Wer bin ich, und wenn ja: wie viele?

Die Geschichte des Leinwandwahnsinns ist so alt wie das Kino

Tilmann P. Gangloff

Tilmann P. Gangloff ist freiberuflicher Medienfachjournalist.

Ganz gleich, ob Krimi, Horror, Science Fiction oder Drama: Psychische Störungen finden sich in praktisch allen Genres. Viele dieser Filme schildern die jeweilige Symptomatik derart treffend, dass sie durchaus als Lehrstücke taugen. Natürlich gibt es auch die andere Seite: Gerade der Thriller lebt nicht selten vom bedenklichen Klischee des gefährlichen Geisteskranken. Ein Streifzug durch die Geschichte des Leinwandwahnsinns.

Online seit 17.03.2023: https://mediendiskurs.online/beitrag/wer-bin-ich-und-wenn-ja-wie-viele-beitrag-772/

 

 

Fast alle Berufsstände beklagen, dass ihr Alltag in Filmen und Serien verfälscht dargestellt werde. Umso erstaunlicher ist die Botschaft des Buches Wahnsinnsfilme: Die Herausgeber sind überzeugt, dass selbst das Fachpersonal von filmischen Geschichten über den Wahn noch Einiges lernen könne. Diverse Kinoklassiker entpuppen sich bei der Darstellung psychischer Störungen im Umfeld von Schizophrenie, Wahnphänomenen und Psychosen geradezu als Lehrstücke. Beim Publikum erfreuen sich solche Filme ohnehin seit hundert Jahren großer Beliebtheit. Es wird kein Zufall sein, dass einige der bekanntesten Popkultur-Antagonisten „irre" sind, etwa der Verbrecher „Joker" aus den vielfach adaptierten Batman‑Comics: Wahnsinn und Genie gehen spätestens seit Arthur Schopenhauers Feststellung, die beiden wohnten gewissermaßen Tür an Tür, in Film und Literatur gern in Hand in Hand. Entsprechend häufig ist der Typus des verrückt gewordenen Wissenschaftlers („mad scientist") vertreten, exemplarisch verkörpert durch Peter Sellers in Stanley­­ ­Kubricks Atomkriegs-Satire Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben (1964). 
 

Herrschaft des Schreckens

Oft genug sind es auch brillante Psychoanalytiker, die entweder dem Wahn anheim gefallen oder zu „Superverbrechern" geworden sind; allen voran Dr. Mabuse. Die Romanfigur des Luxemburger Autors Norbert Jacques (1920) inspirierte Fritz Lang zu einer der bekanntesten Produktionen der deutschen Stummfilm-Ära. Dank des vortrefflichen Spiels mit Licht und Schatten gilt der Zweiteiler Dr. Mabuse, der Spieler (1922) als das wohl anschaulichste Beispiel für filmischen Expressionismus. Doktor Mabuse führt ein kriminelles Doppelleben, ist ein Meister der Maske, verfügt über beängstigend wirkungsvolle hypnotische Fähigkeiten und ist Kopf eines Gangster-Syndikats, das seine Leute überall hat. In der Filmgeschichte gilt der Unhold seither als die Personifizierung des Bösen schlechthin. Aus psychologischer Sicht steht Mabuse für die Manifestierung frühkindlicher Allmachtsfantasien: Größenwahn als Angstabwehr. Kommt es zu einer Bedrohung dieser Selbstüberschätzung, werden in Anlehnung an Alfred Adlers Individualpsychologie destruktive und aggressive Impulse aktiviert. Die Paarung der Angstabwehr mit dem Destruktionstrieb kann eine Megalomanie auslösen. Charakteristisch hierfür ist die Lust an der Macht um ihrer selbst willen. Diese Theorie lässt sich auch vom Individuum auf die Gesellschaft übertragen: Im dritten Film, Das Testament des Dr. Mabuse (1933), will der mittlerweile in einer Nervenklinik einsitzende Verbrecher endgültig eine „Herrschaft des Schreckens" errichten. Lang und Koautorin Thea von Harbou haben, vereinfacht gesagt, kurzerhand das kollektive Unbewusste eines Volkes angezapft, das immer noch unter den Folgen der Weltkriegsniederlage litt.

Die Figur des Mabuse repräsentiert den Staatsterror“,

resümiert Psychotherapeutin Maria Gren in ihrem Beitrag über die Trilogie (Gren 2023, S. 28). Joseph Goebbels ließ den Film wohlweislich verbieten, die deutsche Erstaufführung fand erst 1951 statt. 1932 schufen die Amerikaner Jerry Siegel und Joe Shuster mit Superman gewissermaßen das positive Gegenstück zu Mabuse und trafen damit bis heute einen typischen Teenager-Nerv. Mehrere der erfolgreichsten Kinoproduktionen aller Zeiten sind Superheldenfilme, und selbstredend gehören verrückte Wissenschaftler zu ihren faszinierendsten Gegenspielern.

Ein überaus beliebtes Motiv nicht nur in der Romantik und der Stummfilmära ist die Erzählung vom Doppelgänger, bei dem es sich nicht zwingend um eine zweite Person handeln muss, wie Robert Louis Stevensons vielfach verfilmte Novelle Der seltsame Fall des ­Dr. Jekyll und Mr. Hyde (1886) verdeutlicht; es genügen, wie bei Goethes Faust, zwei Seelen „ach, in meiner Brust". Ein ganzes Subgenre des Science-Fiction-Films lebt von diesem Handlungskern. Hier handelt es sich allerdings wirklich um „Doubles": In Jack Finneys Roman Die Körperfresser kommen (1950) ersetzen Außerirdische die Bewohner einer kalifornischen Stadt durch gefühllose Doppelgänger. Erste von diversen Leinwandadaptionen war Die Dämonischen (auch bekannt als Die Invasion der Körperfresser, 1956).
 

Trailer Die Dämonischen (FilmPanorama, 15.04.2011)



Für Gren zeigt sich in diesem beliebten Stoff, der eine verblüffende Parallele zum Verschwörungsmythos vom „großen Austausch" erkennen lässt, „die Angst des Bürgertums vor dem Verlust der Identität". Sigmund Freud spreche vom „Doppelgänger als verdrängten Anteil im Ich" (ebd., S. 32f.), auf den sich laut Gren „verdrängte Wünsche und Entscheidungen" projizieren ließen (ebd.). So lässt sich auch die generelle Faszination des Bösen im Kino erklären, zur Perfektion gebracht beispielsweise in Das Schweigen der Lämmer (1991), Jonathan Demmes Verfilmung des 1988 erschienenen Bestsellers von Thomas Harris: Selten in der Filmgeschichte war die Sympathie für den Teufel so verlockend wie dank der „Oscar"-gekrönten Leistung des Briten Anthony Hopkins. 
 

Wahn oder Wirklichkeit?

Selbstverständlich ist Serienmörder Hannibal Lecter ein Psychiater, ebenso wie die Titelfigur des deutschen Klassikers Das Cabinet des Dr. Caligari (1920) von Robert Wiene. Der letzte Akt des Stummfilms offenbart jedoch, dass die Geschichte vom wahnsinnigen Anstaltsleiter, der einen somnambulen Patienten zu mehreren Morden anstiftet, eine Wahnvorstellung ist. Gleiches gilt für die Hauptfigur von Shutter Island (2010) mit Leonardo DiCaprio. Martin Scorsese macht sich in seinem Spiel mit Schein und Sein auf perfekte Weise zunutze, dass das Publikum Filmbilder stets als Wahrheit betrachtet. Das Medium Film, schreibt der Psychologe Alfred Uhl in seinem Aufsatz, ermögliche „eine Zweideutigkeit, die im realen Leben kaum möglich ist" (S. 264). Shutter Island eigne sich daher hervorragend, „um Menschen, die nicht mit psychiatrischen Krankheiten vertraut sind, das Wesen eines Wahns näherzubringen" (ebd.): Da die Handlung zunächst aus der Perspektive des Wahnkranken präsentiert wird, hat das Publikum keinen Grund, die Bedrohungen in Frage zu stellen. In den besten Filmen dieser Art, etwa in Roman Polanskis Horrorfilm Rosemaries Baby (1968), bleibt bis zum Schluss offen, ob die Hauptfigur Opfer einer Verschwörung oder seiner Wahnvorstellungen ist.

Tatsächlich ist die fachliche Expertise der Drehbuchautorinnen und -autoren aus therapeutischer Perspektive in vielen „Wahnsinnsfilmen" beeindruckend. Gren bescheinigt Langs Abschluss der Mabuse-Trilogie, er habe

das Element der Psychose – Halluzination, Wahnvorstellungen und Denkstörungen – sehr gut in seinen Film integriert und somit nicht nur den Zerfall der Identität, sondern auch der Gesellschaft“ 

dargestellt (ebd., S. 34). Ähnlich respektvoll äußert sich Psychotherapeutin Friederike Blümelhuber über Polanskis Thriller Ekel (1965). Hauptfigur ist eine attraktive introvertierte junge Frau (Catherine Deneuve), die ein extrem gestörtes Verhältnis zu Männern hat, nach und nach jeden Bezug zur Wirklichkeit verliert und schließlich zur Mörderin wird; der Film skizziert ein weitgehend realistisches Krankheitsbild der paranoiden Schizophrenie. Polanski war damals Anfang dreißig, er hatte keine psychologische Ausbildung und sich auch nicht dezidiert mit dem Störungsbild der Schizophrenie befasst. Blümelhuber attestiert dem Regisseur, er habe die Symptomatik perfekt getroffen.

Trailer Ekel (filmkunstgrafik, 26.03.2010)



Lebendig begraben

Gerade Psychosen eignen sich besonders gut für filmische Charakterstudien. Lange Zeit war die Furcht, in einer „Irrenanstalt" zu landen, ebenso verbreitet wie die Angst davor, lebendig begraben zu werden, was aus Sicht der Betroffenen womöglich aufs Gleiche hinauslief. Das erklärt, warum Psychiatriefilme fast immer Antipsychiatriegeschichten erzählen. Das berühmteste Werk in dieser Hinsicht ist Einer flog übers Kuckucksnest (1975, Regie: Miloš Forman). Die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Ken Kesey (1962) ist mit mehreren „Oscars" ausgezeichnet worden, darunter auch Jack Nicholson als bester Hauptdarsteller. Die besondere Tragik der Handlung resultiert aus dem Umstand, dass Randle Patrick McMurphy seine psychische Erkrankung nur vorgetäuscht hat, um dem Gefängnis zu entgehen. Als personifizierte Provokation bringt er den bis dahin reibungslosen Ablauf in der Klinik komplett durcheinander, und natürlich steht er als Nonkonformist, der tradierte Regeln in Frage stellt, für die Aufbruchstimmung jener Jahre. Zur Strafe wird ihm mittels einer Lobotomie der Stecker gezogen. Diese völlig überzogene Antwort des Systems lässt sich zum Beispiel mit den Reaktionen des Staates auf den hiesigen Protest gegen die Nutzung der Kernenergie vergleichen, als Polizisten nur wenige Jahre später hemmungslos auf friedliche Demonstrierende einprügelten.

Ausgerechnet der wohl bekannteste Psychothriller überhaupt, Psycho (1960), ist hingegen zumindest aus fachlicher Sicht kein Lehrstück, sondern verstärkt das Klischee vom gefährlichen Geisteskranken. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman von Robert Bloch (1959), gilt als Alfred Hitchcocks Meisterwerk und war seine erfolgreichste Regiearbeit. Die Duschszene mit der Ermordung der weiblichen Hauptfigur (Janet Leigh), begleitet von Bernhard Herrmanns legendärem Geigenstakkato, ist eine der berühmtesten Szenen der Kinogeschichte.

Shower Scene Psycho (Screen Themes, 28.04.2017)



Der von Anthony Perkins gespielte Mörder wurde zum Prototypen eines kompletten Subgenres des Horrorfilms: Fortan wurden die Untaten fiktiver Serienkiller bevorzugt mit ihrem Mutterkomplex erklärt. Martin Poltrum erwähnt in seinem Aufsatz über Psycho diverse Beispiele für Filmhandlungen, die allzu leichtfertig mit der Problematik der dissoziativen Identitätsstörung umgingen. Brian De Palma, der in seinen Anfangsjahren einen Ruf als Hitchcock-Epigone genoss, weil er sich diverser Stilmittel des Kollegen bediente, hatte sich das Krankheitsbild bereits für seinen ersten Achtungserfolg, Die Schwestern des Bösen (1973), zunutze gemacht. Seinen Thriller Dressed to Kill (1980) empfindet Poltrum jedoch als „eine der übelsten Darstellungen eines Psychoanalytikers im Film" (Poltrum 2023, S. 48). Hauptfigur ist ein Therapeut (Michael Caine) mit gespaltener Persönlichkeit: Wenn der Arzt von einer Patientin sexuell erregt wird, übernimmt eine eifersüchtige Frau namens Bobbi die Kontrolle und ermordet die Nebenbuhlerinnen.
 

Die Innenwelt des Wahnsinns

Um Kontrolle geht es auch in Stanley Kubricks Shining (1980), einem weiteren herausragenden Werk des Psychohorrors. Stephen Kings Roman (1977) erzählt die Geschichte des kleinen Danny, dessen Vater, ein Alkoholiker und Möchtegernschriftsteller, eine Stelle als Winterhausmeister des Overlook-Hotels in den Rocky Mountains antritt und zunehmend in den Wahn abdriftet. Das Buch steht in der Tradition jener Werke der Horrorliteratur, in denen das ultimative Böse nicht in Menschengestalt auftritt, sondern ein Gebäude „besetzt". Während Jack Torrance bei King als bloßes Werkzeug des teuflischen Hotels dient, inszeniert Kubrick „den Zusammenbruch eines psychisch labilen Mannes, der an sich selbst scheitert und seiner Familie die Schuld dafür gibt", wie Psychotherapeutin Martina Heichinger in ihrem Beitrag „Das Labyrinth des Wahnsinns" schreibt (Heichinger 2023, S. 57). Der Protagonist (Jack Nicholson) weise die Kriterien der paranoiden Schizophrenie auf und

wurde zur filmischen Inkarnation des wahnsinnig gewordenen Menschen, der jene vernichten will, die ihm am nächsten stehen“ (ebd.).

Im Gegensatz dazu schildere King „die Ambivalenz aus Gewalt und Liebe, er lässt uns an dem verzweifelten Versuch eines Menschen teilhaben, dem Wahn und seinen Einflüsterungen zu widerstehen" (ebd., S. 62). Auf diese Weise lasse sich der Schrecken „besser bewältigen, weil seine Ursache jenseits des Menschlichen liegt" (ebd.): Jack wird zwar zum Täter, ist aber vor allem Opfer. Bei Kubrick dagegen sei der Mann „eine unreife narzisstische Persönlichkeit" (ebd., S. 63). Der Regisseur habe „aus einer Horrorgeschichte über ein vom Bösen besessenes Hotel einen Film über das entfesselte Böse im Menschen selbst" gemacht (ebd.). Shining, zitiert die Autorin den früheren „Zeit"-Kritiker Hans C. Blumenberg, sei „eine Reise in die Innenwelt des Wahnsinns" (ebd.). 

Anders als der Roman spekuliert der Film also mit Erfolg auf jene menschliche Urangst, in seinem Inneren könne etwas Unbekanntes lauern, das irgendwann ausbricht, ohne dass sich dies verhindern ließe; die gesamte Alien-Saga (ab 1979) basiert auf diesem Motiv. Aus Sicht jener Berufe, die sich mit den Erkrankrungen der Seele beschäftigten und sich um Aufklärung der Bevölkerung gerade für schwer zugängliche Krankheitsbilder wie das der Schizophrenie bemühten, resümiert Heichinger, habe Kubrick „mit seiner Darstellung der psychotischen Dekompensation des Jack Torrance diesem Anliegen möglicherweise einen Bärendienst erwiesen" (ebd., S. 65). King selbst hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er den Film für misslungen hält. 
 

Quellen:

Poltrum, M., Rieken, B., Heuner, U.: Wahnsinnsfilme. Psychose, Paranoia und Schizophrenie in Film und Serie. Berlin 2023: Springer

Darin:
Gren, Maria: Dr. Mabuse als Sinnbild des Schreckens, S. 23-36
Poltrum, Martin: Mutter, bitte sei still, sei still, sei endlich still, S. 37-53
Heichinger, Martina: Das Labyrinth des Wahnsinns, S. 55-66
Uhl, Alfred: Wahn und Wirklichkeit, S. 257-269