Darstellungen sexualisierter Gewalt:
Wirkungsfaktoren und besondere Bedarfe verantwortlicher Gestaltung
Darstellungsformen und Wirkungspotenziale sexualisierter Gewalt
Darstellungen sexualisierter Gewalt sind in audiovisuellen Medien praktisch allgegenwärtig und ziehen sich durch eine große Reihe unterschiedlicher Programmsparten und filmischer Genres. Im Rahmen einer Programminhaltsanalyse konnte eine Studie aus 2021 zeigen, dass ein Drittel der TV-Sendungen über den Vorabend und die Primetime (18:00–22:00 Uhr) geschlechtsspezifische Gewalt thematisiert oder enthält (Linke/Kasdorf 2023). Entsprechende Darstellungen sind insoweit kein Nischenthema des Jugendmedienschutzes, sondern integraler Bestandteil der Prüfpraxis.
Begriffliche Annäherung und Erscheinungsformen
Darstellungen sexualisierter Gewalt, verstanden als sexuelle Handlungen, die einer Person aufgedrängt oder aufgezwungen werden, zeigen Aggressionen, die in der Regel innerhalb von Machtverhältnissen ausgeübt werden. Sexualisierte Gewalt setzt eine bewusste Entscheidung voraus; sie soll die betroffene Person erniedrigen und unterwerfen. Angesichts der größtenteils weiblichen Opfer (auch bei Darstellungen) sexualisierter Gewalt ist der Begriff eng verschränkt mit Darstellungen geschlechtsspezifischer Gewalt. Darunter verstanden werden alle sichtbaren, hörbaren und szenisch dargestellten Handlungen, die zu körperlichen, sexuellen, psychischen oder wirtschaftlichen Schäden oder Leiden führen bzw. führen können, die sich gegen eine Person aufgrund ihres biologischen oder sozialen Geschlechts richten. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Gewalt oder Gewaltandrohung innerhalb oder außerhalb häuslicher, familiärer Konstellationen oder in der Öffentlichkeit erfolgt und ob die Gewalt durch körperliche, psychische oder wirtschaftliche Handlungen ausgeübt wird.
Der Darstellungsbegriff umfasst nicht nur tatsächlich dargestellte Handlungen, die sexualisierte Gewalthandlungen explizit sichtbar machen, sondern auch konkrete Erzählungen tatsächlich geschehener Gewalt sowie die Darstellung von Folgen entsprechender Gewalthandlungen.
Die benannte Studie zeigte, dass im Kontext der Gewaltdarstellungen kaum eine Adressierung der strukturellen Dimension geschlechtsspezifischer Gewalt stattfand, etwa durch Einbeziehung von Einordnungen durch Aktivist*innen und Professionelle der Antigewaltarbeit. Auch Triggerwarnungen, Vorabhinweise oder Verweise auf bestehende Beratungsangebote für Betroffene sind die absolute Ausnahme. Die Opferperspektive bzw. die Stimme von Betroffenen im Rahmen der Gewaltdarstellungen wird bei einschlägigen Darstellungen nur selten einbezogen (8 % im Rahmen der Studie).
Liebe tötet nicht (Love does not kill [2023]) Laura Volgger – Neue Schule für Fotografie Berlin / Netzwerk der brandenburgischen Frauenhäuser (NbF e. V.), CC BY-NC 4.0, bearbeitet (Bild: © Laura Volgger)
Wirkmächtigkeiten sexualisierter Gewaltdarstellungen
Darstellungen sexualisierter Gewalt umfassen als jugendschutzrelevante Medieninhalte zunächst begriffsimmanent Darstellungen von Sexualität und Gewalt, die je für sich negative Wirkungspotenziale auf die unbeeinträchtigte Entwicklung von Kindern und Jugendlichen aufweisen können. Die Verbindung von Sexualität und Gewalthandlungen (Sex-Gewalt-Komplex) stellt dabei aber einen speziellen Wirkungsfall dar, der besondere Potenziale für Ängstigung und sozial- bzw. sexualethische Desorientierung bereithält.
Insgesamt sind ästhetisierende Darstellungen, die vor allem auf die Täter oder den Akt der sexualisierten Gewalt fokussieren, in der Lage, Ängste zu schüren und die Empathie mit den Opfern zu verringern.“
So kann sexualisierte Gewalt – insbesondere im Rahmen sensationalisierender Darstellungen – Schock, Empörung oder intensive Neugier auslösen und so zu einer verzerrten Wahrnehmung der Realität führen, in der sie als außergewöhnlich und nicht als Teil eines breiteren sozialen Problems angesehen wird. Im Gegenzug können sehr häufige und wiederholte Darstellungen zur Normalisierung und Banalisierung entsprechender Handlungen führen, wenn sie als normal oder alltäglich angesehen werden und die Schwere der darin enthaltenen Grenzverletzungen heruntergespielt wird. Auch Erzählungen, die Täter (und seltener: Täterinnen) heroisieren, können entsprechende Taten normalisieren und das Leid der Opfer banalisieren. Insgesamt sind ästhetisierende Darstellungen, die vor allem auf die Täter oder den Akt der sexualisierten Gewalt fokussieren, in der Lage, Ängste zu schüren und die Empathie mit den Opfern zu verringern. Insbesondere die geschlechtsspezifische Ästhetisierung und die nicht selten damit einhergehende Hypersexualisierung von Körpern können Kinder und Jugendliche zudem in ihrer sozial- bzw. sexualethischen Orientierung beeinträchtigen. Schließlich sind auch Formate besonders problematisch, die wenig Rücksicht auf die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen (in Teilen auch die der Täter*innen) nehmen. Aus Jugendschutzsicht moderierend für Kinder und Jugendliche wirken dagegen kritische Framings. Eine Kommentierung oder anderweitige Problematisierung kann helfen, die Gewalt distanziert einzuordnen und ihre strukturelle Dimension als gesamtgesellschaftliches Problem zu begreifen.
Retraumatisierung als besonderer Wirkungsfaktor?
Ein besonderer Fokus der Befassung im Kuratorium lag daneben auf möglichen Gefahren der Retraumatisierung Betroffener durch Darstellungen von sexualisierter Gewalt in den Medien. Legt man den Bewertungsmaßstab des „gefährdungsgeneigten Minderjährigen“ bei jugendschutzrechtlichen Bewertungen zugrunde, können Opfer sexualisierter Gewalt als Medienrezipient*innen mit besonderem Beeinträchtigungspotenzial zu sehen sein (Vobbe/Kärgel 2022, S. 203).
Retraumatisierung beschreibt entsprechend Situationen des starken emotionalen Wiedererlebens von traumatischen Ereignissen.“
Trauma wurde dabei – im Gegensatz zu Stresssituationen und Krisen – verstanden als Situation, in der die emotionale und kognitive Ebene der betroffenen Person so stark auseinanderfallen, dass eine Überwindung in der Regel nur mit externer Hilfe möglich ist. Traumasymptome Betroffener sind u. a. Kontrollzwang, Flashbacks, Panikattacken, Aggressionen und letztlich Formen der Dissoziation ohne Möglichkeit der Ansprechbarkeit. Retraumatisierung beschreibt entsprechend Situationen des starken emotionalen Wiedererlebens von traumatischen Ereignissen. Dabei sind die Trigger für das Wiedererleben von Traumata allerdings individuell unterschiedlich und oft nicht vorhersehbar, sodass es nie gänzlich ausgeschlossen erscheint, dass es im Rahmen audiovisueller Darstellungen zu Retraumatisierungen Betroffener kommen kann. Insbesondere bei betroffenen Kindern und Jugendlichen kommen als mögliche häufige Traumatrigger z. B. Szenen von engen Räumen, Eingesperrtsein oder sexueller Gewalt in Betracht, in denen die dargestellten Opfer minderjährig sind. Hier wird davon ausgegangen, dass Flashbacks wahrscheinlicher als bei anderen Darstellungen sind.
Im Hinblick auf die Prüfpraxis stellt sich die Frage, ob sich im Rahmen der Altersbewertung anhand spezifischer Darstellungsformen automatisch spezielle Aufmerksamkeitspunkte für eine besondere Gefährdung ergeben, d. h. inwieweit Möglichkeiten medieninduzierter Retraumatisierung als ein Kriterium der Jugendschutzrelevanz zu berücksichtigen wären. Bisheriger Stand der Diskussion ist aber, dass die Maßstabsbildung besonders schwierig ist, da Trigger hochgradig individuell wirken und eine fixe Operationalisierung zumindest zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich erscheint.
Darstellungen sexualisierter Gewalt aus Kindersicht
Ein zentraler Zugang zur jugendschutzrechtlichen Bewertung möglicher Medienwirkungen sexualisierter Gewalt ist zudem – natürlich – die Perspektive von Kindern und Jugendlichen. Die systematische Erforschung der Wahrnehmung von entsprechenden Darstellungen aus Kindersicht ist allerdings ethisch hochgradig schwierig. Auch der empirische Nachweis kausaler Zusammenhänge zwischen der Rezeption sexualisierter Gewaltdarstellungen und Entwicklungsbeeinträchtigungen ist methodisch voraussetzungsvoll, sodass hier nur sehr wenige aktuelle Erkenntnisse existieren.
Bekannt ist, dass der Nutzungskontext der Medienrezeption ein wichtiger Wirkungsfaktor ist, der aber gerade nicht objektivierbar bzw. im Rahmen von Jugendschutzbewertungen operationalisierbar ist. Was wir aus Befragungen von Kindern und Jugendlichen wissen, ist, dass der Gewaltbegriff und das Gewaltverständnis bei Kindern teils stark voneinander abweichen – und zwar sowohl innerhalb einer Altersgruppe als auch im Vergleich zu erwachsenen Befragten.
Besondere Verständnisschwierigkeiten
Besondere Einordnungsschwierigkeiten bei Darstellungen sexualisierter Gewalt begegnen Jüngeren bei der Abgrenzung fiktionaler und nonfiktionaler Inhalte: Je jünger die Rezipient*innen sind, desto schwerer fällt ihnen die eindeutige Aussage, ob es sich bei einem Medieninhalt um eine Darstellung realer Geschehnisse oder doch um eine Geschichte handelt. Wesentlich für die Wirkung von sexualisierter Gewalt in einem Medienprodukt ist vor diesem Hintergrund der einordnende Kontext, in dem eine Gewalthandlung stattfindet. Einer weiteren Herausforderung sehen sich Jüngere bei der Einschätzung gegenüber, wann ein Einverständnis in die Vornahme gewaltbegleiteter sexueller Handlungen vorliegt (Rough Sex). Insbesondere Kindern und jungen Jugendlichen fehlt das Verständnis für die Form und die Umstände wie insbesondere die Ausdrücklichkeit der Einwilligung bzw. der Konsensualität mit Blick auf Darstellungen, die Sex und Gewalt verschränken und dies als lustvoll darstellen.
Annäherung an entwicklungsbezogene Wirkungsfaktoren
Was auf Grundlage der bestehenden Kenntnisse über die Wirkung sexualisierter Gewalt auf Kinder und Jugendliche klar ist: Die zentralen Wirkungsfaktoren sind äußerst vielfältig. Wie ein entsprechender Inhalt auf eine*einen Minderjährige*n wirkt, ist u. a. abhängig vom Alter, dem familialen Kontext und der (Medien‑)Sozialisation, dem jeweiligen Nutzungskontext, der konkreten Darstellungsform (etwa im Hinblick auf Drastik der Darstellung, Identifikationspotenziale mit Pro- und Antagonist*innen und die Lebensnähe der Darstellung), der Einbettung in eine etwaige größere Erzählung, möglichen Triggern und kritischen bzw. moderierenden Einordnungen (siehe oben) und schließlich der Disposition des Einzelnen.
Zusammenschau im Kontext der Prüfpraxis und „good practice“
Mit Blick auf die derzeitige Prüfpraxis der FSF konnte das Kuratorium feststellen, dass Darstellungsformen sexualisierter Gewalt auf Basis der vorhandenen Prüfordnung und Prüfrichtlinien grundsätzlich adäquat adressiert werden können und werden. Insbesondere berücksichtigen die Prüfausschüsse und die hauptamtlichen Prüfer*innen der FSF Aspekte der Gewaltdimension (Gewaltbefürwortung, Opferperspektive, Verharmlosen von Leid), Rollenklischees (mit Blick auf Macht und Porno-Ästhetik) und die Aspekte der Darstellung von Sexualität (ausgefallene sexuelle Spielarten, Relevanz des Consents, Normalisierung, sozialen Druck und Nachahmungspotenziale) sowie Wirkungspotenziale im Hinblick auf sozialethische Desorientierung wie die Ästhetisierung und Hypersexualisierung als Herausforderung für das Selbstbild von Jüngeren und die möglicherweise verzerrte Wahrnehmung mit Blick auf Sexualstraftaten. Auch die strukturelle Dimension bei geschlechtsspezifischer Gewalt und die Berücksichtigung moderierender Präventionsgedanken werden im Prüfalltag der FSF bereits beachtet. Soweit die Prüfrichtlinien die oben beschriebene besondere Wirkmächtigkeit der Verschränkung von Sex, Gewalt und sexueller Gewalt zur Durchsetzung von Einzelinteressen noch nicht ausdrücklich adressieren, hat das Kuratorium der Geschäftsstelle Unterstützung bei der Diskussion über ausdrücklichere Formulierungen in den Richtlinien in Aussicht gestellt. Das Kuratorium war sich im Rahmen der Befassung mit vorliegenden Studien einig, dass mit Blick auf die Praxis der Sender wesentlich ist, weiter für das Thema zu sensibilisieren und Entscheidungsmaßstäbe zu schärfen. Geplant ist vor diesem Hintergrund, Hilfestellungen für die Prüfung und insbesondere für die Abgrenzung von 12er- und 16er-Inhalten auf Senderseite zu entwickeln: Eine Handreichung für Produktion und Redaktion soll die Inszenierungsweisen und Formen der Ästhetisierung von sexualisierter Gewalt kritisch reflektieren und „good practices“ aufzeigen.
Solche Hinweise auf gute Praktiken im Senderalltag können insbesondere Inhaltswarnungen bei besonders „triggeraffinen“ Inhalten als effektive Ex-ante-Möglichkeit der Verhinderung von Retraumatisierungen sein. Außerdem sind zusätzliche Informationen zu Beratungsangeboten als Maßnahmen während oder kurz nach einer Ausstrahlung mit relevanten Darstellungen ein Service, der Betroffenen oder besonders Gefährdeten als Hilfestellung dienen kann. Wenn die eingeblendeten Hilfs- und Beratungsangebote zudem besondere Anforderungen an die Anonymität und Niedrigschwelligkeit der Beratung erfüllen und bestenfalls im Vorhinein über die Einblendung darüber informiert wird, können sich Beratungsstellen optimal vorbereiten, Ratsuchende können entsprechend gut versorgt werden. Dabei ist es wichtig, die Qualität der Informationen und die Seriosität und Professionalität der Beratungsoptionen fortwährend zu überprüfen. Angesichts der Kenntnisse über spezielle prototypische Triggerdarstellungen bei Kindern und Jugendlichen wird für einen besonders verantwortungsvollen Umgang mit Darstellungen, in denen Kinder Opfer von Gewalt und Missbrauch werden, plädiert.
Davon unabhängig mahnt das Kuratorium aber an, zukünftig auch die Wirkmächtigkeit der strukturellen Dimension der Darstellung sexualisierter Gewalt im Blick zu behalten, um größere Muster und Wirksamkeiten immer wieder ähnlicher Darstellungen insbesondere von Frauen als Opfern nicht aus dem Blick nachhaltiger und kumulativer Medienwirkungen zu verlieren.
Literatur:
Linke, C./Kasdorf, R.: Audiovisuelle Repräsentation geschlechtsspezifischer Gewalt: Theoretische Überlegungen und empirische Befunde. In: E. Grittmann/K. F. Müller/C. Peil/J. Pinseler (Hrsg.): Medien und Ungleichheiten. (Trans‑)nationale Perspektiven auf Geschlecht, Diversität und Identität. Magdeburg 2023, S. 1–12. Abrufbar unter: www.ssoar.info
Vobbe, F./Kärgel, K.: Sexualisierte Gewalt und digitale Medien. Reflexive Handlungsempfehlungen für die Fachpraxis. Wiesbaden 2022
Stephan Dreyer ( Foto: HBI)
Christine Linke (Foto: Tom Wagner)
Kathrin Demmler (Foto: Ulrike Frömel)