The next big thing: All the small things

Warum ausgerechnet im Kleinen die nächsten großen Herausforderungen für den Jugendmedienschutz stecken

Stephan Dreyer

Dr. Stephan Dreyer ist Senior Researcher für Medienrecht und Media Governance am Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut (HBI).

Entwicklung und Weiterentwicklung des gesetzlichen Jugendmedienschutzes sind geprägt von politischen und kompetenziellen Pfadabhängigkeiten, aber auch von den großen transformativen und teils disruptiven Veränderungen: Neue Übertragungswege, neue Endgeräte und Nutzungskontexte und immer wieder neue inhaltliche Formate und Genres haben zu neuen Vorgaben auf der Ebene der gesetzlichen Bestimmungen und zu neuen Bewertungskriterien im Rahmen der Spruchpraxis von Prüfstelle, Medienaufsicht und Selbstkontrollen geführt. Eine strukturelle Veränderung, die eine ebenso systematische Reaktion – besser: Erweiterung – des gesetzlichen Rahmens zur Folge hatte, war die zunehmende Nutzung von interaktiven Onlineangeboten durch Kinder. Damit betraten neuartige Phänomene wie Interaktions- und Kommunikationsrisiken die Bühne der jugendschutzpolitischen Diskussion, die zunächst auf Bundesebene durch das 2021 reformierte Jugendschutzgesetz (JuSchG) in den Anwendungsbereich einbezogen wurden und, soweit es um Onlineplattformen mit fremden Inhalten geht, nun in den Anwendungsbereich des Digital Services Act (DSA) mit seinen kinder- und jugendschützenden Vorgaben fallen. An vielen Ecken und Enden des aktuellen Jugendmedienschutzes wird deswegen derzeit gearbeitet und diskutiert, denn die beiden gesetzlichen Zugänge bedeuten paradigmatische Veränderungen in der Governance-Struktur und im Akteursökosystem des praktischen Kinder- und Jugendschutzes (Dreyer/Andresen/Wysocki 2022). Und doch schleicht sich im Hintergrund bereits Neues heran: ganz klein und unscheinbar, aber mit ungeheurer potenzieller Sprengkraft. Dem Großen im Kleinen nähert sich dieser als Ausblick auf die Zukunftsdebatten im Jugendmedienschutz verstandene Beitrag.

Printausgabe mediendiskurs: 28. Jg., 2/2024 (Ausgabe 108), S. 48-53

Vollständiger Beitrag als:

Veränderungen in Angebot und Nutzung: Kurzinhalte und Mini-Fakes

Mit Blick auf die Angebote sind zwei Entwicklungen Beschleuniger von grundlegenden Fragen der Rolle eines zukünftigen Jugendschutzverständnisses: Wir beobachten, wie neue Akteure und neue Formen der Informationsvermittlung auftreten, die insbesondere – aber nicht nur – von Teens und jungen Erwachsenen in der Form sehr kurzer und meist audiovisueller Inhalte genutzt werden (Hasebrink/Hölig/Wunderlich 2021, S. 31). Journalist*innen, Laienjournalist*innen, Influencer, Sinnfluencer, Newsfluencer und natürlich auch „ganz normale“ Menschen mit Sendungsbewusstsein berichten, diskutieren und analysieren die aktuellen Geschehnisse und Herausforderungen unserer Zeit. In Zeiten von „Polykrisen“, vermeintlicher Spaltung sowie Angst um Zukunft und lebenswichtige Ressourcen erfüllen Meinungsbeiträge, Kritik, Reflexionen und Diskussionen von professionellen journalistischen Outlets und von neuen Akteuren in den Informationsrepertoires Jüngerer wichtige Funktionen der Meinungsbildung und der Auseinandersetzung mit der Welt. Was aber eine Massierung belastender Informationen über Krieg, Konflikte, Inflation, Umweltzerstörung, Klima- und Bildungskrise mit jungen Menschen und ihrer Entwicklung macht, ist kaum erforscht (und wegen der komplexen Zusammenhänge kaum erforschbar). Dort, wo derartige Inhalte überhandnehmen und ohne Einordnung und Kontext wirken, mag es aber – vollkommen unjuristisch ausgedrückt – zu Verdruss und Zukunftsängsten aufseiten Jüngerer kommen. Doch ist die tendenziell bedrohliche Weltlage ein Problem des Jugendmedienschutzes? Muss sich Kinder- und Jugendschutz als Garant für „good news“ und „happy places“ verstehen?
 

 

Hinzu treten die in rasanter Geschwindigkeit fortschreitenden Möglichkeiten der Anfertigung von Texten, Bildern und Videos mit Formen generativer künstlicher Intelligenz (z. B. ChatGPT, Midjourney, Sora), die mal mehr, mal weniger erkennbar auch von den jungen Nutzerinnen und Nutzern konsumiert und verbreitet werden. Insbesondere durch immer realistischeren Output haben die in der Regel (noch) kurzen und kleinteiligen Darstellungen die Anmutung von Wahrhaftigkeit. Das fordert die Rahmungskompetenzen Jüngerer heraus. KI erscheint so als Motor der Vermischung von Fiktionalem und Nichtfiktionalem, wobei die Differenzierbarkeit nicht nur aus Sicht von jungen Menschen schwierig ist (Jin u. a. 2023; Ahmed/Chua 2023). Der Verlust dessen, was real bzw. wahrhaftig ist und was erdacht, kann für den Menschen im wahrsten Sinne des Wortes einen Realitätsverlust bedeuten – das Wissen um die Realität, in der wir leben, ist im Umkehrschluss eine Grundvoraussetzung für eine gesunde Entwicklung. Die Differenzierbarkeit von fiktionalen und nonfiktionalen Medieninhalten ist auch für Jüngere insofern eine Gewährleistungsverantwortung des Gesetzgebers: Wo Grenzen zwischen Wahrheit und Künstlichem verschwimmen, können dort auch Fälschungen und Manipulationen zum Gegenstand jugendschutzrechtlicher Betrachtungen werden?

 


Der Verlust dessen, was real bzw. wahrhaftig ist und was erdacht, kann für den Menschen im wahrsten Sinne des Wortes einen Realitätsverlust bedeuten – das Wissen um die Realität, in der wir leben, ist im Umkehrschluss eine Grundvoraussetzung für eine gesunde Entwicklung. “


 

Personalisierte Medienumgebungen: kuratierte Belastungen und einfältige Empfehlungslogiken

Zu den inhaltlichen Herausforderungen treten parallel strukturelle Entwicklungen: Individualisierte Feeds und (hyper‑)personalisierte Angebote und Empfehlungssysteme sind in der Lage, die Sichtbarkeit von bestimmten Inhalten und Weltanschauungen für den Einzelnen zu beeinträchtigen. So können bestimmte – weil vermeintlich für die nutzende Person besonders interessante – Inhalte und Themen besonders stark priorisiert werden, andere Themen ganz in den Hintergrund treten (Narayanan 2023). Nun ist die Gewährleistung von Medienvielfalt aber kein genuiner Teil des Jugendmedienschutzes, sondern ein Aspekt des Ausgestaltungsvorbehalts der Medienfreiheiten aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG. Vielfaltssicherung erscheint vor diesem Hintergrund auch in Bezug auf junge Menschen zunächst als ein Bereich des klassischen Medienrechts. Auf den zweiten Blick aber reguliert der Ordnungsrahmen zur Gewährleistung von Medienvielfalt ausschließlich die Angebotsseite, d. h. derzeit die Anbieter von Rundfunkprogrammen, Medienplattformen, Benutzerschnittstellen und Medienintermediäre wie Suchmaschinen. Die Vielfalt auf Nutzerseite ist dagegen gerade nicht Gegenstand der bisherigen Vielfaltskontrolle (Heidtke 2020, S. 282 f.).

Nicht abschließend beantwortet ist insoweit die Frage, ob und inwieweit solche Vielfaltsverengungen als Entwicklungsbeeinträchtigung zu sehen sein könnten. Eltern gewähren wir hier im Rahmen ihres Erziehungsrechts und ihrer Erziehungsverantwortung aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG durchaus Spielräume bei der Entscheidung darüber, welche mediale Vielfalt sie ihren Kindern zugänglich machen. Erst bei vollständig einseitigen Medienrepertoires, die Eltern ihren Kindern aufoktroyieren, würde (wohl) das Wächteramt des Staates auslösen (Dreyer 2024). Bei Minderjährigen selbst spricht einerseits die Informationsfreiheit der jungen Nutzenden für ihr Recht, sich auch einseitig informieren zu dürfen; andererseits muss gesetzlicher Jugendmedienschutz auch dort seinen verfassungsrechtlichen Auftrag zur Gewährleistung eines unbeeinträchtigten Aufwachsens ernst nehmen, wo Kinder und Jugendliche sich durch ihr eigenes Verhalten in ihrer Persönlichkeitsentwicklung und ‑entfaltung selbst beeinträchtigen. Die sehr einseitige Nutzung von Medienangeboten und ‑inhalten mag insoweit grundsätzlich als eine Form der Selbstschädigung anzusehen sein. Entsprechende Risiken fielen damit in den Oberbereich medialer Nutzungsrisiken. Hier wird weitere Forschung und Abgrenzungsarbeit notwendig sein, um die Einbeziehung oder Ausklammerung vielfaltsvermittelnder Aspekte in bzw. aus dem Jugendmedienschutz zu klären. Klar wird dadurch aber einmal mehr, dass moderner Jugendmedienschutz, der sich als dynamisch verstandener Entwicklungsschutz versteht, zunehmend deutlich als rechtliche Querschnittsmaterie gesehen werden muss, die ganz unterschiedliche und klassischerweise getrennte Rechtsbereiche berührt (Brüggen u. a. 2022, S. 240), darunter das Datenschutz- und Verbraucherschutzrecht, das Sozialrecht, das Gesundheitsrecht, das Wettbewerbsrecht und schließlich auch das zivile Familienrecht.
 

Das Kleinste im Kleinen: massenhafte Mikrobeeinträchtigungen und die Frage nach dem Betrachtungsgegenstand

Die oben angesprochenen Massen an Kurzinhalten führen angesichts der beobachteten Mediennutzung bei Kindern und Jugendlichen zu der Frage nach der Relevanz von vielen für sich genommenen zunächst irrelevanten Kleinstbeeinträchtigungen im Jugendmedienschutz der Zukunft. Abertausende flüchtige Videoclips, Fotos und Posts, dazu in schnell konsumierter Reihenfolge (sogenannter „ephemeral content“), können das Potenzial haben, sich Stück für Stück in die Gedankenwelt des Einzelnen einzubrennen. Hier scheinen mittel- und langfristige Effekte durch eine Vielzahl von ähnlichen Inhalten, durch habitualisierte Rezeptionsformen und durch Erfahren und Lernen von Mikroinhalten – oftmals ohne unmittelbare Einordnungsmöglichkeit bzw. ohne einen neutralen Akteur, der sich darum kümmert – nicht ausgeschlossen (Matthes u. a. 2020; Sharp/Gerrard 2022).

Bislang fokussiert klassischer Jugendmedienschutz auf die Auswirkungen von einem konkreten Medieninhalt im Kontext der jeweiligen Rezeptionssituation. Die Begründung ist, dass ein Medienanbieter für einen entsprechenden Inhalt verantwortlich und gesetzlich adressierbar sein muss. Wenn aber der einzelne mediale Inhalt für sich genommen nur ein vernachlässigbares Beeinträchtigungspotenzial aufweist, erschiene die Inanspruchnahme des entsprechenden Anbieters im Rahmen des Jugendmedienschutzes als unverhältnismäßig. Hier wird es bei einer Sendung, einem Film, einem Spiel, einem (Musik‑)Video oder Ähnlichem als Prüfungsgegenstand bleiben müssen. Nimmt man aber den verfassungsrechtlichen Schutzauftrag im Jugendmedienschutz ernst, muss sich der gesetzliche Rahmen dringend um alternative Anknüpfungspunkte kümmern, wo es um in ihrer Akkumulation und vermeintlichen „Normalität“ im Rezeptionsalltag als nicht mehr irrelevant erscheinende inhaltliche Mikrobeeinträchtigungen geht. Inhaltlich sind die Onlineplattformen nach wie vor und auch angesichts des noch neuen Digital Services Act (DSA) nicht ohne Weiteres verantwortlich. Wo aber Anbieter von Mikroinhalten gleichzeitig Empfehlungsalgorithmen und (Selbst‑)Kuratierungsfunktionen bereitstellen, können derartige Feedbacksysteme als Schutzrisiko zu sehen sein, das in die Anwendungsbereiche von Art. 28 Abs. 1 und Art. 34, 35 DSA fallen könnte. Die Frage ist nicht trivial, da es sich bei diesen Phänomenen letztlich um die Kombinationen aus plattformnutzergenerierten mikrobeeinträchtigenden Inhalten, plattformeigenen Aggregationen bzw. Akkumulationen sowie nutzerseitigen individuellen Kuratierungen und Wünschen handelt, die in der Zusammenschau Beeinträchtigungspotenziale aufweisen. Die Einordnung dieser kombinierten Risikopotenziale und die regulatorische Adressierung stehen daher noch am Anfang.
 


Nimmt man aber den verfassungsrechtlichen Schutzauftrag im Jugendmedienschutz ernst, muss sich der gesetzliche Rahmen dringend um alternative Anknüpfungspunkte kümmern, wo es um in ihrer Akkumulation und vermeintlichen „Normalität“ im Rezeptionsalltag als nicht mehr irrelevant erscheinende inhaltliche Mikrobeeinträchtigungen geht.“


 

Veränderungen und Abbildung gesellschaftlicher Sichtweisen bei medialen „Altlasten“

Jugendmedienschutz ist ein lebendiges System. Die zentralen Rechtsbegriffe sind unbestimmt, um entwicklungsoffen und flexibel auf sich verändernde gesellschaftliche Werte reagieren zu können. Eine Großbewegung in den Wertesystemen und Moralvorstellungen vieler Menschen ist die deutlich stärkere Bewusstwerdung von und Awareness für Phänomene und Handlungen gesellschaftlich-struktureller Ungleichheit und Diskriminierung. Sexismus, Rassismus, Antisemitismus sind Bereiche, in denen eine aus klassischer Sicht bemerkenswerte Veränderung stattgefunden hat: Gesetzlicher Jugendmedienschutz geht von einer liberalen Richtung in der Inhaltebewertung jugendschutzrelevanter Inhalte über Zeit aus (vgl. die Möglichkeit der Listenlöschung in § 18 Abs. 7 JuSchG oder das Beispiel der Abweichung von älteren JuSchG-Freigaben in § 9 Abs. 1 JMStV). Hintergrund ist die Annahme, dass früher noch als problematisch gesehene Inhalte wie Nacktheit, Sexualität oder Gewaltdarstellungen von der Gesellschaft als zunehmend unproblematischer gesehen werden. Diese gesellschaftlichen „Liberalisierungstendenzen“ führen in der Prüfungspraxis regelmäßig dazu, dass ursprüngliche Altersbewertungen nach unten korrigiert werden.

Die überraschende Feststellung angesichts der letzten Jahre ist, dass diese Systemoffenheit für Werteveränderungen auch andersherum funktioniert: Durch gesellschaftliche Diskurse über Würde, Gleichheit, vielfältige Lebenskonzepte, Migration und lautere Stimmen aus zuvor marginalisierten Gruppen wurde mit Blick auf Großthemen wie Feminismus, Rassismus, Intersektionalität, LGBTQ+, aber auch für die kritische Reflexion der Geschichte des Westens (z. B. Sklavenhandel, Kolonialismus) und des systematisch ungleichen Umgangs mit marginalisierten oder vulnerablen Gruppen vermehrt Sensibilität für die Notwendigkeit veränderter moralischer Sichtweisen geschaffen. Diese Diskurse betreffen auch Mediendarstellungen mit Narrativen und Begriffen aus anderen kulturellen oder zeitlichen Kontexten, die nun – aus einer reflektierten Perspektive – nicht mehr als zeitgemäß und vor allem als Inhalt mit entwicklungsbeeinträchtigenden Potenzialen erscheinen. Bei derartigen Inhalten kommt es nun zu einer kritischen (Neu‑)Bewertung angesichts des sensibleren Umgangs mit derartigen Themen – und in der Folge zu einer möglichen erhöhten Altersklassifikation oder neuen Schnittauflagen.

Der Umgang mit diesen in der Regel bzw. in Spitzen einzelner Sendungen nur wenige Augenblicke andauernden „Altlasten“ im Jugendmedienschutz wird ebenfalls eine Herausforderung sein, bei der nicht nur „alte“ und „neue“ Werte zu berücksichtigen sind, sondern auch Fragen der Möglichkeit der kulturhistorischen Einordnung.
 

 

Wie politisch darf und muss Jugendschutz sein, wenn es um die Sicherung von Demokratie(‑fähigkeit) geht?

Die Berücksichtigung einer stärker auf Inklusion und Humanismus achtenden Weltanschauung verweist insgesamt auf eine fundamentale Frage zur Rolle des Jugendmedienschutzes – insbesondere dort, wo neue Sensibilitäten von Teilen der Bevölkerung vehement negiert oder gar bekämpft werden (Stich- und in bestimmten Kreisen Schimpfwort „wokeness“). Durch die Ausdifferenzierung und Fragmentierung von medienvermittelten und medial konstruierten Öffentlichkeiten entsteht in digitalisierten Gesellschaften eine besondere Dynamik: Aus „den jeweils vorherrschenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen“ im Sinne einer sich auch in den Massenmedien widerspiegelnden aktuellen Sichtweise der Gesellschaft wird unter digitalen kommunikativen Vielkanal- und Plattformbedingungen eine neue Vielfalt vorherrschender Weltanschauungen und Moralen. Diese Wertevielfalt war zuvor schon existent, sie ist aber durch bessere kommunikative Teilhabe aller nun deutlicher zu beobachten, und Zweifel, Gegenrede und (auch) gegenseitige Anfeindungen zwischen unterschiedlichen Moralvorstellungen sind für alle sichtbar.
 


Im Jugendmedienschutz und seiner Praxis eine Balance zwischen der Abbildung neuer gesellschaftlicher Strömungen einerseits und der Wahrnehmung eher konservativer bzw. bewahrender, teilweise vereinfachender, teilweise rückwärtsgewandter Moralwelten zu finden, ist eine große Herausforderung.“



Im Jugendmedienschutz und seiner Praxis eine Balance zwischen der Abbildung neuer gesellschaftlicher Strömungen einerseits und der Wahrnehmung eher konservativer bzw. bewahrender, teilweise vereinfachender, teilweise rückwärtsgewandter Moralwelten zu finden, ist eine große Herausforderung. Implizit ging Jugendmedienschutz von so etwas wie einer einigermaßen konsensualen Wissens- und Wertebasis aus, wenn er die „gesellschaftlichen Werte“ widerspiegelt; die Ermittlung eben dieser aber gestaltet sich zunehmend schwierig, wo sich die Sichtweisen mehr oder weniger diametral gegenüberstehen und jeweils von jedenfalls nicht nur vernachlässigenden Teilen der Gesellschaft so gesehen (und in den familialen Erziehungsalltag eingebaut) werden.

Das führt zu der Problematik, dass Jugendschutz als wertebezogenes System diese Werte „liest“ und aufnimmt, in der Spruchpraxis zur Anwendung bringt, in Entscheidungsmaßstäben berücksichtigt und – etwa in Form von Alterskennzeichen oder Inhaltsdeskriptoren – wieder zurück in die Gesellschaft vermittelt. Besteht Streit über Werte, erbt der Jugendschutz diese Diskussionen. Da Jugendmedienschutz aber stets Entscheidungen treffen muss – er kann nicht einfach nicht entscheiden –, müssen die relevanten Akteure den Streit intern spiegeln und in Entscheidungen verarbeiten, selbst wenn die gesellschaftliche Aushandlung noch nicht abgeschlossen ist. Dann aber gibt es keine „neutrale“ Jugendschutzentscheidung, sie wird immer normativ sein. Gerade in gesellschaftlich umstrittenen, emotional vertretenen und politisch aufgeladenen Gesellschaftsthemen gerät Jugendmedienschutz so unausweichlich in den Verdacht eines politischen bzw. jedenfalls politisierbaren Agenda-Setters. Das macht Jugendschutz zur Zielscheibe teilgesellschaftlicher Kritik und birgt ein Akzeptanzrisiko, wo die Wirksamkeit in der Praxis auf breite Akzeptanz angewiesen ist, wie z. B. auf Elternseite. Das Fatale daran: Für die gesellschaftlichen Diskurse können die Jugendschutzakteure nichts, dennoch trifft sie die ganze Breitseite der jeweiligen Kritiker einer bestimmten Sichtweise oder Entscheidung. Und egal, in welche Richtung die genutzten Maßstäbe und moralischen Überlegungen eine Entscheidung letztlich führen: Der Jugendmedienschutz kann es nie allen recht machen.

In der Folge der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen über gleich mehrere zentrale Themen und grundlegende Wertvorstellungen ist absehbar, dass dem Jugendmedienschutz schwierige Zeiten bevorstehen. Je mehr er sich auf die Seite einer der divergierenden Weltanschauungen stellt, als umso normativer und mit einer bestimmten politischen Agenda verknüpften Seite wird er wahrgenommen werden. Das führt zu der zentralen Frage: Wie politisch darf und muss Jugendschutz sein? Welche Rolle kommt ihm in Zeiten von Populismus und sich verbreitenden extremistischen Ansichten zu bzw. kann ihm hier zukommen? Sicher bleibt, dass sich die Schutzziele des Jugendmedienschutzes stets auf die Verfassung stützen müssen, dass die Eigenverantwortlichkeit und Gemeinschaftsfähigkeit als zentrale Ergebnisse einer beeinträchtigten Persönlichkeitsentwicklung von Minderjährigen unverändert Bestand haben und dass aus beidem gemeinsam auch die Gewährleistung zur Demokratiefähigkeit von jungen Menschen folgt. Die Verfolgung der Schutzziele ist nicht nur Selbstzweck mit Blick auf das gesunde Aufwachsen von Kindern, sie dient auch der Sicherung demokratieorientierter nachfolgender Generationen.
 

Literatur:

Ahmed, S./Chua, H. W.: Perception and deception: Exploring individual responses to deepfakes across different modalities. In: Heliyon, 10/2023/9. Abrufbar unter: https://doi.org/10.1016%2Fj.heliyon.2023.e20383

Brüggen, N./Dreyer, S./Gebel, C./Lauber, A./Materna, G./Müller, R./ Schober, M./Stecher, S.: Gefährdungsatlas. Digitales Aufwachsen. Vom Kind aus denken. Zukunftssicher handeln. Bonn 20222

Dreyer, S.: Kinderrechte, Erziehungsprivileg und die Mehrfachrolle des Staates: Medienerziehung aus der Perspektive von Grund- und Menschenrechten. In: S. Fleischer/D. Hajok (Hrsg.): Medienerziehung in der digitalen Welt. Grundlagen und Konzepte für Familie, Kita, Schule und Soziale Arbeit. Stuttgart 20242 (im Erscheinen)

Dreyer, S./Andresen, S./Wysocki, N.: The best is yet to come? Folgen der sich wandelnden Regulierungsansätze im Jugendmedienschutz. In: JMS-Report, 6/2022, S. 2–5. Abrufbar unter: https://doi.org/10.5771/0170-5067-2022-6-2

Hasebrink, U./Hölig, S./Wunderlich, L.: #UseTheNews. Studie zur Nachrichtenkompetenz Jugendlicher und junger Erwachsener in der digitalen Medienwelt. Hamburg 2021. Abrufbar unter: https://leibniz-hbi.de

Heidtke, A.: Meinungsbildung und Medienintermediäre. Vielfaltssichernde Regulierung zur Gewährleistung der Funktionsbedingungen freier Meinungsbildung im Zeitalter der Digitalisierung. Baden-Baden 2020

Jin, X./Zhang, Z./Gao, B./Gao, S./Zhou, W./Yu, N./Wang, G.: Assessing the perceived credibility of deepfakes: The impact of system-generated cues and video characteristics. In: New Media & Society, September 2023. Abrufbar unter: https://doi. org/10.1177/14614448231199664

Matthes, J./Karsay, K./Schmuck, D./Stevic, A.: „Too much to handle“. Impact of mobile social networking sites on information overload, depressive symptoms, and well-being. In: Computers in Human Behavior, 5/2020/105, 106217. Abrufbar unter: https://doi.org/10.1016/j.chb.2019.106217

Narayanan, A.: Understanding Social Media Recommendation Algorithms. In: Knight First Amendment Institute 2023. Abrufbar unter: https://knightcolumbia.org

Sharp, G./Gerrard, Y.: The body image „problem“ on social media: Novel directions for the field. In: Body Image, 9/2022/41, S. 267–271