Tinder, das Selbst und die anderen

Johanna Degen

Johanna Degen forscht und lehrt als Sozialpsychologin am Internationalen Institut für Management und Ökonomische Bildung der Europa-Universität Flensburg.

Mobiles Onlinedating ist gekennzeichnet durch Charakteristika der Beschleunigung, kontinuierlicher Bewertung durch anonyme andere sowie eine liberalisierte Logik des Selbst.1 Es wirkt über die etablierte digitale Praxis auf die analoge Lebenswelt, auf soziale Praxen und das Wohlbefinden der User zurück. Dabei zeigen sich positive wie negative Effekte, einerseits nutzen Subjekte Tinder für die Sozialisierung, Coping in Krisen und als pragmatische Lösung im Umgang mit den aktuellen Lebensbedingungen. Andererseits wird berichtet von dezidiertem Stress, abhängigkeitsähnlichem Verhalten und negativen Effekten auf Emotionen, Selbstwert und Selbstbewusstsein.

Printausgabe tv diskurs: 24. Jg., 4/2020 (Ausgabe 94), S. 30-33

Vollständiger Beitrag als:

 

Mediierte Partnersuche, eine etablierte soziale Praxis

Waren es früher vor allem Familie und Verwandte, später Freunde und der Umgangskreis, die die Partnersuche mediiert haben, so etablierten sich in der Entwicklung professionelle Agenturen, die ortsansässig bei der Partnersuche geholfen haben, „der Heiratsvermittler“ in der Stadt. Später kam die Zeit der Onlineagenturen, die auch überregional nach einer Auswahl passender Partnerinnen bzw. Partner gesucht haben. Diesen Formen der Partnersuche ist gemein, dass sie über eine Vielzahl persönlicher und komplexer Angaben über die zu vermittelnden Personen verfügen und ein möglichst passendes Match suchen.

Beim mobilen Onlinedating via App und Smartphone werden mehrere dieser Faktoren grundsätzlich verändert. Die Partnersuche ist gekennzeichnet vom Aufenthaltsort, per GPS werden dabei Personen im geografischen Umfeld gematcht. Der Prozess wird selbstbestimmt, selbstverantwortet und meist alleine bestritten. Entscheidungen und Passung basieren auf minimalen Informationen. Es wird eher einer quantitativen Logik vom Streben nach hoher Grundgesamtheit an Matches statt qualitativ passenden Matches gefolgt. Serialität beim Dating wird von Parallelität abgelöst.
 

Alles in allem hochspezifische Charakteristika, die auf Subjekte wirken und zu denen sich dann Subjekte spezifisch responsiv verhalten.


Profile beim mobilen Onlinedating sind innerhalb weniger Minuten erstellt, sie bestehen obligatorisch aus Angaben zum Alter, Geschlecht und sexueller Orientierung sowie aus der Freigabe des Standortes per GPS. In der Praxis zeigt sich, dass zusätzlich von mehr als 99 % ein optionales Profilbild hochgeladen wird, bei dem meistens das Gesicht und oftmals der Körpertyp zu sehen sind. Bei Tinder können dann bis zu acht weitere Bilder, Angaben zu Beruf und Ausbildung, ein Link zu Spotify und zu der eigenen Playlist oder auch zum Instagram-Profil sowie ein Profiltext mit bis zu 500 Zeichen hinzugefügt werden. Unsere Forschung (Degen/Kleeberg-Niepage 2020) zeigt, dass in der täglichen Praxis die Möglichkeiten für Profilangaben tendenziell nicht ausgeschöpft werden, die erste Entscheidung – „like“ oder „dislike“ – wird eher auf der Basis weniger Informationen getroffen und optional vorhandene Profiltexte werden zunächst wenig beachtet. Mehr als ein Drittel verzichtet auf einen Profiltext, und über 20 % füllen diesen ausschließlich mit Emojis.

Nach dem Anlegen des Profils erscheinen hintereinander potenzielle Profile, die sich in einem Wunschradius zwischen einem und maximal 160 Kilometern befinden. Um das nächste Profil vorgeschlagen zu bekommen, muss der User nach links – „dislike“ – oder rechts – „like“ – wischen, erst dann wird das nächste Profil vorgeschlagen, ein Blättern wie im Katalog ist nicht möglich. Geben sich zwei User beidseitig ein Like, entsteht ein Match und die Personen können Kontakt zueinander im Chat-­Bereich der App aufnehmen. In der Gratisversion der Applikation haben User bis zu hundert Likes pro Tag zur Verfügung, es zeigt sich aber, dass mehr als die Hälfte für ein Upgrade zahlt, vor allem, um ohne Limit liken zu können und so die Chance auf viele Matches zu erhöhen. Es etabliert sich eine kollektive Praxis des schnellen Swipens, bei dem vor allem das erste Profilbild angeschaut wird und Entscheidungen innerhalb von Sekunden in dynamischer, spielerischer Handhabe getroffen werden. Entsteht ein Match, wird das mit einer Animation zelebriert und von der App angeboten, direkt weiterzuswipen – eine Praxis, die von den Usern in der Mehrzahl genauso gehandhabt wird. Es entstehen separierte Nutzungsprozesse, wer swipt, wechselt in diesem Modus selten zum Chat und umgekehrt.
 

Positive Effekte: pragmatische Lösung und Coping Tool

Mobiles Onlinedating zeigt sich als zweischneidiges Schwert, es etabliert sich eine mitunter ambivalente Praxis mit gleichzeitigen positiven wie negativen Effekten. Auf der einen Seite dient es als pragmatisches Tool, um soziale Grenzen zu überwinden, z.B. Menschen aus anderen Milieus zu treffen oder soziale Gewohnheiten zu erweitern. Für manche User bietet Tinder die Chance, nach einer langen Arbeitswoche und vollem Kalender noch einen Weg zu finden, jemanden kennenzulernen. Andere haben aus persönlichen Krisen, z.B. nach einer Scheidung, „ins Leben zurückgefunden“, sich mithilfe von Tinder aus Beziehungen lösen oder schlicht ihren Selbstwert und ihre persönliche Flirterfahrung zur eigenen Zufriedenheit steigern können.

Für andere User wird es geradezu zu einem ernst zu nehmenden Coping Tool in Krisenzeiten und bei subjektiver Not. User berichten, so soziale Angst zu überwinden oder sich sozial in neuen Umgebungen zu etablieren. In der Forschung zur Pandemie zeigt sich, dass unter der Isolation Menschen – z.B. mit akuter Umweltangst und Gefühlen von Einsamkeit – Anschluss und Ablenkung beim Tindern finden konnten und ihre Funktionalität mit dem digitalen Austausch, durch Zeitvertreib, Ablenkung, mit reflexiver gemeinsamer Auseinandersetzung, sozialer Bestätigung und digitaler Nähe bearbeitet haben.
 

Negative Effekte: Dissonanz, Ambivalenz und soziales Verhalten

Auf der anderen Seite zeigen sich von den Usern als belastend beschriebene Aspekte, und zwar bezogen auf die eigene Nutzung und das eigene Verhalten sowie negative Effekte durch die App und das dort etablierte kollektive Verhalten. Die ständige Verfügbarkeit und der Drang, kontinuierlich weiterzuswipen, werden mitunter als Stressfaktor und als stark belastend empfunden, was mithin die Funktionalität z.B. in Bezug auf die Arbeit negativ beeinträchtigen kann. Dabei werden mitunter abhängigkeitsähnliche Verhaltensweisen beschrieben; User versuchen, sich dabei selbst Restriktionen aufzuerlegen, deinstallieren und installieren im ständigen Wechsel die Applikation, gehen auf „Entwöhnung“ oder berichten, dass ihr soziales Umfeld ihnen spiegelt, sie seien seit dem Gebrauch weniger sozial im zwischenmenschlichen Umgang geworden. Dies hängt u.a. mit der etablierten Praxis des Entmatchens, bei der ein Match wortlos aufgelöst wird und eine Kontaktaufnahme danach nicht mehr möglich ist, sowie mit der etablierten Parallelität der damit einhergehenden, allseits empfundenen Austauschbarkeit zusammen. Diese Praxen werden von durchweg allen Teilnehmern als stark verunsichernd und schmerzhaft beschrieben.
 

User sind gleichzeitig fasziniert und gestresst von der Fülle der verlockend scheinenden Auswahl, die unmittelbar ständig verfügbar scheint.

Dadurch werden seltener zweite Chancen gegeben, längere Aufmerksamkeit und näheres Kennenlernen tendenziell reduziert: „95 % toll sein, reicht dann irgendwie nicht mehr aus, ich weiß, dass das dumm ist“; „Man swipt dann schon beim Date auf der Toilette weiter“: ein kollektiver Wechsel von Serialität zu Parallelität beim Daten, eine digitale Praxis, die sich in den analogen Raum verlagert. Beim kontinuierlichen Suchen eines qualitativ bestmöglichen Matches gehen Prozesse von quantitativer Validierung des Selbst durch möglichst viele Matches einher mit einer Optimierung des Profils. Die negativen Effekte werden dabei mit „mehr vom Gleichen“ kompensiert, das bedeutet: Wer entmatcht, enttäuscht oder verletzt wurde, swipt schnell weiter.
 

Normen, die anderen und urbane Mythen

Mehrheitlich suchen Tinder­-User vor allem echte Gefühle, besondere Momente und vielfach auf Dauer einen oder den einen Partner. Die oft gehörte Annahme, es handle sich vor allem um eine Hook­-up­-App, spiegelt sich nur bei einem kleinen Teil der Userinnen und User in unserer und anderer aktueller Forschung. Stattdessen zeigen sich vielfältige Motive und vor allem eine Relokalisierung von komplexen sozialen Aushandlungsprozessen und Prozessen des Selbst. Dabei herrschen zwischen den Geschlechtern skeptische und stereotype Vorannahmen, die auch auf das eigene Geschlecht angewendet werden. Frauen, die Tinder nutzen, stehen dabei tendenziell unter dem Verdacht, promisk zu sein. Von Männern wird angenommen, sie seien entweder verzweifelt auf der Suche nach etwas Festem oder Player und nur an körperlichem Austausch interessiert. Beides zeigt sich in der Forschung eher nicht: Sowohl Frauen als auch Männer beziehen sich vielfach auf urbane Mythen, berichten von Paaren, die sie kennen oder von denen sie gehört haben, die sich auf Tinder kennengelernt haben, und sprechen die vorsichtige Hoffnung aus, auch jemanden zu finden: „eigentlich möchte ich ein Baby, einen Partner dafür werde ich auf Tinder kaum finden, ich bin aber trotzdem oft online.“

Die tendenzielle Abwertung der anderen und das Herunterspielen der eigenen Hoffnung scheinen hierbei eher als Schutzfunktion zu dienen: Schutz vor etwaiger Enttäuschung oder Verletzung, daneben spielt auch eine mögliche Stigmatisierung fortwährend eine Rolle.

In den Interviews zeigt sich das in wiederholenden Normalisierungen: „das ist doch ganz normal, das ist nicht mehr peinlich, macht wirklich jeder, ist doch gar kein Thema mehr, wirklich.“
 

Das kontinuierliche Urteil der anderen und das liberalisierte Selbst

Was bedeutet das für die Subjekte?

Das Selbst positioniert sich auch im sozialen Raum und in Bezug auf das kontinuierliche Feedback der signifikanten anderen (Gergen 1991). Beim mobilen Onlinedating werden die Subjekte kontinuierlich von anderen bewertet, und zwar auf spezifische Weise. Die Bewertung ist dabei zum einen dichotom, es gibt nur „like“ oder „dislike“ und kein differenziertes Feedback. Zum anderen ist das Gegenüber entweder anonym und ungesehen oder aber teilweise verborgen und zumindest fragmentiert dargestellt und so hinter einem inszenierten Profil versteckt. Zum Dritten ist die Konkurrenz eine imaginierte: Profile der konkurrierenden anderen können nicht eingesehen werden. Das Feedback zur eigenen Attraktivität ist dann der subjektspezifischen Interpretation und Projektionen ausgesetzt. Gleichzeitig gilt die zeitgeisttypische beschleunigte Logik (Rosa 2013), schnelles Swipen, viel swipen, viele Matches, quantifizierte Validierung. Dies, kombiniert mit einem Verständnis des liberalisierten Selbst (Rose 1990), führt zum einen zu Attributionen der eigenen Performance und damit zu ständiger Optimierung. Bei diesen Prozessen etablieren sich kollektive Regeln, Vergleiche von Erfolgsquoten, Tipps für die Selbstdarstellung von Freunden bis hin zum Coaching und kleineren Optimierungen bei der Selbstdarstellung. Diese sind in gewissem Rahmen kollektiv akzeptiert: Der Berufsstand darf etwas geschönt, das Alter etwas verjüngt werden, auch darf für die Hautqualität ein leichter Filter verwendet werden. Allerdings gibt es klare Regeln, es muss theoretisch erreichbar sein und bei Körper, Korpulenz und Haarlänge sind auch kleinere Modifizierungen sozial geächtet.

Zum anderen führt die Verlagerung der Verantwortung zum Individuum aber auch zu ernst zu nehmenden Bewertungen des Selbst. Dabei zeichnen sich mitunter negative Effekte für Selbstwert und Selbstbewusstsein ab. Misserfolg und Erfolg liegen in der eigenen Verantwortung, das Glück hat jeder User selbst in der Hand.
 

Subjektive Souveränität

Insgesamt zeigt sich, dass es sich bei Tinder nicht nur um eine digitale Annäherungspraxis und, plakativ gesagt, um sexuelle Annäherung handelt. Im Gegenteil: Es ist ein digitaler Raum, in dem komplexe Prozesse der Gesellschaft ausgehandelt und Prozesse, wie u.a. Validierung und Positionierung des Selbst, sowie Copingstrategien verortet werden. Subjekte beziehen sich dabei reflexiv auf die eigene Praxis, die sie gleichzeitig durchaus als positiv und funktional, aber mitunter auch als durchaus schädlich und/oder dysfunktional beschreiben. Die User beziehen sich dabei auf eine Emanzipation von der etablierten Logik, beschreiben, dass sie ihre Praxis im Laufe der Nutzungszeit verändert haben, und kritisieren kollektive Regeln, wie das Entmatchen, das sie als unsozialen Akt beurteilen und für sich ablehnen. Insgesamt zeigt sich ein kollektiver Wunsch hin zu einem langsameren, differenzierteren und sozialeren Tinder: eine höflichere Alternativpraxis.

Ein Wunsch, der durchaus in der gegebenen digitalen Struktur durch die Subjekte selbst bereits jetzt realisierbar wäre.
 

Anmerkung:

1 Die Ergebnisse beruhen auf insgesamt 98 qualitativen Interviews, einer Umfrage mit 2.651 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, dem Monitoring von 2.800 Profilen sowie digitalen Ethnografien über mehrere Jahre.


Literatur:

Degen, J./Kleeberg-Niepage, A.: The More We Tinder: Subjects, Selves and Society. In: Human Arenas, 11.08.2020. Abrufbar unter: https://link.springer.com/article/10.1007/s42087-020-00132-8

Gergen, K. J.: The Saturated Self. Dilemmas of Identity in Contemporary Life. New York 1991

Rosa, H.: Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit. Frankfurt am Main 2013

Rose, N.: Governing the Soul. The Shaping of the Private Self. London 1990