Warum wir stolz darauf sein sollten, billiges Reality-TV zu schauen

Malin Binding

Malin Binding ist Studentin im Masterstudiengang „Medienwissenschaft“ an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF.

Alle zwei Jahre findet die Television Section Conference der European Communication Research and Education Association (ECREA) statt und nimmt aktuelle Entwicklungen des Fernsehens und der Fernsehforschung in den Blick. Dieses Mal fand sie vom 25. bis 27. Oktober 2023 an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF statt und trug den Titel Redefining Televisuality: Programmes, Practices, Methods. Unter der Überschrift „Television Ontology“ (Ontologie des Fernsehens) sprachen vier Vortragende über ihre Forschungsergebnisse und kamen somit der Antwort auf die Frage näher, was Fernsehen heute bedeutet.

Online seit 04.01.2024: https://mediendiskurs.online/beitrag/warum-wir-stolz-darauf-sein-sollten-billiges-reality-tv-zu-schauen-beitrag-772/

 

 

Den Aufschlag machte Kathrin Fahlenbrach von der Universität Hamburg. In ihrem Vortrag Interactive Televisuality. Videographic Styles and Performances of Streaming Platforms in Cross-Media Environments vertrat sie die These, dass sich durch digitale Streamingdienste – die in der Wissenschaft ebenfalls zum Fernsehen gezählt werden – ein paradigmatischer Wandel in der Fernsehkultur vollzieht. Heutzutage gestalten Algorithmen durch Empfehlungen personalisierte Fernsehprogramme. Die Präsentationsstile werden von den Sehgewohnheiten der Abonnent*innen geprägt. Die Nutzer*innenoberflächen der Streaminganbieter stellen somit neue Orte des Fernsehens dar. Netflix selbst spricht laut Fahlenbrach von einem „sensiblen Interface Design“. Ein Beispiel dafür sind die interaktiven Thumbnails, die für alle Nutzer*innen individuell gestaltet werden.
 

Die personalisierten Thumbnails von Stranger Things


 

Die Rückkehr des Live-Faktors beim Streamen

Die Social-Media-Kanäle von Streamingplattformen bezeichnet Fahlenbrach als die Peripherie des Fernsehens, die ebenfalls einem algorithmischen Prozess unterlägen. Beim Schauen einer Serie ist der Fernseher oder Laptop der sogenannte „erste oder zentrale Bildschirm“ und das Handy, auf dem währenddessen in den sozialen Medien gescrollt wird, der „zweite oder periphere Bildschirm“. In diesem Zusammenhang warf Fahlenbrach die Frage auf, inwieweit die Streamingunternehmen die Ästhetik der eigenen Plattform und die ihrer Social-Media-Auftritte zusammendenken. Dort, auf Instagram und TikTok, posten die Streamingdienste serien- oder filmspezifische kurze Videos, die, so Fahrenbach, von einer KI ausgewählt werden und die Bindung an das jeweilige Format erhöhen sollen. Nutzer*innen können dadurch vermeintlich Blicke hinter die Kulissen werfen. Dadurch wird ein gewisser Live-Faktor kreiert, der gestreamten Serien und Filmen selbst – anders als dem linearen Fernsehen – fehlt. Außerdem verliehen die Nutzer*innen den Streamingprodukten durch eigens produzierten Content ihrerseits eine zusätzliche Lebendigkeit, etwa durch die Memefication von Fernsehinhalten. Ein Beispiel dafür ist der Tanz der Figur Wednesday aus der gleichnamigen Netflix-Serie. Der virale TikTok-Trend verhalf der Serie zu ihrem enormen Erfolg.
 

Wednesday Addams Dance - i'll Dance Dance Dance With My Hands Hands Hands - TikTok Compilation (Fun Space, 01.12.2022)



So haben Streamingplattformen laut Fahlenbrach Anteil an einer nicht geringen Anzahl von Trends in den sozialen Medien. Vor allem neue Technologien prägen demnach die Formen der Televisualität und ihre Wahrnehmung durch die Zuschauer*innen. Fahlenbrach beendete ihren Vortrag mit einem Zitat des Medienwissenschaftlers John T. Caldwell:

Mit zunehmender Häufigkeit wurde der Stil selbst zum Gegenstand, zum Signifikanten, wenn man so will, des Fernsehens.“ (Fahlenbrach im Rahmen der ECREA Television).


Billig: eine ästhetische Kategorie

In seinem Vortrag Cheap TV stellte Brett Mills von der Edge Hill University (Vereinigtes Königreich) die herkömmliche Vorstellung infrage, dass hohe Produktionskosten gleichbedeutend mit einem hohen Wert des Fernsehprodukts seien. Er argumentierte, dass die bloße Investition von Geld in ein Projekt keine Garantie für dessen Qualität sei. Mills veranschaulichte seinen Standpunkt am Beispiel von Richard Osman's House of Games (seit 2017), einer im Vereinigten Königreich täglich ausgestrahlten Sendung.
 

Trailer Richard Osman's House of Games (BBC Trailers, 06.11.2020)



Der Begriff „billig“ verweist bekanntermaßen nicht immer auf Produktionskosten, sondern bezeichnet auch bestimmte Ästhetiken oder Genres und transportiert häufig eine Kritik an als minderwertig empfundenen Produktionen. Eine „billig aussehende“ Fernsehsendung wird zu einem ästhetischen Statement. Einige Quizsendungen heben ihre billige Ästhetik allerdings bewusst hervor. Beispielsweise bezeichnet House of Games den Preis, den es in der Show zu gewinnen gibt, als „schlimmste Trophäe im ganzen Fernsehen“. Diese Akzeptanz des Billigen beseitigt Hierarchien zwischen Zuschauer*innen und der Show, die sich gar nicht erst für ein anspruchsvolles Programm ausgibt und so in gewisser Weise Inklusivität fördert.

Mills versuchte sich an einer Revision gängiger Vorurteile, indem er die Frage aufwarf, ob die negative Wahrnehmung des Billigfernsehens auf sein Erscheinungsbild oder auf die vorgefassten Meinungen der Zuschauer*innen zurückzuführen sei. Er plädierte dafür, den Begriff des Billigfernsehens zurückzuerobern, da viele Fernsehsendungen bzw. ‑streams unter diese Kategorie fielen, die sich darüber hinaus großer Beliebtheit erfreuten. Sein Beitrag lässt sich als Appell verstehen, den vielfältigen und demokratischen Charakter von Fernsehprogrammen zu würdigen.
 

Kino- oder Fernsehfilm: zur Aktualität der Gattungsgrenzen

Klára Feikusová von der Palacký-Universität in Tschechien ging in ihrem Vortrag How to approach cinematic television in the era of convergence (and deconvergence) auf die verschwimmenden Grenzen zwischen Fernsehen und Kino ein. Trotz der Verwendung des Begriffs „cinematic television“, also kinematografisches Fernsehen, stelle sich die Frage, ob es in einer Zeit der Medienkonvergenz, die alle traditionellen Unterscheidungen anzweifelt, überhaupt noch wichtig sei, zwischen Fernsehen und Kino zu unterschieden. Früher hob sich das Kino vor allem durch eine bessere technische Ausstattung vom Fernsehen ab. Dieser Unterschied ist heute jedoch kaum noch vorhanden. Feikusová betonte die Notwendigkeit, die modernen Überschneidungen von Kino und Fernsehen näher zu untersuchen. Dafür müsse zunächst der Begriff „cinematic“ genauer gefasst werden. Fernsehsendungen würden oft mit ihm beworben, um hervorzuheben, wie spektakulär sie sind und um sie von gewöhnlicher, gar billiger Fernsehware abzugrenzen.

Um die Konvergenz, also das Ineinanderfließen von Fernsehen und Kino zu erforschen, schlug Feikusová das „Negotiation Model“ vor, das auf den Konzepten des „encoding“ und „decoding“ basiert. „Encoding“ richtet den Blick auf die Produzent*innen, die Inspirationsquellen und die Erwartungen des Publikums. Beim „decoding“ geht es um das fertige Produkt, die Kritiken und den kulturellen Kontext. In der Analyse der einzelnen Aspekte könne sich dann zeigen, ob ein Produkt kinematografisch, televisuell oder beides sei. Die Verhandlung („negotiation“) findet dabei zwischen zwei verschiedenen Lesarten statt. Der Film bzw. die Serie wird nicht immer so „gelesen“, wie er bzw. sie intendiert war. Durch die Anwendung dieser Analysetechnik hofft Feikusová, etwas mehr Klarheit in die sich ständig entwickelnde Landschaft der Medienkonvergenz zu bringen.
 

Zeitgenössisches Reality-TV: Erfolgreiches wird kopiert

Der letzte Vortrag The Traitors: the case for a new reality TV? wurde von Rodrigo Pereira von der Universidade Nova de Lisboa gehalten. Pereira gab einen fundierten Überblick über die historische Entwicklung des Reality-TV. Die erste Welle des Reality-TV entstand ihmzufolge in den späten 1980er- bis frühen 1990er-Jahren, der Ära der Camcorder. Mitte bis Ende der 1990er-Jahre folgte die „Doku-Soap-Ära“. Die dritte Welle setzte mit den 2000er-Jahren ein und konzentrierte sich laut Pereira auf soziale Experimente. In der aktuellen vierten Welle seien die meisten Produktionen vom Konzept der „Brand World“ (nach Caldwell) bestimmt. Dabei wird eine anderswo erfolgreiche Serie oder „brand“, also Marke, kopiert und an den heimischen Markt angepasst. Die Produktion konzentriert sich damit auf die Wiederholung international bewährter Konzepte, spiegelt in der Anpassung an jeweilige Publika aber auch die dynamische Natur des Reality-TV wider.
 

Trailer The Traitors (BBC Trailers, 16.11.2020)



Die Show The Traitors (seit 2022) steht beispielhaft für diese jüngste Phase des Reality-TV. Sie basiert auf dem Spiel Mafia, das in Deutschland als Werwolf bekannt ist. Für die Show zeichnet die niederländische Produktionsfirma Endemol verantwortlich, die schon Sendungen wie Big Brother hervorgebracht hat. Zu Beginn der Show werden die Spieler*innen von einem Erzähler in „Verräter*innen“ und „Treue“ eingeteilt. Die Minderheit der Verräter*innen hat das Ziel, in der immer kleiner werdenden Runde allein übrig zu bleiben, ohne bis dahin von den Treuen entlarvt oder rausgewählt zu werden. Die Aufregung, die ausbricht, wenn es den Verräter*innen gelingt, zu gewinnen, gleicht der in einer griechischen Tragödie.

Durch den viralen Erfolg in den Niederlanden wurde das Franchise in 17 westlichen Ländern adaptiert. Das Original wurde an den regionalen Markt des jeweiligen Landes angepasst, beispielsweise durch den Einsatz lokaler Berühmtheiten. Die Sendung erhielt im Allgemeinen sehr gute Kritiken und die Streamingquoten waren besser als die Einschaltquoten des linearen Fernsehens, vermutlich weil die Show vor allem junge Leute anspricht. Pereira vergleicht die Handlung der Show mit demokratischen Praktiken, wie z. B. dem Wählen. Während bei demokratischen Abstimmungen eine Kultur der Anonymität und der Wahlprognosen herrscht, sei die Abstimmung im Reality-TV von einer Kultur der Offenlegung, der Abwahl und der Rechtfertigung geprägt.
 

Fazit

Es versteht sich von selbst, dass ein einziges Panel thematisch nicht alle Entwicklungen des modernen Fernsehens diskutieren kann. Insgesamt ergab sich aus den Vorträgen dennoch ein erstaunlich umfassendes Bild des Fernsehens in einer sich wandelnden Medienlandschaft. Die Betonung der Legitimität und Gleichwertigkeit verschiedenster Formate ließ sich aus mehr als einem Vortrag heraushören. Kinematografische Filme mögen etwa für ein höheres kulturelles Kapital stehen, doch tangiert dies nicht die Daseinsberechtigung billigen Fernsehens und – das haben die Vorträge bewiesen – erst recht nicht seine Relevanz für die Forschung.
 

Anmerkung: Dieser Beitrag ist zuerst bei CST online erschienen.


Literatur

Fahlenbrach, K.: Interactive Televisuality. Videographic Styles and Performances of Streaming Platforms in Cross- Media Environments. Vortrag bei der Veranstaltung ECREA Television Section Conference. Redefining Televisuality: Programmes, Practices, Methods. Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF. 2023 [Eigene Mitschrift]