Storytelling

Gerd Hallenberger

Dr. habil. Gerd Hallenberger ist freiberuflicher Medienwissenschaftler.

Über die Kultur des Geschichtenerzählens, die selten so absichtslos daherkommt, wie es uns erscheinen mag. 

Printausgabe mediendiskurs: 26. Jg., 3/2022 (Ausgabe 101), S. 56-57

Vollständiger Beitrag als:

Selbst Menschen, für die Anglizismen ein No-Go sind, haben gehört, dass an die Stelle des alten Geschichtenerzählens heute das Storytelling getreten ist. Wie so oft handelt es sich auf den ersten Blick nur um eine schlichte Übersetzung, tatsächlich können beide Begriffe aber durchaus Unterschiedliches meinen. Es verhält sich ähnlich wie beim Begriffspaar „Event“/„Ereignis“: Es soll schon als solche etikettierte Events gegeben haben, die von den Teilnehmenden allerdings keinesfalls als Ereignis empfunden wurden.

Wo von „Storytelling“ die Rede ist, geht es nicht ganz allgemein um irgendwelche Geschichten, sondern um konkrete Ziele. Storytelling kann der Verbesserung der Informationsvermittlung dienen, pädagogisches oder psychotherapeutisches Hilfsmittel sein oder auch ein Marketingtool. Wer vermutet, dass es sich bei Storytelling deshalb um eine Funktionalisierung älterer, freierer Erzählformen handelt, liegt jedoch falsch. Mit dem Erzählen von Geschichten waren immer schon bestimmte Absichten verbunden, nicht zuletzt aus Notwendigkeit. Vor der Schriftkultur gab es nur mündliche Überlieferungen, und selbst danach sollte es noch lange Zeit dauern, bis größere Teile der Bevölkerung des Lesens und Schreibens mächtig waren und so Zugang zu vielfältigen Schriften hatten.
 


Mit dem Erzählen von Geschichten waren immer schon bestimmte Absichten verbunden.



Solange die Kommunikationskultur von Oralität geprägt war, kam dem Geschichtenerzählen zwangsläufig überragende Bedeutung zu. Wer wollte, dass Informationen ein größeres Publikum erreichten und von diesem im Gedächtnis behalten und vielleicht sogar weiterverbreitet wurden, verpackte sie in Geschichten. Wo reine Sachinformationen als kalt und leblos empfunden werden, bieten Geschichten handelnde Personen an, die im besten Fall interessant sind – vielleicht sogar ein bisschen so wie wir. Deshalb begleiten wir sie mit Empathie, verstehen ihre Probleme und Konflikte, hoffen mit ihnen auf einen guten Ausgang der Geschichte. Vielleicht verändern sie sich in deren Verlauf, lernen etwas dazu – und wir mit ihnen, denn zu einer guten Geschichte gehört eine Botschaft oder in älterer Diktion: die Moral von der Geschichte.

Was Art und Relevanz dieser Moral betrifft, ist das Geschichtenerzählen wie Storytelling ausgesprochen vielseitig: Es kann, wie im Märchen, davor gewarnt werden, dass auf Kinder im Wald lebensbedrohliche Gefahren lauern, oder, wie in manchen Werbespots, der Konsum von Süßigkeiten als Hilfsmittel zur Belebung von langweiligen Partys empfohlen werden. Hinsichtlich der eingesetzten Mittel zeichnet beides traditionell Transmedialität aus: Waren in der Antike mündlicher Vortrag, Gesang und Theater die wichtigsten Medien des Erzählens, kamen im Laufe der Mediengeschichte nicht nur neue hinzu, sondern auch ältere Medien veränderten sich und passten sich neuen technologischen, kulturellen und sozialen Kontexten an. Wenn aus oraler Kultur allmählich eine Schriftkultur wird, zu der zwar einige, aber nicht alle Menschen Zugang haben, wird etwa das Vorlesen bedeutsam. Was den Gesang betrifft, so entwickelten sich seit dem Mittelalter immer wieder neue Formen musikalisch gestützten Erzählens, z. B. Bänkellieder, Moritaten und Balladen – bis hin zu Rap.

Neue Technologien verändern das Geschichtenerzählen bis heute: Gamerinnen und Gamer erschaffen mit ihren Spielleistungen ganz eigene Geschichten, und die Story-Funktion, nur kurze Zeit verfügbare Uploads etwa bei Snapchat und Instagram, gehört zu den wichtigsten Features dieser Dienste. Blogs sind nicht nur Nachfahren des Tagebuches, sie verwandeln auch ein altes Medium, bei dem Autor, Gegenstand und Publikum in der Regel weitgehend identisch waren, in ein potenzielles Massenmedium.

Eine gute Geschichte braucht eine gute Dramaturgie. Damit aus sympathischen Charakteren und einem emotional packenden Problem eine spannende Erzählung wird, muss sie richtig aufgebaut werden. Überlegungen dazu gibt es viele, von Aristoteles’ Dramentheorie bis zu Joseph Campbells nicht nur beim Film einflussreichen Modell der „Heldenreise“, das den Helden beim Ruf des Abenteuers abholt und schließlich nach Prüfungen und Bewährung in eine veränderte Welt zurückkehren lässt.
 


Narrative sind zwar Elemente unserer Realität, dürfen jedoch nicht damit verwechselt werden.



Storytelling bewegt sich in einem Spannungsfeld von Fakten und Fiktion. Egal, welche realweltlichen Ziele damit verfolgt werden, dem Erfindungsreichtum beim Erzählen sind Grenzen gesetzt. Was Kindern über Geschichten beigebracht werden soll, hat genauso zu stimmen wie die in einem narrativen Werbespot behaupteten Produkteigenschaften. Dass dieses Spannungsfeld dramatische Konflikte zur Folge haben kann, hat sich vor allem im Journalismus gezeigt. Noch in den 1990er-Jahren wurde es für eine gute Idee gehalten, ein Nachrichtenmagazin mit dem Slogan „Fakten, Fakten, Fakten“ zu bewerben, heute sind dagegen anscheinend Geschichten wichtiger, zumindest deutet der „Relotius-Skandal“ von 2018 darauf hin. Es stellte sich heraus, dass ein u. a. für den „Spiegel“ tätiger Journalist systematisch mit unzutreffenden Behauptungen gearbeitet hatte, weil sie attraktivere Geschichten ermöglichten. Aber nicht nur Print- und Onlinejournalismus müssen Geschichten erzählen, auch audiovisueller Dokumentarismus ist davon betroffen – und sei es mithilfe von „Reenactment“, also zusätzlichen Spielszenen.

In politischen Kontexten kennt man Storytelling unter der Bezeichnung „Narrativ“, womit in Geschichtenform fassbare Weltdeutungen gemeint sind, die Orientierung, Sinn und Handlungsanweisung implizieren können. Als besonders wirkungsmächtig hat sich beispielsweise das hinter dem Slogan „Make America Great Again“ stehende Narrativ erwiesen, das bei der US-Präsidentenwahl 2016 von zentraler Bedeutung war. Doch auch für politische Narrative gilt, dass sie sich letztlich an der Realität messen lassen müssen. Derzeit erlebt dies Wladimir Putin, dessen Angriffskrieg gegen die Ukraine durch verschiedene Narrative abgesichert werden sollte – etwa der „Entnazifizierung“ der Ukraine oder deren eigentlicher Unselbstständigkeit, da sie ja nur ein Teil Russlands sei. Aber einmal mehr bestätigt sich, dass Narrative zwar Elemente unserer Realität sind, jedoch nicht damit verwechselt werden dürfen. Putins Erzählungen werden selbst in Russland immer mehr für Fiktion gehalten.