Vielfalt geht uns alle an
Versteckter Rassismus in deutschen Filmen und Serien
Der gewaltsame Tod des Afroamerikaners George Floyd hat weltweit eine ähnliche Bewegung ausgelöst wie die Sexualverbrechen des Filmproduzenten Harvey Weinstein. Beide Fälle hatten und haben Konsequenzen für die Medienbranche: Die #MeToo-Bewegung hat unter anderem zu einer Diskussion über die deutliche Benachteiligung von Frauen vor und hinter der Kamera geführt, und die Kampagne Black Lives Matter hatte eine noch größere Sensibilität der TV-Sender in Bezug auf Rassismus zur Folge. HBO Max zum Beispiel hat den Hollywood-Klassiker Vom Winde verweht erst aus dem Angebot genommen und dann mit einer Art „Gebrauchsanweisung“ versehen.
Im deutschen Fernsehen scheint derlei nicht nötig zu sein. Alexander Bickel, Leiter des WDR-Programmbereichs „Fernsehfilm, Kino und Serie“, versichert, man verfolge die Debatte „über impliziten und expliziten Rassismus schon lange sehr aufmerksam“. Entsprechende Themen würden immer wieder aufgegriffen, „zum Teil mit kontroversen Reaktionen“. Auch Christine Strobl, Geschäftsführerin der ARD-Tochter Degeto und somit nicht nur für Hunderte von Auftragsproduktionen, sondern auch für den Einkauf von Spielfilmen verantwortlich, beteuert: „Wir empfinden es als unseren Auftrag, uns immer wieder mit dem Thema Integration zu beschäftigen und die Angst vor Fremden zu hinterfragen.“ Gerade in den beliebten Freitagsfilmen gebe es in der Tat ganz unterschiedliche Ansätze. Sie reichten von der Culture-Clash-Komödie (zuletzt Servus, Schwiegersohn, 2019) bis zu Filmen, in denen laut Strobl „Figuren mit Migrationshintergrund implizit miterzählt werden: als gesellschaftliches Faktum und nicht als herausgestellte Biografie.“ Es sei dabei ein besonderes Anliegen der Redaktion, Klischees zu vermeiden, „sowohl in Bezug auf klassische Rollenbilder als auch auf kulturelle und biografische Identitäten.“
Wir empfinden es als unseren Auftrag, uns immer wieder mit dem Thema Integration zu beschäftigen und die Angst vor Fremden zu hinterfragen.“ (Christine Strobl, Degeto)
Heike Hempel und Frank Zervos, Leiterin und Leiter der beiden Fernsehfilmabteilungen des ZDF, beteuern in einem gemeinsamen Statement, es sei ihnen „selbstverständlich ein Anliegen, die Vielfalt unserer Gesellschaft auch in unseren Filmen und Serien abzubilden“. Beim NDR könnte man sich im Grunde mit dem Hinweis auf die Tatort-Tradition des Hauses begnügen: Mit Mehmet Kurtuluş (2008 bis 2012), Fahri Yardim (seit 2013, mit Til Schweiger) sowie Sibel Kekilli (2011 bis 2017) und aktuell Almila Bagriacik als gleichberechtigte Partnerinnen von Axel Milberg setzt man im Norden fast schon traditionell auf Hauptdarsteller mit türkischen Wurzeln. Es passt ins Bild, dass der NDR mit Florence Kasumba als Anaïs Schmitz auch die erste schwarze Kommissarin im Tatort ermitteln lässt. NDR-Fernsehfilmchef Christian Granderath sieht bei den Sendern ohnehin „ein wachsendes Bewusstsein“ für den Themenkomplex „Migration und Integration“. Bickel formuliert dies fast wortgleich und sagt, in den Reihen und Serien des WDR wirkten Menschen mit Migrationshintergrund „mit großer Selbstverständlichkeit“ in tragenden Rollen mit (unter anderem Aylin Tezel als Kommissarin im Tatort aus Dortmund).
„Migrantisches Casting“
Aber es gibt eben auch eine andere Seite. Schauspielerinnen und Schauspieler mit ausländischen Wurzeln beklagen zum Beispiel das Phänomen des „migrantischen Castings“: Wer eine dunkle Hautfarbe hat, wird nur dann eingeladen, wenn eine entsprechende Rolle besetzt werden soll. Für Nataly Kudiabor zeigt das, „wie eurozentrisch unsere Branche nach wie vor geprägt ist.“ Als Tochter eines ghanaischen Vaters und einer deutschen Mutter weiß die UFA-Produzentin, wovon sie redet, wenn sie von „strukturellem Rassismus“ spricht. Für sie ist das ein Relikt der Kolonialzeit, als die afrikanischen „Eingeborenen“ entmenschlicht worden seien. Diese Sichtweise habe sich bis heute nicht verändert, wie jeder Deutsche mit schwarzer Hautfarbe bestätigen könne. Sie selbst erlebe das immer wieder, wenn sie gefragt werde, woher sie komme. „Auf meine Antwort ‚aus der Nähe von Düsseldorf’ folgt garantiert die Nachfrage, woher ich ursprünglich stamme.“ Auf diese Weise sei man immer „der oder die Andere“. Im Englischen gibt es mit Othering sogar ein Wort dafür: Jemand wird ausgegrenzt, weil sie oder er anders ist. Diese Haltung sei laut Kudiabor auch im Fernsehen nach wie vor präsent: „Wenn eine Figur auftaucht, die im landläufigen Sinn nicht ‚deutsch’ wirkt, wird stets ihre Herkunft erklärt. Anscheinend glaubt man bei den Sendern, die Zuschauenden seien überzeugt: Wer irgendwie anders aussieht, kann auch kein Deutscher sein.“
Die Gesellschaft habe sich in den letzten 30 Jahren stark verändert, aber das Fernsehen bilde diese Realität nicht ab, sondern liefere stattdessen Klischees: „Afrikaner sind Flüchtlinge. Sie können zwar gut tanzen, sind aber kriminell. Türken sind Gemüsehändler, Asiaten haben einen China-Imbiss.“ Viel zu selten werde erzählt, „dass nicht wenige dieser Menschen, die pauschal als ‚Ausländer’ gelten, hier geboren sind, einen deutschen Pass haben und sich genauso deutsch fühlen wie Sabine Meier und Peter Schmitz.“
Wenn eine Figur auftaucht, die im landläufigen Sinn nicht ‚deutsch’ wirkt, wird stets ihre Herkunft erklärt.“
Die Privatsender machen in ihren nonfiktionalen Sendungen vor, wie sich die Realität ganz selbstverständlich widerspiegeln lässt: In Shows wie Deutschland sucht den Superstar oder Das Supertalent (beide RTL) ist die Normalität längst im Fernsehen angekommen. Die Kandidaten repräsentieren die ganze Bandbreite der Gesellschaft. Die UFA-Produktionen entsprechen somit vorbildlich dem Credo von UFA-Geschäftsführer Nico Hofmann: „Diversität muss in allen Gewerken selbstverständlich sein. Als Produktionsunternehmen haben wir die Verantwortung, neue Erzählperspektiven einzunehmen und neue Bilder zu schaffen, um die Sichtweise der Zuschauer zu verändern. Mehr denn je gilt: Vielfalt im Fernsehen geht uns alle an.“
Bei aller berechtigten Kritik gibt es auch viele positive Beispiele. Das Drama Das deutsche Kind (2017, NDR) von Paul Salisbury (Buch) und Umut Dag (Regie) handelt von einem Sorgerechtsstreit zwischen einem muslimischen Ehepaar und den deutschen Großeltern eines verwaisten Mädchens; Hauptfigur ist ein islamischer Geistlicher. Vom NDR ist auch die Kinokoproduktion Einmal Hans mit scharfer Soße (2013, Buch: Ruth Toma, Regie: Buket Alakus), eine Komödie nach dem gleichnamigen Roman von Hatice Akyün über eine türkischstämmige Deutsche, die gemeinsam mit ihren Schwestern nach einem passenden deutschen Mann sucht. Alakus hat zudem die Roma-Komödie Eine Braut kommt selten allein (2017, RBB; Buch: Laila Stieler) gedreht. Unbedingt zu erwähnen ist auch Leberkäseland (2015, Buch und Regie: Nils Willbrandt), in Auftrag gegeben von der ARD-Tochter Degeto: Die Tragikomödie erzählt heitere und traurige Geschichten von der Integration einer fortschrittlichen türkischen Familie, die Anfang der 1960er-Jahre in eine rückständige deutsche Kleinstadt übersiedelt.
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Afrodeutsche Hauptdarsteller
Kudiabor reicht das nicht. Die erfahrene Produzentin ist vor einem Jahr mit einem festen Vorsatz zur UFA gekommen: „Wir wollen gute fiktionale Unterhaltung bieten, in der es normal ist, dass in einer Serie ein Afrodeutscher die Hauptrolle spielt, ohne zu erklären, warum er ‚so gut deutsch’ spricht.“ Sie räumt aber auch ein, dass viele Reihen und Serien bereits divers besetzt seien. Gerade Lars Beckers Nachtschicht-Krimis im ZDF werden gern als leuchtender Gegenentwurf zu all’ jenen Produktionen zitiert, die im internationalen Filmgeschäft unter „all white casting“ laufen. Zum Ensemble gehören aktuell Tedros Teclebrhan (gebürtiger Eritreer, aufgewachsen in der Nähe von Tübingen), Minh-Khai Phan-Thi (geboren in Darmstadt, Tochter vietnamesischer Einwanderer) sowie als Chef Özgür Karadeniz (geboren in der Türkei, aufgewachsen in Kiel); die Filme zeigen Hamburg ohnehin als Multikulti-Schmelztiegel. Die drei sind jedoch bloß Nebenfiguren, die Hauptrollen spielen Armin Rohde und Barbara Auer. Die Produzentin nennt das Tokenismus (vom englischen token): eine rein symbolische Geste.
Kommunikationswissenschaftler Kai Hafez (Universität Erfurt) ergänzt Kudiabors Kritik um die Feststellung, es gebe keinen einzigen deutschen Schauspieler mit dunkler Hautfarbe, der im Mainstream angekommen sei. Er fordert die Branche daher auf, „Identifikationsfiguren zu schaffen, die nicht nur in migrationsspezifischen Kontexten auftauchen.“ Sender und Produzenten sollten „der Normalität ihren Lauf lassen und sich bei der Besetzung einer Rolle nicht an Herkunft oder Aussehen, sondern ausschließlich an der Qualität orientieren.“ Kudiabors Erwartungen gehen jedoch deutlich über die Besetzungsfrage hinaus: „Es muss viel mehr Formate geben, die nicht nur aus eurozentrischer Sicht geschrieben werden.“ Dafür will sie gemeinsam mit dem Schauspieler Tyron Ricketts und dessen Produktionsfirma Panthertainment sorgen.
Es muss viel mehr Formate geben, die nicht nur aus eurozentrischer Sicht geschrieben werden. […] Geschichten über Menschen mit Migrationshintergrund werden viel zu selten von Autoren erzählt, die auch wissen, wovon sie sprechen.“ (Nataly Kudiabor, UFA)
Ein Vergleich veranschaulicht die ganze Tragweite der Problematik: „Geschichten über Menschen mit Migrationshintergrund werden viel zu selten von Autoren erzählt, die auch wissen, wovon sie sprechen. Ein Drehbuch über die Geburt eines Kindes aus Sicht der Mutter zum Beispiel würde man vermutlich nicht von einem kinderlosen Mann schreiben lassen.“ Redakteure und Produzenten arbeiteten jedoch in der Regel mit Menschen zusammen, „die aus den gleichen Verhältnissen stammen und die Welt daher genauso sehen wie sie selbst.“ Das sei zwar menschlich, führe aber dazu, dass seit Jahren immer wieder die gleichen Geschichten variiert würden. Jeder vierte Deutsche habe einen Migrationshintergrund; in jüngeren Altersgruppen seien es noch viel mehr. Diese Deutsche mit afrikanischen, arabischen oder asiatischen Wurzeln hätten nicht nur eine andere Sichtweise auf Deutschland, sie stünden auch für die Zukunft des deutschen Fernsehens: „Dieser Tatsache dürfen sich die Sender nicht verschließen. Schon rein zahlenmäßig kann man kaum noch von ‚Special interest’-Programm sprechen.“ Nicht nur ARD und ZDF klagen darüber, dass sie kaum noch junge Menschen erreichen. Die Schuld suchen sie gern bei den Streamingdiensten, aber womöglich hat das Desinteresse ja auch damit zu tun, dass die Hauptfiguren in den Filmen und Serien fast immer anders aussehen als große Teile der verlorenen Zielgruppe.
Eine Arbeit, die nie endet
Vermutlich ahnt man das bei den Sendern auch. Bickel räumt jedenfalls ein, dass die Maßstäbe und Ansprüche an Repräsentanz und die Vermeidung von Klischees heute ganz andere seien als vor zehn Jahren. Für den WDR heiße das: „Integration in der Fiktion ist ein Projekt von eminenter Wichtigkeit; und eine Arbeit, die nie endet.“ Diesen Satz würde Hafez vermutlich sofort unterschreiben. Er attestiert Film und Fernsehen immerhin, dass sich in den letzten 25 Jahren viel getan habe: „Früher gab es fast ausschließlich starre Interpretationen von Migrantengeschichten, deren Protagonisten stets in negativen Kontexten vorkamen.“ Stellvertretend nennt er 40 qm Deutschland (1986) von Tevfik Başer, ein Kinodrama über die Frau eines türkischen Gastarbeiters, die ihr Dasein in einer tristen Hamburger Hinterhauswohnung fristet. Seither habe sich das Bild dank Regisseuren wie Fatih Akin (Kurz und schmerzlos, 1998; Solino, 2002; Gegen die Wand, 2004) und Filmen über Migranten der zweiten und dritten Generation stark gewandelt: „Plötzlich waren Migranten nicht mehr bloß Opfer oder Kriminelle, sondern komplexe Figuren.“
Der Kommunikationswissenschaftler lobt ausdrücklich RTL: Der Privatsender sei schon früh einen Schritt weiter als ARD und ZDF gewesen und habe lange vor den Mitbewerbern Serien mit türkischstämmigen Hauptfiguren gezeigt: Alarm für Cobra 11 (seit 1996) mit Erdoğan Atalay und Sinan Toprak (1999 bis 2002) mit Erol Sander. Figuren mit Migrationshintergrund, versichert Hauke Bartel, Fiction-Chef der Mediengruppe RTL, seien nach wie vor „selbstverständliche Teile unserer Ensembles“. Tatsächlich ist zum Beispiel die immer wieder neu zusammengestellte Schulklasse, mit der sich Hendrik Duryn als Titeldarsteller des Dauerbrenners Der Lehrer (seit 2009) rumplagen muss, ein Vorbild an Diversität. Die Serie taugt auch als Beleg für Bartels Maxime, „spielerisch und entlarvend mit Stereotypen umzugehen. Das unreflektierte Wiederkäuen von Klischees ist ja nicht nur gesellschaftlich fragwürdig, sondern auch erzählerisch langweilig. Die Pointe, der Erkenntnisgewinn, die Emotion entsteht aus dem Unerwarteten.“
Auch bei ProSiebenSat.1 wird laut Jana Kaun (Vice President Local Fiction) „grundsätzlich darauf geachtet, immer die bestmögliche Besetzung zu finden; völlig unabhängig von Hautfarbe, Herkunft et cetera.“ Bei den Sendern weiß man ohnehin, dass Diversität vor der Kamera eng mit Diversität hinter der Kamera zusammenhängt. Das betreffe laut Hempel und Zervos auch „Geschlecht, Alter, Glaube, Sexualität und viele weitere Aspekte.“ Bartel stellt jedoch selbstkritisch fest:
Wir können und müssen gerade in Bezug auf die Abbildung einer bunten und multikulturellen Gesellschaft noch besser, authentischer und vielfältiger werden. Und das fängt bei den Machern an. Wenn wir als Branche ehrlich zu uns sind, haben wir in puncto Diversität in Redaktionen, Produktionshäusern und Writers Rooms ziemlichen Nachholbedarf.“