Störenfriede im System

Dieter Thomäs Analyse des „puer robustus“

Nils Köbel

Dr. Nils Köbel ist Professor i.K. für Pädagogik am Fachbereich „Soziale Arbeit und Sozialwissenschaften“ der Katholischen Hochschule Mainz. Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a. Identitäts- und Biografieforschung sowie Theorien und Methoden der Erziehung und Bildung.

Eine zentrale Aufgabe der Sozialwissenschaften und der politischen Philosophie besteht in der Sichtung und Analyse jener Faktoren und Prozesse, die zur Entwicklung und Veränderung von Gesellschaften beitragen. Auch der Philosoph Dieter Thomä widmet sich in seinem Werk Puer robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds der Frage nach der Entstehung des Neuen in Politik und Gesellschaft. Hierfür wählt er einen subjektorientierten Zugang: Wie es der Titel seines Buches andeutet, versucht er, konkrete Individuen aufzuspüren und zu beschreiben, die das soziale Leben durchkreuzen, stören, irritieren und damit direkt oder indirekt zu einer Veränderung gesellschaftlicher Ordnung beitragen. Nach Thomä geht es bei dieser Aufgabe um viel, sie „betrifft nicht irgendein, sondern das Problem der politischen Philosophie: die Frage, wie sich eine Ordnung etabliert und legitimiert, wie sie kritisiert, transformiert oder attackiert wird, wie Menschen von dieser Ordnung einbezogen oder ausgeschlossen werden, sich anpassen oder quertreiben“ (Thomä 2018, S. 11 f., H. i. O.).

Thomä wählt als Forschungsgegenstand für sein Projekt die Geschichte des politischen Denkens, er sichtet und analysiert jene philosophischen und literarischen Konzeptionen, die den „puer robustus“ thematisieren und beurteilen. Sein Buch leistet auf diese Weise einen Beitrag zur historisch-systematischen Philosophie.

Printausgabe mediendiskurs: 27. Jg., 4/2023 (Ausgabe 106), S. 4-11

Vollständiger Beitrag als:

Der Störenfried und der Gesellschaftsvertrag

Thomäs Suche nach dem „puer robustus“ beginnt bei zwei Philosophen, die mit ihren diametral entgegengesetzten Vorstellungen über das Wesen des Menschen zwei Grundoptionen des politischen Denkens der Neuzeit eröffnen: Thomas Hobbes und Jean-Jacques Rousseau. Der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588 – 1679) erfindet den Begriff „puer robustus“ und setzt damit den Anfang der Debatte über Störenfriede in der Gesellschaft.

An dem von Hobbes geprägten Begriff ist nach Thomä zweierlei interessant: zum einen das „robustus“ als „Stärke, Kraft, Macht“ sowie das „puer“ als „Knabe“ (ebd., S. 24). Der Störenfried wird durch diese Kombination als kindlich-naiv und in seiner Vitalität mitunter als bedrohlich und böse charakterisiert. In Hobbes’ Theoriegebäude steht genau diese Bedrohung im Vordergrund. Gemäß seiner Grundannahme, dass Menschen ihre aggressiven Tendenzen, sich gegenseitig zu schaden und zu vernichten, nur durch einen vertraglichen Zusammenschluss unter einen übermächtigen Staat überwinden können, wird der Störenfried, der diesen Gesellschaftsvertrag stört und anzweifelt, als Saboteur des Friedens gesehen. Er wird zum „Inbegriff des bad boy, ja sogar des vir malus“ (ebd., S. 31, H. i. O.). Der Störenfried muss gezähmt werden, am besten, indem er vernünftigerweise einsieht, dass es ihm selbst mehr nützt als schadet, wenn er sich in den Gesellschaftsvertrag einfügt.

Thomä betont, dass dieses Bild des „puer robustus“ ebenso unterkomplex ist wie die Vertragskonzeption von Hobbes, in der es „nur die Alternative zwischen Ordnung und Anarchie“ gibt (ebd., S. 64). Und noch etwas Entscheidendes wird bereits in der ersten Beschreibung des „puer robustus“ deutlich: Er wird – und dies durchzieht dann fast durchgängig die weitere Philosophiegeschichte – als männlich gezeichnet. Thomä sieht die Gründe hierfür in einer Einengung auf das ungebundene, alleinstehende Subjekt, das aus sich heraus widerständig und durchsetzungsfähig ist. Diese Eigenschaften wurden in der westlichen Kultur fast ausschließlich Männern zugeschrieben. Dies ändert sich leider erst in der jüngeren Geschichte, wie Thomä betont.
 


Der Störenfried muss gezähmt werden, am besten, indem er vernünftigerweise einsieht, dass es ihm selbst mehr nützt als schadet.



Ganz anders als Hobbes sieht Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) den „puer robustus“. Gemäß seinem Menschenbild, das in vielen Aspekten geradezu gegensätzlich zu demjenigen von Hobbes ist, sieht Rousseau im Störenfried eine Chance für den gesellschaftlichen Aufbruch.

Nach Rousseau ist der Mensch von Natur aus gut, er wird verdorben durch die Einflüsse der Gesellschaft. Der Störenfried, der auf die Missstände der Gesellschaft aufmerksam macht, das Gemeinwohl als Basis des Gesellschaftsvertrags anvisieren kann und nach pädagogisch sinnvollen Grundsätzen zu einer autonomen Persönlichkeit erzogen wurde, ist notwendig und willkommen.

Daher zeigt sich bei Rousseau nicht nur eine neue Bewertung des „puer robustus“, sondern ein ganz anderer Typus des Störenfrieds: Im Gegensatz zum Egoisten, der die gesellschaftliche Ordnung zu eigenen Zwecken sabotiert und dem deshalb Einhalt geboten werden muss, handelt der Störenfried Rousseaus im Sinne einer neuen Gesellschaftsordnung, die in der Kritik an den bestehenden Verhältnissen bereits mitgedacht wird. Er wird zu einem Subjekt, das „an einer Schwelle“ (ebd., S. 16) zu einer neuen Idee des Zusammenlebens steht.

Wenn aber diese neue Gesellschaft entstanden ist, muss sich der „puer robustus“ von der politischen Bühne verabschieden, weil er nicht mehr gebraucht wird. Jedoch erkennt Thomä in Rousseaus Werk ebenfalls die Einsicht, dass kritische Haltungen in jeder noch so optimal gedachten Gesellschaft bedeutsam bleiben werden.

Hobbes und Rousseau zeigen Thomä zufolge bereits viele wesentliche Eigenschaften des Störenfrieds. Und auch zentrale Schwachstellen ihrer Gesellschaftstheorie werden deutlich, die spätere Konzepte zu lösen versuchen. So denken sich Hobbes und Rousseau in ihren Vertragstheorien auf jeweils unterschiedliche Weise einen gesellschaftlichen Neuanfang, „sie träumen einen Traum von der Stunde null“ (ebd., S. 191). In dieser „Stunde null“ kommen Menschen zusammen und schließen miteinander einen Vertrag. Jedoch sind Gesellschaften entgegen diesem Bild dynamisch-fortlaufende Systeme, die nie einen wirklichen Neuanfang haben können. Lohnt es stattdessen vielleicht, beim Individuum, beim „puer robustus“ selbst, die Ursprünglichkeit des Neubeginns zu suchen?
 

Der Störenfried als Neubeginn

Um diese Frage nach dem neuen Anfang zu behandeln, verlässt Thomä den engeren Bereich der Philosophie und wendet sich der Literatur und Musik zu, da hier präzise Charakterzeichnungen des „puer robustus“ zu finden sind. So zeichnet Thomä zufolge Friedrich Schiller (1759 – 1805) in seinem Werk Wilhelm Tell aus dem Jahr 1804 den Titelhelden seines Schauspiels als mit einem inneren moralischen Kompass ausgestattet, der ihn durch alle Wirren hindurch intuitiv richtig handeln lässt. Selbst in seiner dramatisch inszenierten Entscheidung, einen Tyrannen zu töten als Beitrag zur Überwindung der Knechtschaft, behält Tell seine Integrität. Diese prosoziale Seite steht in einer deutlichen Spannung zu seiner anderen Charaktereigenschaft: Er wird eigentlich als Außenseiter, als „ein Vorläufer des Cowboys oder des lone ranger“ dargestellt (ebd., S. 185, H. i. O.). Tell gehört nicht wirklich zu der Gemeinschaft, der er durch seine Taten hilft, und wird gerade deshalb zu ihrem Helden. Da er „über eine Moral verfügt, die in einer natürlichen Eigenschaft wurzelt“ (ebd., S. 183), kann er als Einzelgänger die notwendige Vitalität zu sozialer Veränderung quasi „von außen“ beisteuern. Der Neuanfang wird in der Figur des Wilhelm Tell personifiziert.

Nach Thomä ist Tell auch Vorläufer für den „puer robustus“, den Richard Wagner (1813 – 1883) in seinem Werk Der Ring des Nibelungen vorstellt. Die Rede ist von Siegfried, der als Sagenheld „die politische und ökonomische Welt umzuwälzen“ vermag (ebd., S. 236). Auch Siegfried hat eine Außenposition, er lebt in einem naiven, arglosen und unvermittelt-natürlichen Verhältnis zu sich selbst und zur Welt. Diese Einfalt bildet die Voraussetzung für seine Taten, sie ist der Schlüssel zu seinem neuen, revolutionären Blick auf die Geschehnisse: „Um einen Neuanfang leisten zu können, wird Siegfried aus der Geschichte und Gesellschaft herausversetzt“ (ebd., S. 239).

Das Problem des Neubeginns wird bei Wagner nicht durch die Vorstellung eines Sonderlings und Außenseiters gelöst. Viel weitgehender konstruiert er mit Siegfried ein Subjekt, das vollkommen frei von Sozialisation nur seiner eigenen Natur gehorcht. Im Gegensatz zu Wilhelm Tell kann Siegfried jedoch nur teilweise siegen. Zwar wird die alte Weltordnung endgültig überwunden und der Ring vor dem Zugriff des Bösen gesichert, aber Siegfried muss, genauso wie Brünnhilde, sterben. Die nun mögliche neue Welt, die Siegfried repräsentiert, besteht in der Überwindung des Vertragsmodells und in dem Ideal der Verschmelzung der Menschengemeinschaft mit der Natur: Die Menschen „werden sich nicht untereinander einig, sondern sind geeint oder werden vereinheitlicht, indem sie die Gesellschaft der Natur ausliefern“ (ebd., S. 248). Dieser vollkommene Fusionsgedanke mit der Natur hat etwas äußerst Bedrohliches, denn Siegfried ist Thomä zufolge in dieser Hinsicht ein „Vorläufer der faschistischen Störenfriede, die unterschiedslos in der Volksgemeinschaft zusammengehören“ (ebd., S. 249).
 


Die Einfalt bildet die Voraussetzung für seine Taten.



Neben Tell und Siegfried betrachtet Thomä auch die literarische Figur des Quasimodo von Victor Hugo (1802 – 1885), der sich aufgrund sozialer Ablehnung zunächst verbittert von der Gesellschaft abwendet, sich jedoch in seiner Liebe zu Esmeralda und dem Kampf gegen seinen Ziehvater Frollo zum Helden entwickelt. Ebenso untersucht Thomä anhand der Forschungen von Alexis de Tocqueville (1805 – 1859) den „puer robustus“ in Amerika in seiner Erscheinung als egoistischer Outlaw und rechtschaffener Bürger. So interessant diese Sichtungen des Störenfrieds sind, so sehr drängt doch die Frage nach seinem bedrohlichen Potenzial, das sich in der Analyse der Siegfried-Figur zeigte. Der „puer robustus“ kann nämlich auch als fanatische Gruppe auftreten.
 

Der Störenfried als Kollektiv

Die deutlichste Warnung vor den destruktiven Seiten des „puer robustus“ findet sich in dem Kapitel über Max Horkheimer (1895 – 1973), der ebenfalls den Begriff von Hobbes aufnimmt. Reagieren Thomä zufolge Philosophen wie Carl Schmitt und Leo Strauss auf die Freisetzung des Individuums durch das Konzept des Gesellschaftsvertrags mit der Forderung, eine „geschlossene Gesellschaft“ bzw. einen „totalen Staat“ zu etablieren und zu verteidigen (ebd., S. 448), sieht Horkheimer in der Infragestellung traditioneller Ordnungen zunächst eine Möglichkeit, autoritäre Gesellschaftsstrukturen zu überwinden. Im Sinne des historischen Materialismus sieht er diese Chance in der Arbeiterklasse, im marxschen Kollektivsubjekt. Karl Marx (1818 – 1883) bezeichnet nämlich im Unterschied zu allen vorherigen Theorien mit dem „puer robustus“ kein schillerndes Individuum, sondern eine „Klasse, die die Ordnung stürzen will“ (ebd., S. 291). Das Kollektiv des Proletariats wird nach Marx die letzte und entscheidende Revolution einleiten, die die Geschichte des Klassenkampfes überwinden und ein neues Gesellschaftsmodell etablieren wird. In dieser Hinsicht ähnelt dieser kollektive Störenfried dem „puer robustus“ von Rousseau, denn beide handeln nicht egoistisch, sondern antizipieren im Sturz der alten Ordnung ein neues, fortgeschrittenes Gesellschaftssystem.

Horkheimer ist jedoch, ebenso wie viele andere Mitglieder der Frankfurter Schule, von den geschichtlichen Entwicklungen enttäuscht. Zwar sieht er weiterhin die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise und die daraus entstehenden sozialen Ungerechtigkeiten, jedoch setzt er kaum noch Hoffnung in eine alles verändernde Revolution. Stattdessen „greift eine andere Art von Störung um sich – und sie ist ganz schrecklich“ (ebd., S. 450). Der kollektive „puer robustus“ nämlich, den Horkheimer in den Aufmärschen der Nationalsozialisten in Deutschland beobachtet, hat als Ziel die Aufgabe der eigenen Individualität und die Reduktion des eigenen Selbst auf ein „Massenwesen“ (ebd., S. 451), das hemmungslos und ideologisiert gegen die Gesellschaft kämpft: „Man kann zuschlagen und zerstören, aber man tut dies gar nicht selbst, nicht im eigenen Namen, sondern als Mitglied einer Masse mit höherem Auftrag“ (ebd., S. 452). In dieser Form der Störung ist der Wunsch enthalten, sich vollkommen ein und unterzuordnen.

Diese eigenartige Selbstaufgabe und das irrationale, gegen die Dialektik des Klassenkampfes gerichtete Verhalten kann Horkheimer nicht mehr mit dem historischen Materialismus von Marx und Engels erklären. Auf der Suche nach neuen Ansätzen wendet er sich der Psychoanalyse zu, der Erforschung des Unbewussten. Und in der Tat kommt auch Sigmund Freud (1856 – 1939) auf den „puer robustus“ zu sprechen. Er legt den Schwerpunkt auf die Entwicklungs- und Sozialisationsprozesse, die den Störenfried in Kindheit und Jugend prägen. Durch Prozesse der Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil im Zuge des sich in allen Familien abspielenden Ödipusdramas übernimmt das Kind die Normen und Regeln des gesellschaftlichen Lebens, die der Vater bzw. die Mutter repräsentiert.

Diesen grundlegenden Bedingungen des Aufwachsens entspricht Freud zufolge auch die Entwicklung der Gesellschaft: Ähnlich wie Hobbes sieht Freud den nicht zivilisierten Zustand des Menschen als brutal und grausam an. Im Laufe der Zeit gelingt es einem Menschen jedoch, alle Machtmittel zu besitzen, und es entsteht eine erste tyrannische Ordnung: Die symbolischen oder realen Nachkommen des Herrschers ordnen sich ihm unter, möchten aber auch seine Macht übernehmen. Diese Ambivalenz kann sich durch einen natürlichen Generationswechsel zeitlich auflösen, indem der neue Herrscher die Macht des alten übernimmt und ihn gleichzeitig ehrt. Jedoch gibt es immer dann Probleme, wenn mehrere Nachkommen um die Macht zu streiten beginnen oder die Nachkommen nicht auf den Generationswechsel warten wollen. Dann „verfolgen sie gemeinsam das Interesse, das auf den Sturz des Vaters, den Vatermord gerichtet ist“ (ebd., S. 344). Nach diesem Sturz kann es zu einer Abfolge von neuer Machtsicherung und erneuten Umstürzen kommen, das Prinzip der Unterwerfung kann in blinder Gefolgschaft verherrlicht werden.

Genau dies beobachtet Horkheimer in den Massenaufmärschen des kollektiven Störenfrieds. Er wird in den folgenden Jahrzehnten, wie viele Mitglieder des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, die Entstehung faschistischer Ideologien zu einem zentralen Thema seiner Forschungen machen. Die Psychoanalyse wird dabei wichtig bleiben, denn Freud zufolge ist nach dem „Vatermord“ auch ein anderer Neuanfang möglich, wenn die Nachkommen sich zu einem gleichberechtigten Bund zusammenschließen und die Machtlogik selbst infrage stellen. Diese „Auszeit aus dem Spiel von Macht und Ohnmacht“ (ebd., S. 346) bildet die Voraussetzung für Demokratien als „Formen der Vergemeinschaftung, die nicht vertikal, sondern horizontal angelegt sind“ (ebd., S. 352).

Thomä betont, dass neben der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule auch andere wichtige Demokratietheoretiker des 20. Jahrhunderts, wie etwa Hans Kelsen, die Ideen von Freud zur Entwicklung der Zivilisation aufgenommen und weiterentwickelt haben.
 

Der Störenfried in der Spätmoderne

Thomäs Verfolgung des „puer robustus“ durch die Philosophiegeschichte, die in der vorliegenden Zusammenfassung natürlich nur in Auswahl dargestellt werden kann, zeigt, dass der Störenfried in unterschiedlichster Form und mit verschiedensten Motiven auftritt. Daher schlägt er als Orientierungshilfe eine Typologie des „puer robustus“ vor:

  1. Der egoistische Störenfried lebt seine eigenen Interessen gegen die gesellschaftlich bestehende Ordnung aus. Jenseits des Egoismus werden keine Ziele erkennbar. Für Thomas Hobbes, der dieses Phänomen als Erster systematisch beschreibt, markiert dieser „puer robustus“ die Bedrohung des friedlichen Zusammenlebens schlechthin.
  2. Der exzentrische Störenfried stellt die bestehende Ordnung durch sein Handeln infrage, hat jedoch im Unterschied zum reinen Egoismus noch keine klar definierten selbstbezogenen Motive. Im Vordergrund steht eher die offene Identitätssuche mit ungewissem Ausgang.
  3. Der nomozentrische Störenfried peilt in seinem Widerstand gegen das System eine neue gesellschaftliche Ordnung als zukünftige Alternative an. Am Beispiel des Wilhelm Tell von Friedrich Schiller macht Thomä jedoch deutlich, dass die Vorstellung dieser neuen Ordnung während des Handelns noch nicht vollkommen klar sein muss.
  4. Der massive Störenfried möchte seine fanatische Identität in eine Massenbewegung einfließen lassen, um darin aufzugehen. Anhand der Analysen von Max Horkheimer zeigt Thomä die enorme Bedrohung und Destruktivität dieses Phänomens für Gesellschaften auf.

Welche dieser Störenfriede lassen sich in der gegenwärtigen globalen und pluralisierten Gesellschaft erkennen? Nach Thomä ist der egoistische Störenfried „mit dem Siegeszug des Kapitalismus in den Mainstream der Gesellschaft“ gelangt (ebd., S. 493). Er muss nicht mehr gegen das System vorgehen, sondern kann die Möglichkeiten des globalen Finanzwesens für seine Interessen nutzen. Eine produktive Einhegung des Egoismus? Nicht wirklich, denn Thomä sieht in der Finanzkrise des Jahres 2008 einen Beleg dafür, dass der egoistische Störenfried auch heute in der Lage ist, „als Gewinner vom Platz zu gehen und verbrannte Erde zu hinterlassen“ (ebd., S. 495), dem System also durch sein Handeln massiven Schaden zuzufügen. Besonders bedrohlich ist für Thomä dabei, dass durch politische Prozesse der Deregulierung das Eigeninteresse häufig als Möglichkeit für gesamtgesellschaftlichen Wohlstand ausgegeben wird. Wenn Demokratie und Politik sich in dieser Weise vermischen, kann es zu verstärkter sozialer Ungleichheit und zu gesamtgesellschaftlichen Erschütterungen kommen.

Zeigt sich der egoistische „puer robustus“ im Finanzsystem, so bildet für den exzentrischen und nomozentrischen Störenfried die Demokratie die ideale Staatsform, denn sie bedeutet ja gerade, Positionen und Vorschläge aufzunehmen und zu diskutieren. Aber auch hier wäre es nach Thomä zu kurz gegriffen, den „puer robustus“ einfach in politische Mitbestimmungsprozesse einzubinden, denn „der Störenfried sitzt nicht mit am Verhandlungstisch, bleibt draußen, steht an der Schwelle“ (ebd., S. 520). Demokratien müssen immer wieder Impulse von außen und innen – Thomä nennt als Beispiele u. a. die Occupy-Bewegung und bedeutende Personen des politischen Wandels wie Barack Obama – in die Logik politischer Institutionen übersetzen. Diese besteht in dem Spannungsverhältnis zwischen dem offenen Diskurs, in dem neue, auch kreative Ideen eingebracht werden können und sollen, sowie der Notwendigkeit, durch gesetzliche Regelungen die Gesellschaft stabil zu halten. Daher bleibt der nomozentrische Störenfried für demokratische Gesellschaften eine immerwährende Herausforderung, aber auch eine Chance zur positiven Weiterentwicklung.

Die gefährlichste Form des „puer robustus“ sieht Thomä schließlich im massiven Störenfried, der seine Identität in eine destruktive Massenbewegung auflösen möchte. Thomä entdeckt ihn in den bedrohlichen Phänomenen des politischen und weltanschaulichen Extremismus und Fanatismus mit ihrer Vereindeutigung von Gut und Böse und der offenen oder verdeckten Legitimierung von Gewalt.

Thomä räumt ein, dass in seiner Studie unzählige weitere Erscheinungsformen des „puer robustus“ analysiert werden könnten. Daher kann seine Vorgehensweise als Einladung verstanden werden, das Forschungsprogramm zum Störenfried fortzusetzen und auf andere Felder zu übertragen.

Die von Thomä gefundenen vier Formen des Störenfrieds sind dabei für die Sozialwissenschaften besonders interessant. So betont Hartmut Rosa, dass im Gegensatz zu einer reinen Echokammer, in der immer gleiche Inhalte widerspruchslos ausgetauscht werden, Resonanz als fruchtbarer Beziehungsmodus zu Menschen, Dingen und Ideen erst durch Widerständigkeit entsteht (Rosa 2020). Thomäs Typologie könnte dazu beitragen, fruchtbare, Resonanz fördernde Ein- und Widersprüche zu sichten und von rein destruktiven Störungen zu unterscheiden, die gesellschaftliche Entwicklungen hemmen. Diese Frage, welche Individuen und Gruppen in welcher Weise in Gesellschaften stören und protestieren und welche Auswirkungen diese Impulse und Irritationen haben, könnte auch in weiterführenden Studien empirisch aufgenommen und bearbeitet werden.

In seinem Werk Die Gesellschaft der Singularitäten kann wiederum Andreas Reckwitz aufzeigen, dass der exzentrische „puer robustus“ nicht nur demokratische Diskurse bereichern kann, sondern in der Spätmoderne selbst zu einem Ideal wird: „Singularisierung meint aber mehr als Selbstständigkeit und Selbstoptimierung. Zentral ist ihr das kompliziertere Streben nach Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit, die zu erreichen freilich nicht nur subjektiver Wunsch, sondern paradoxe gesellschaftliche Erwartung geworden ist“ (Reckwitz 2020, S. 9, H. i. O.). Was ist in einer Gesellschaft exzentrisch, wenn das Exzentrische gewollt und erwartet wird? Das „komplizierte Streben nach Einzigartigkeit“ kann soziologisch konkreter nach sozialen Gruppen, Milieus, Schichten und Kontexten betrachtet werden. Der „puer robustus“ ist dann nicht mehr nur ein gesamtgesellschaftlich relevantes Phänomen, sondern sozial so differenziert wie die spätmoderne Gesellschaft selbst.

Thomä unternimmt in seinem Buch auch einen Exkurs in die chinesische und italienische Geschichte, er untersucht den „puer robustus“ dort in den kommunistischen Konzepten von Palmiro Togliatti und Mao Zedong. Kulturvergleichende Studien könnten dies fortsetzen und analysieren, welche Formen des Störenfrieds sich in unterschiedlichen Gesellschaften zeigen, und Thomäs Typologie hierdurch vielleicht erweitern. Und der massive „puer robustus“ ist und bleibt ein wesentlicher Forschungsgegenstand der interdisziplinären und breit gefächerten Extremismusforschung.

Neben dem Bereich der Wissenschaft springt der „puer robustus“ natürlich auch als Motiv in unterschiedlichen medialen Darstellungen ins Auge, Thomä bezieht ja bereits Beispiele aus dem Bereich der Literatur und Musik in seine Untersuchung mit ein. Darüber hinaus lohnt ein Blick auf die Filmindustrie. Auch hier taucht der Störenfried in allen Varianten auf: unvergessen die Figur des Gordon Gekko in Oliver Stones Wall Street, der in seinem Film bereits 1987 den Prototyp des skrupellos egoistischen Finanzspekulanten beschreibt. Im Bereich des exzentrischen und nomozentrischen „puer robustus“ fällt z. B. die Erlösergestalt des Neo aus der Matrix-Filmreihe (Regie: Lana Wachowski/Lilly Wachowski, 1999) auf, der durch seinen vollkommen neuen (Durch-)Blick auf die Gesellschaft und die daraus resultierenden Fähigkeiten das von Maschinen geschaffene Trugbild der Welt entlarven und überwinden kann. Genauso interessant: die Figur der Imperator Furiosa aus dem Endzeitszenario Mad Max: Fury Road (Regie: George Miller, 2015), die allen Unterwerfungszwängen zum Trotz den Tyrannen stürzt und eine neue Epoche der Zivilisation einläutet. Hier wird deutlich, welcher Nachholbedarf bei der Sichtung weiblicher Störenfriede auch im Medienbereich besteht. Sie wurden, wie Thomä bereits betont, lange in den Hintergrund der westlichen Kulturgeschichte gedrängt. Und auch der massive Störenfried wird im Film thematisiert, eindrucksvoll etwa in American History X (Regie: Tony Kaye, 1998) mit seiner differenzierten Beschreibung jener sozialen Konstellationen und biografischen Prozesse, die Menschen in Rassismus und Neonazismus führen.

Diese kurzen Ausflüge in die Sozialwissenschaften und ins Blockbustergenre zeigen, dass der „puer robustus“ als Phänomen interessant ist und bleibt. Besonders die Frage nach dem Umgang mit Störenfrieden in Demokratien erscheint dabei nicht nur wissenschaftlich, sondern auch politisch und alltagsweltlich zentral.
 

Literatur:

Reckwitz, A.: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin 2020

Rosa, H.: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin 2020

Thomä, D.: Puer robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds. Mit einem neuen Nachwort über Donald Trump und den Populismus. Berlin 2018