Von Micky Maus zu Darth Vader

Vor 100 Jahren haben die Brüder Disney den heute wohl wichtigsten Unterhaltungskonzern der Welt gegründet

Tilmann P. Gangloff

Tilmann P. Gangloff ist freiberuflicher Medienfachjournalist.

Vor 100 Jahren hat Walt Disney gemeinsam mit seinem Bruder Roy das Disney Brothers Cartoon Studio gegründet. Möglicherweise hatte er damals tatsächlich die Vision, die Walt Disney Company zu einem der wichtigsten Unterhaltungskonzerne der Welt zu machen. Dagegen wäre es ihm – als bekennendem Republikaner – wohl nicht mal im Traum eingefallen, dass ein Teenager in einem abendfüllenden Spielfilm des Studios sein Coming-out erleben würde. Gerade darin liegt jedoch der enorme Erfolg der Walt Disney Company: Das Unternehmen hat es stets verstanden, die Zeichen der Zeit zu seinen Gunsten zu nutzen.

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Vermutlich hat jede Epoche die Filme, die sie verdient. In einigen Jahren wird es sicherlich kluge Erklärungen dafür geben, warum das Kino in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts von Abenteuern mit Superhelden oder von Weltraumopern geprägt war. In den Top Ten der kommerziell erfolgreichsten Produktionen aller Zeiten belegen einige Werke dieser Art gleich vier Plätze, namentlich The Avengers und Star Wars. Und noch eins eint die modernen Märchen um Captain America und Co.: Sie stammen aus dem Hause Disney. Zusammen mit der Neuverfilmung des Klassikers Der König der Löwen beläuft sich ihr Gesamtumsatz auf annähernd 10 Mrd. Dollar; nicht schlecht für ein Unternehmen, das am 16. Oktober hundert Jahre alt geworden ist. Die Dominanz des Konzerns wird angesichts der 50 größten Umsatzbringer noch deutlicher: Exakt die Hälfte ist von Disney produziert worden (Wikipedia 2023).

Auf der Liste finden sich zwar auch Animationsfilme wie Die Eiskönigin (Teile 1 und 2), zwei Toy Story-Episoden sowie Die Unglaublichen 2, aber keines jener Zeichentrickwerke, mit denen vor allem Ältere den Namen Disney bis heute assoziieren, weil sie damit aufgewachsen sind. Eine subjektive Auswahl der Titel, die den meisten noch ein Begriff sein dürfte, und vor allem ein Blick auf die jeweiligen Produktionsjahre verdeutlichen, wie zeitlos viele dieser Filme waren: Schneewittchen und die sieben Zwerge (1937), Fantasia (1940), Dumbo (1941), Bambi (1942), Peter Pan (1953), Susi und Strolch (1955), 101 Dalmatiner (1961), Das Dschungelbuch (1967), Aristocats (1970); später folgten Arielle, die Meerjungfrau (1989), Die Schöne und das Biest (1991), Aladdin (1992) und schließlich Der König der Löwen (1994), der erfolgreichste klassische Zeichentrickfilm. Das junge Kinopublikum von einst ist mittlerweile im Großelternalter, und vermutlich fremdeln die Omas und Opas etwas, wenn ihre Enkelkinder sie dazu überreden, sich eine der jüngsten Disney-Produktionen gemeinsam anzuschauen; bis auf jene, die in ihrer Jugend Fans der Comics von Hulk oder anderen Avengers-Helden waren.
 

Disneys Schneewittchen – German Trailer (2009) (CartoonPool, 26.07.2009)



Clevere Firmenpolitik

Aus Sicht des Konzerns, dessen Wert im vorigen Jahr auf 200 Mrd. Dollar geschätzt wurde (Demling 2022), ist Nostalgie dagegen vermutlich eine zu vernachlässigende Größe, wenn nicht gerade ein Firmenjubiläum ansteht. Die Neuausrichtung gerade in den letzten beiden Jahrzehnten folgte ausschließlich ökonomischen Aspekten. Micky Maus und Donald Duck mögen immer noch begehrte Fotomodelle in den Themenparks sein, aber seine monströsen Umsätze verdankt das einst von den Brüdern Walt und Roy Disney unter dem Namen Disney Brothers Cartoon Studio gegründete Unternehmen einer cleveren Firmenpolitik, die in erster Linie mit Bob Iger verbunden ist. In seiner ersten Amtszeit als Geschäftsführer (2005 bis 2020) schuf er die Basis für den aktuellen Erfolg, denn einige der größten Umsatzbringer verdankt Disney Produktionsfirmen, die in der Iger-Ära übernommen worden sind: Pixar (Toy Story, Findet Nemo) im Jahr 2006 für 7,4 Mrd. Dollar, Marvel (Avengers, Iron Man) 2009 für 4 Mrd. Dollar, Lucasfilm (Star Wars) 2012 für ebenfalls 4 Mrd. Dollar. Die mit Abstand teuerste Akquise fand jedoch 2019 mit dem Kauf der 1935 gegründeten 20th Century Studios (früher 20th Century Fox) statt. Kaufpreis: 71 Mrd. Dollar. (Vgl. ebd.) Die Dominanz auf dem Kinomarkt konnte auf diese Weise noch ausgebaut werden: Mit Avatar – Aufbruch nach Pandora (2009) und Avatar: The Way of Water (2022, Regie jeweils James Cameron, Gesamtumsatz: 6 Milliarden Dollar) stammen zwei der drei umsatzstärksten Filme aller Zeiten von Fox.

Nach dreijähriger Absenz ist Iger Ende letzten Jahres an die Konzernspitze zurückgekehrt; sein Nachfolger Bob Chapek erwies sich als glücklos, der Absturz der Aktie nahm bedrohliche Ausmaße an. Das lag sicher nicht an ihm allein, zumal sich der noch unter Iger im November 2019 gestartete Streamingdienst Disney+ auf Anhieb in der Spitzengruppe platzieren konnte; im dritten Quartal hatte die Plattform laut Statista weltweit knapp 150 Mio. Abonnenten (Statista 2023). Erfolg hat jedoch immer zwei Seiten: Die Internetvideothek profitierte zwar wie alle anderen Onlinedienste von der Coronapandemie, doch das Streamingpublikum begnügte sich schon bald nicht mehr mit den bekannten Erzeugnissen aus der Marvel-Welt und dem Star-Wars-Universum. Es mussten neue Produktionen her, und die erwiesen sich als ziemlich kostspielig, zumal Netflix mit seinen aufwändigen Serien einen hohen Standard gesetzt hat. Außerdem hatte die Pandemie zur Folge, dass die Themenparks schließen mussten und die Kinoumsätze einbrachen.
 

Trailer Strange World (KinoCheck, 20.10.2022)



Mit der Zeit gegangen

Für alle, die sich in erster Linie fesselnde Geschichten erzählen lassen wollen, sind die kaufmännischen Aspekte naturgemäß nebensächlich. Sie interessiert vor allem, ob ein Unternehmen mit der Zeit geht. Disney hat diese Erwartung lange Zeit unterschätzt, aber mit Strange World (2022) einen Animationsfilm in die Kinos gebracht, der offenbar auf einen Schlag vieles wieder gut machen sollte: Ein abgeschieden lebendes Volk entdeckt eine umweltschonende Energieressource, ein Teenager erlebt sein Coming-out, viele Nebenfiguren sind betont divers. Dass der Film trotz seiner eindrucksvollen Optik ein Flop war, hing sicherlich auch mit einer gewissen Überfrachtung zusammen. Trotzdem ist die Entwicklung natürlich richtig. Disneys klassische Zeichentrickheldinnen entsprachen stets dem gleichen Stereotyp wie die meisten weiblichen Animationsfiguren: ausschließlich weiß, gern blond, immer mit Wespentaille.

Das hat sich grundlegend geändert, gerade auch in den Neuverfilmungen: Die Hauptdarstellerin der Realfilmversion von Arielle, die Meerjungfrau (2023), Halle Bailey, ist Afroamerikanerin. Prompt löste die Besetzung eine heftige Kontroverse aus (#NotMyAriel), schließlich hat das Mädchen im Märchen von Hans Christian Andersen zweifelsfrei eine weiße Hautfarbe. Außerdem wurde dem Konzern kommerzielles Kalkül vorgeworfen. Die neue Arielle war allerdings keineswegs die erste Schwarze Heldin. 2010 schaffte es Küss den Frosch immerhin, für drei Oscars nominiert zu werden, unter anderem in der Kategorie „Bester Animationsfilm“. Die Geschichte erinnert zwar an das Märchen vom Froschkönig, basiert aber auf dem Kinderbuch Esmeralda, Froschprinzessin; in der Disney-Adaption heißt das Mädchen Tiana, ist Schwarz und kommt aus der Unterschicht.

In rechten Kreisen stößt die neue Philosophie selbstverständlich auf heftige Kritik. „Disneyfilme werden immer mehr zu Werkzeugen der Indoktrination“ (Schwarz 2022), hieß es zum Beispiel als Reaktion auf die Ankündigung, das Unternehmen wolle seine Inhalte integrativer gestalten. Den Konzern ficht das zum Glück nicht an. Seit 2021 können Werke wie Dumbo, Peter Pan, Aristocats und Das Dschungelbuch bei Disney+ nur noch von Erwachsenen abgerufen werden, sie sind zudem mit einer Triggerwarnung versehen:

Dieses Programm enthält negative Darstellungen und/oder eine nicht-korrekte Behandlung von Menschen oder Kulturen. Diese Stereotype waren damals falsch und sind es noch heute.“ (Busche 2023)

 
Quellen:

Busche, A.: Disney thematisiert Rassismus in Kinderklassikern: „Peter Pan“, „Aristocats“ und „Dschungelbuch“ nur noch unter Aufsicht.In: Tagesspiegel Online, 03.02.2021. Abrufbar unter: www.tagesspiegel.de (letzter Zugriff: 12.10.2023)

Demling, A.: Disney unter Druck. Der Erbsenzähler von Entenhausen. In: Der Spiegel, 38/2022, S. 70

Schwarz, A.: Ideologie statt Unterhaltung. „Vorschriftsmäßige Transpersonen“ in Kinderfilmen – Disney an der Geschlechterfront. In: Tichys Einblick, 03.04.2022. Abrufbar unter www.tichyseinblick.de (letzter Zugriff: 12.10.2023)

Statista: Anzahl der Abonnenten von Disney+ weltweit vom 1. Geschäftsquartal 2020 bis zum 3. Geschäftsquartal 2023. In: Statista, August 2023. Abrufbar unter de.statista.com (letzter Zugriff: 12.10.2023)

Wikipedia: Liste der erfolgreichsten Filme nach Einspielergebnis. In: Wikipedia, Stand vom 27.09.2023. Abrufbar unter de.wikipedia.org(letzter Zugriff: 12.10.2023)