Anti-Aging-Produkt genutzt zu werden). Solche Mythen verbreiten sich gerade auf sozialen Medien wie Telegram oder YouTube (Döring 2018). Dabei fördern die Plattformalgorithmen nicht selten grenzwertige Beiträge, da diese besonders viele Klicks und Kommentare nach sich ziehen, das Publikum länger auf der Plattform halten und somit mehr Werbegelder einbringen.


Fazit

Die mediale Thematisierung von SKM erscheint zwiespältig: Einerseits bietet sie nützliche Aufklärung und kann die Problembearbeitung fördern. Andererseits bringt sie schädlichen Voyeurismus, Hass und Fehlinformationen mit sich. Daher gilt es, die aktuellen medialen Debatten über sexuellen Kindesmissbrauch fortlaufend kritisch im Auge zu behalten, möglichst auch in einem wissenschaftlichen Monitoring zu erfassen und schrittweise zu verbessern. Zu einer solchen Verbesserung können alle genannten Akteursgruppen beitragen: Journalist*innen ebenso wie Betroffene, Fachkräfte, Künstler*innen und die breite Öffentlichkeit. Wenn die öffentliche Kommunikation über sexuellen Kindesmissbrauch in sozialen Medien stattfindet, sind zudem die Plattformbetreibenden gefragt, gegen Missstände wie Onlinehassrede oder Verschwörungsmythen vorzugehen, um einen zivilen und zielführenden Diskurs über dieses wichtige Thema zu ermöglichen.
 

Literatur:

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Behnisch, M./Rose, L.: Sexueller Missbrauch in Schulen und Kirchen. Eine kritische Diskursanalyse der Mediendebatte zum Missbrauchsskandal im Jahr 2010. Frankfurt am Main 2011 (Onlinepublikationen des gFFZ, 1/2011). Abrufbar unter: http://www.gffz.de

BKA (Bundeskriminalamt) (Hrsg.): Polizeiliche Kriminalstatistik Bundesrepublik Deutschland 2021. T01 Grundtabelle – Fälle (V1.0). Wiesbaden, 17.02.2022. Abrufbar unter: https://www.bka.de

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Döring, N./Walter, R.: Ikonografien des sexuellen Kindesmissbrauchs: Symbolbilder in Presseartikeln und Präventionsmaterialien. In: Studies in Communication and Media, 3/2021/10, S. 362–405. Abrufbar unter: https://doi.org/10.5771/2192-4007-2021-3-362

Fegert, J. M./Hoffmann, U./Spröber, N./Liebhardt, H.: Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Aktuelle (fach-)politische Diskussion und Überblick über Definitionen, Epidemiologie, Diagnostik, Therapie und Prävention. In: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 2/2013/56, S. 199–207. Abrufbar unter: https://doi.org/10.1007/s00103-012-1598-9

Häuser, W./Schmutzer, G./Brähler, E./Glaesmer, H.: Misshandlungen in Kindheit und Jugend. Ergebnisse einer Umfrage in einer repräsentativen Stichprobe der deutschen Bevölkerung. In: Deutsches Ärzteblatt International, 17/2011/108, S. 287–294. Abrufbar unter: https://doi.org/10.3238/arztebl.2011.0287

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Stompe, T./Schanda, H. (Hrsg.): Sexueller Kindesmissbrauch und Pädophilie. Grundlagen, Begutachtung, Prävention und Intervention – Täter und Opfer. Berlin 20172

Weatherred, J. L.: Child Sexual Abuse and the Media: A Literature Review. In: Journal of Child Sexual Abuse, 1/2015/24, S. 16–34. Abrufbar unter: https://doi.org/10.1080/10538712.2015.976302

 

 

Prof. Dr. Nicola Döring ist Psychologin und leitet das Fachgebiet „Medienpsychologie und Medienkonzeption“ an der Technischen Universität Ilmenau. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören u.a. Gender- und Sexualforschung im Zusammenhang mit alten und neuen Medien.

Roberto Walter, M. A., ist Kommunikationswissenschaftler und als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet „Medienpsychologie und Medienkonzeption“ an der Technischen Universität Ilmenau tätig.